Interview mit Roberto Ivan Aguilar Gómez über das Referendum in Bolivien

»Absage an eine gewaltsame Lösung«

Am Sonntag hat sich die Bevölkerung ­Boliviens in einem Referendum mit 62 Prozent der Stimmen deutlich hinter die ­Regierung von Evo Morales gestellt. Doch auch die oppositionellen Präfekten der nach Autonomie strebenden Provinzen wurden bestätigt. Roberto Ivan Aguilar Gó­mez ist stellvertretender Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Bo­liviens. Er ist 50 Jahre alt, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Mayor de San Andrés von La Paz und war von 2004 bis 2006 auch deren Direktor.

Bolivien hat gewählt. Gibt es aus Ihrer Sicht ­einen Sieger?

Der eigentliche Sieger ist die bolivianische Be­völ­kerung, denn die Bolivianer haben ihre demokratische Reife bewiesen und gleichzeitig allen Formen einer gewaltsamen Lösung der politischen Krise eine Absage erteilt. Die hohe Wahlbeteiligung von 85 Prozent ist nicht nur ein Zeichen demokratischer Reife, sondern auch ein Sig­nal, dass die Bolivianer die Krise im Konsens und Dialog lösen wollen. Zudem ist es bemerkens­wert, dass der Prozess des Wandels, den Präsident Evo Morales eingeleitet hat, bestätigt wurde. Der Präsident hat deutlich mehr Stimmen errungen als zuvor.

Allerdings ist es alles andere als eine strahlender Sieg, denn schließlich wurden auch die Präfekten der Provinzen der Media Luna, des Halbmondes, bestätigt.

Ja, das stimmt, und der Sieg der Präfekten in den Departementos des Tieflands ist ein wichtiges Sig­nal dafür, dass wir uns zusammensetzen müs­sen, um eine Antwort auf die Frage der Autonomie zu finden. Allerdings ist es auch wichtig festzuhalten, dass Bolivien nicht von einer Polarisierung zwischen Hoch- und Tiefland, sondern eher von Stadt und Land geprägt ist. Evo Morales hat nämlich in allen ländlichen Regionen, auch in den rebellischen Departementos von Santa Cruz, Beni und Tarija dazu gewonnen. Die Trennlinie verläuft also anders als gemeinhin dargestellt.

Mit diesem Referendum hat sich allerdings am Unentschieden zwischen Regierung und Opposition nichts Entscheidendes verändert – oder hat die Polarisierung sogar zugenommen?

Auf den ersten Blick stimmt es, dass sich an den katastrophalen Unentschieden und damit auch am gegenseitigen Blockieren nichts Wesentliches geändert hat. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass der Präsident zur Versöhnung und zum Dialog aufgerufen hat – im Gegensatz zum Präfekten von Santa Cruz, Ruben Costas, der sich ­eines aggressiven und triumphierenden Stils bediente. Das ist ein negatives Signal in einem Moment, in dem die Bevölkerung für den Dialog stimmt. Ich denke allerdings, dass sich das Szenarium etwas geändert hat, denn fest steht, dass die Politik der letzten Wochen der Opposition nicht mehr Stimmen gebracht hat, und in den Erklärungen der anderen Präfekten des Media Luna schimmert das auch durch. Sie haben sich eher zugunsten des Dialogs geäußert.

Gleichwohl fehlt es an versöhnlichen Tönen von der Opposition, und die wird doch unstrittig durch die Leute in Santa Cruz angeführt.

Unstrittig ist, dass Santa Cruz den Autonomieprozess nicht allein vorantreiben kann. Dazu ist eine Verfassungsreform nötig, und deshalb wird man früher oder später in den Prozess des Dialogs eintreten müssen. Die radikalen Töne aus Santa Cruz sind nur eine Momentaufnahme, ich denke, der Ton wird sich in den nächsten Tagen ändern. Die größte Gefahr aus meiner Sicht ist, dass die radikalen Kräfte in Santa Cruz nach der Unabhängigkeit schreien. Eine solche Entwick­lung würde das Risiko steigender Gewalt mit sich bringen. Dagegen hat sich der Präsident in seiner Rede in La Paz gewandt, in der er dazu aufrief, die neue Verfassung und die Autonomiefrage zu diskutieren. Er hat zum sofortigen Dialog aufgerufen. Wir hoffen, dass ein erstes Treffen schnell folgen wird.

Wie könnte der Streit um die Verfassung, die in Santa Cruz als »rassistisch« bezeichnet wurde, beigelegt werden?

