Artenschutz im Dschungel der Ökonomie

Primaten im Dschungel der Ökonomie

Nur Menschen interessieren sich für Arten und Artenschutz. Die Natur kümmert das wenig, und erhalten wird sie von den Artenschützern auch nicht.

Der Begründer der modernen Evolutionstheorie, Charles Darwin, hielt nicht viel vom Artbegriff. Dem Theoretiker der Veränderbarkeit der Arten waren Artnamen nichts als Namen. Dass die verschwenderische Vielfalt der Arten, Unterarten, Varietäten und Individuen sich dem Raster klas­sifikatorischer Systeme entzog, war Darwins zentrales Argument für die Evolution in der Entstehung der Arten. Wobei Darwin sich weniger für die Entstehung der Arten als Rekonstruktion eines historischen Prozesses interessierte, was man auch am Fehlen von Stammbäumen in seinem zu Lebzeiten veröffentlichten Werk ablesen kann. Sein Interesse galt vornehmlich jenen Dynamiken des Lebendigen, die andauernd, auch jetzt im Moment, den Wandel der Natur bedingen.
Mit anderen Worten: Wenn wir die Artenvielfalt nominell zu erfassen versuchen und uns daran erfreuen, ist das schön und gut, der Natur aber herzlich egal.
Die Natur arbeitet stetig und ohne Apriori weiter an der Auflösung dessen, was die Namen bezeichnen sollen, seit Gott Adam ermächtigte, den Tieren Namen zu geben. Und ob diese Namen nun biblischen Ursprungs, mythischer Natur oder rational wissenschaftlich entworfen sind, wie in der von Carl von Linné erfundenen binomischen Benennung, spielt für diesen Akt überhaupt keine Rolle. Wie konsequent Darwin die Dynamiken des Lebendigen jeder Benennung und damit jedem Plan entzog, kann man bis heute besser an den Reaktionen christlicher und anderer dem göttlichen Weltplan verpflichteter Fundamentalisten auf seine Theorie studieren als bei vielen Biologen und Naturschützern.

Das von Darwin eingesetzte Zusammenspiel von Zufall und natürlicher Selektion, die in die zufälligen Hervorbringungen der Natur eine Richtung schlägt, die bei Androhung des Untergangs zur Anpassung der Lebewesen an die Umweltbedingungen zwingt, lässt keine Annahme eines Schöp­fers mehr zu, der das Leben mehr oder weniger intelligent gestaltet oder geplant hätte. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich aus der scheinbar so richtenden Kraft der natürlichen Selektion kein Mechanismus, der zu allgemeinem Fortschritt führt, ableiten lässt. Als erster hat das der britische Biologe und Darwinschüler Ray E. Lankaster (1847 bis 1929) erkannt. Lankaster zeigte, dass die natürliche Selektion einzig zu lokalen Anpassungen führt, die häufig ihre unmittelbare Verbesserung durch anatomische Vereinfachung und den Verlust von Organen erkaufen, wie es bei vielen Parasiten der Fall ist.
Damit stand Lankaster auch unter den meisten Biologen seiner Zeit allein da. In der Regel glaubten auch die Darwinisten an den Fortschritt in der Natur, gleich ob er nun durch den direkten Kampf ums Dasein in der Schlacht aller gegen alle oder im Kampf höherwertiger Rassen gegen nicht so wertvolle andere Rassen errungen wurde. Lankaster selbst, der einer der »meistgefeierten, spießigsten, konventionellsten und gesellschaftlich angesehensten britischen Wissenschaftler wurde«, wie der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould in einem Por­trät schrieb, blieb mit seiner richtigen Deutung der Darwinschen Lehre allein, auch weil er sich an den großen gesellschaftlichen Debatten nicht beteiligte.
Doch er gehörte am 17. März 1883 auf dem Londoner Highgate-Friedhof zu den wenigen Trauergästen bei der Bestattung von Karl Marx. So unterschiedlich die Quellen auch die tatsächliche Anzahl der Trauernden angeben, Lankaster war bestimmt der einzige am Grab von Marx, der weder Kommunist noch Sozialist war. Erzählt wird die Anekdote hier aber nicht, um zu untersuchen, warum Marx die letzten Jahre seines Lebens eng mit Lankaster befreundet war. Sie wird hier erzählt, um auf ein Missverständnis hinzuweisen, das bis heute die meisten Diskussionen um die Artenvielfalt und ihren Erhalt mehr oder weniger deutlich bestimmt. Es ist das Missverständnis, dass sich die Artenvielfalt mit den Kräften, die das menschliche Zusammenleben regeln, erhalten, steuern oder sonstwie po­sitiv beeinflussen, also planbar machen lasse.
Marx glaubte nämlich nicht an den Erhalt der Natur mit den Mitteln der Kultur und hat es im zweiten Band des »Kapital« am Beispiel der Wälder auch geschrieben. »Die Entwicklung der Kultur und Industrie überhaupt hat sich von jeher so tätig in der Zerstörung der Waldungen gezeigt, dass dagegen alles, was sie umgekehrt zu deren Erhaltung und Produktion getan hat, eine vollständig verschwindende Größe ist.« Eine ­Diagnose, die man heute erweitern muss, wenn man in Betracht zieht, dass es zu Marx’ Zeiten eine nennenswerte Naturschutzbewegung nur in den angelsächsischen Ländern gab. Trotz der nun weltweit agierenden Naturschutzorganisati­onen, die seit 20 Jahren den Erhalt der tropischen Regenwälder mit mehr als nur peripherer Unterstützung von Medien, Wissenschaft und Politik fordern, geht die Zerstörung der tropischen Waldungen unvermindert weiter.