Die Opposition hat in den vergangenen Monaten erwogen, eine neue verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Das würde allerdings rund 18 Monate dauern, und die Zeit haben wir nicht, denn die Situation ist angespannt. Darüber hinaus ist es kaum einschätzbar, wie lange es dann bis zu einer neuen Verfassung dauern würde. Die Alternative ist – und das ist meine persönliche Meinung –, den Verfassungsentwurf auf den Verhandlungstisch zu legen. Das ist im dem Mas, der Bewegung zum Sozialismus von Evo Mo­rales, sehr umstritten.
Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass rund 85 Prozent der Verfassungstexte durch die Kommissionen gegangen sind und dort quasi ver­abschiedet wurden. Strittig sind letztlich nur 15, maximal 20 Prozent des Entwurfs, der zum Schluss zustande kam. Das ist aus meiner Sicht die eigentliche Verhandlungsmasse, und es gibt Leute in der Opposition, die das genauso sehen. Von diesen 15 bis 20 Prozent sind zehn Prozent ohne große Probleme abzustimmen, die restlichen fünf bis zehn Prozent sind hingegen sehr um­stritten. Da sind zuerst einmal das Thema der Autonomie und natürlich die Landfrage zu nennen.

Welchen Stellenwert haben denn die vier Autonomiereferenden vom Mai und Juni gehabt?

Das erste war das weitaus wichtigste, denn bevor in Santa Cruz am 4. Mai abgestimmt wurde, war man davon ausgegangen, dass die Abstimmung zum Sprengstoff für einen Bürgerkrieg wer­den würde. Aber das Referendum wurde abgehalten, die Leute stimmten für die Autonomie, und es passierte nichts, es kam nicht zur Eska­lation. Das ist positiv, denn das Referendum als solches hat nun einmal nach der derzeitigen Rechtslage keine Relevanz, denn es ist nicht von der Verfassung gedeckt. Aus rechtlicher Perspek­tive haben diese Referenden also keinen Wert, sie könnten jedoch Aufnahme in der neuen Verfassung finden. Umso wichtiger ist es deshalb für beide Seiten, zum Dialog zu kommen.

Derzeit scheint es für den Präsidenten kaum möglich zu sein, überhaupt in die Departemen­tos der Media Luna zu reisen … .

Das Bild stimmt so nicht, aber es stimmt, dass der Opposition daran gelegen ist, es so aussehen zu lassen. Der Präsident hat es vermeiden wollen, auf solche Provokationen zu reagieren, um die Konflikte nicht weiter zu schüren. Das wird sich aber wieder ändern, denn schließlich gilt es, die territoriale Integrität zu schützen und die Gesetze einzuhalten.

Was hat das Referendum der Regierung und dem Präsidenten gebracht?

Dieses Referendum war wichtig und elementar für die politische Neupositionierung Boliviens. Das positive Abstimmungsergebnis hat Evo Morales einen Legitimitätsschub verschafft, denn daran, dass seine Regierung legal im Amt ist, hat schließlich niemand gezweifelt. Aber diese Abstimmung hat nicht die politische Krise Boliviens gelöst.

Wo sehen Sie die gravierendsten Probleme ­Ihres Landes?

Wir müssen die Armut bekämpfen und dem Ri­siko der Auflösung unseres Landes begegnen sowie die Neugründung eines neuen Staates verhindern. Das sind die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen.

Welches sind die zentralen Hindernisse für den Dialog?

Es sind die Maximalpositionen auf beiden Seiten. Im Mas gibt es Gruppen, die dagegen votieren nachzugeben, weil sie fürchten, dass die inhalt­liche Klammer, die Essenz der Revolution, verloren gehen könnte. Gleichwohl begren­zen derar­tige Positionen die Möglichkeiten, flexibel in einen Verhandlungsprozess einzutreten. Bei der Opposition sieht es nicht anders aus, denn die führenden Köpfe in Santa Cruz, von Präfekt Rubén Costas bis zum Vorsitzenden der zivilen Komitees, Branko Marinkovic, plädieren für die Separation. Ihnen schwebt ein föderales Modell vor, bei dem zwei verschiedene Bolivien unter einem Dach entstehen.

Und Sie befürchten, das wäre ein armes und ein reiches Bolivien?

Exakt, und dieses Ziel hat viel zur Polarisierung in Bolivien beigetragen. Ich persönlich hoffe, dass sich jetzt nach dem Referendum die Gemüter abkühlen und wir endlich in einen konstruktiven Verhandlungsprozess eintreten.