Die Abholzung der Tropenwälder schreite ungebremst voran, neue Satellitenbilder zeigten, dass noch immer genauso viel Regenwald durch Flammen und Sägen zerstört werde wie vor 20 Jahren, hieß es in einer Meldung, kurz nachdem die UN-Artenschutzkonferenz in Bonn im Mai dieses Jahres zu Ende gegangen war. Dass die Meldung dann nur noch klein gedruckt in den Medien erschien, stattdessen vor, während und zum Abschluss der Konferenz der Spiegel wie alle anderen größeren Zeitungen auf der ­Titelseite vom Arten- und Naturschutz berichtet hatte, fiel nicht mehr wirklich ins Gewicht.
Man ist mit der ungehindert fortschreitenden Zerstörung der Regenwälder mitten in allen Problemen, die sich um den Artenvielfaltsschutz ranken. Artenvielfalt oder Biodiversität, wie der in den achtziger Jahren eingeführte wesentlich genauere Begriff für die überbordenden Mannigfaltigkeiten heißt, wie sie nur die tropischen Regenwälder und einige Regionen in den tropischen Meeren hervorbringen, ist für die so genannten entwickelten Länder unwirtliches Terrain. Das Problem fängt damit an, dass derzeit niemand genau sagen kann, wie viele Arten es in diesen Wäldern überhaupt gibt, und daher natürlich auch nicht, wie viele Arten dort durch die Abholzung aussterben. Überdies sind diese Wälder für den größten Teil der Menschheit schlicht unbewohnbar. Der Artenvielfaltsschutz bleibt also für seine größten Propagandisten, Wissenschaftler und Naturschützer in den entwickelten Ländern, so abstrakt wie das Geld, das sie für den Schutz fordern.
Auch deshalb waren die Anfang des Jahres viel diskutierten Inwertsetzungen der tropischen Lebensbereiche durch den indischen Ökonomen Pavan Sukhdev und Sir Nicholas Stern, den ehemaligen Vizepräsidenten der Weltbank, zwar smart, aber haltlos. Tropische Regenwälder gehören nicht zu jenen natürlichen Reichtums­zonen, wie es etwa die russischen oder kanadischen Weizenanbaugebiete sind, wo Getreide auf drei Meter tiefer fruchtbarer Erde gedeiht. Sie lassen sich auch nicht wie die europäischen oder nordamerikanischen Wälder kultivieren und auf die Dauer in Wirtschaftswald überführen, den man dann mehr oder weniger nachhaltig bewirtschaftet.
Weil die tropischen Wälder auf dünnen nährstoffarmen Böden wachsen, kann man Geld nur mit ihnen machen, indem man sie abholzt, für kurze Zeit dort Soja- oder sonstige Plantagen anlegt und weiterzieht zur nächsten Rodung, wenn der Boden aufgezehrt und verbraucht ist. Womit dann allerdings auch der Regenwald verschwunden ist und nicht mehr wiederkommt. Nach allem, was man bisher weiß, lassen sich tropische Wälder eben nicht wie die europäischen Laub- und Nadelwälder wieder aufforsten. Sie verschwinden einfach, und mit ihnen dann auch jene Lebewesen, die man unter der Rubrik Artenvielfalt führt. All die Arten, die ihre lokale Anpassung so durch Spezialisierung erkauft haben, dass sie nur im Dschungel leben können. Wie die über 300 Affenarten, die vom Aussterben bedroht sind, wie in der vergangenen Woche Wissenschaftler auf dem internationalen Primatologenkongress in Edinburgh bekannt gaben.
Und natürlich ist es genauso wenig ein Zufall, dass Primatologenkongresse, seit es sie gibt, von Wissenschaftlern aus den entwickelten westlichen Ländern dominiert werden, wie es kein Zufall ist, dass sie den bedrohten Tieren unablässig einen Wert zuschreiben, und sei es nur einen ideellen. Anstatt sich vielleicht einmal ganz kurz der Überlegung hinzugeben, dass sie, außer für die wenigen Menschen, die in den Urwäldern leben und sie essen, gar keinen Wert haben, sondern schlicht zu etwas gehören, das nach anderen Gesetzen lebt als der unter wissenschaftlichen Effizienzquotienten agierende westliche Wissenschaftler im afrikanischen Regenwald.

Marx hat etwas davon geahnt, als er schrieb, das sich die auf Gemeineigentum gegründeten Gesellschaften im Unterschied zur kapitalistischen Produktionsweise nur überlegen müssen, wie viel Raum sie dem Wald lassen und wie viel Raum sie durch Ackerbau, Viehzucht und Städtegründungen dem Wald nehmen. So klar hat selten jemand Wald und Kultur getrennt und damit auf das Dilemma jedes Naturschutzes verwiesen: Retten kann man den Wald nur, wenn man ihn lässt, wie er ist.
Schon wenn man ihn zum Naturschutzgebiet erklärt, kulturalisiert man ihn und nimmt ihm seine prinzipiell von der Kultur unterschiedene Qualität und treibt ihn in die Vernichtung. Alle Zahlen der roten Listen der vom Aussterben bedrohten Tierarten sagen nichts anderes. Marx wusste von seinem Freund Lankaster, dass aus Darwins Theorie und der Natur sich kein Ausblick auf Fortschritt und Freiheit für die Menschheit gewinnen lassen. Friedrich Engels setzte noch auf Marx’ Beerdigung dessen Entdeckungen mit denen von Darwin in Analogie. Doch der späte Marx hat sich nicht mehr mit Darwin beschäftigt. Die Waldungen wollte er Waldungen sein lassen und die Städte Städte, zu regeln sei dann nur noch der Stoffwechsel mit der Natur, nicht unbedingt ihre Beherrschung.