Die »Germanische Neue Medizin« und ihre Anhänger

Krebs als Chance

Man könnte Ryke Geerd Hamers »Germanische Neue Medizin« für eine obskure Randerscheinung halten. Doch auch etwa 30 Jahre nach Begründung der Pseudomedizin finden sich noch genügend Anhän­ger, die sich haarsträubenden Behandlungs­methoden unterziehen und dabei ihr Leben riskieren.

Der Studienkreisleiter Hendrik März thront selbst­gewiss am Kopfende des Tisches. Vor allem ­ältere Anhänger haben sich an diesem Abend im August im Hinterzimmer der Berliner Gaststätte »Stamm­tisch« versammelt, um seinen Ausführungen zu folgen. Wenn man die »Germanische Neue Medizin« zulasse, verändere sich auch die gesellschaftspolitische Sicht, befindet März und erntet zustimmendes Raunen. Schließlich wird er deutlicher und glaubt dabei nach eigenem Bekunden, »Ross und Reiter beim Namen« zu nennen: Schuld an der Misere sind für ihn »die Juden«.
Die nötigen Massen für die mehrfach beschwo­rene »Korrektur der Gesellschaft« sind an diesem Abend nicht zusammengekommen, insgesamt sind es nicht einmal 15 Personen. Ob es sich um Patienten handelt? Hendrik März bietet ganz in der Nähe der Gaststätte seine Dienste als »Heilpraktiker« an. Sein Stellvertreter erwähnt beiläufig einen Besuch bei Ryke Geerd Hamer in Norwegen. Daraufhin löchern ihn die Anwesen­den mit Fragen zum Wohlbefinden ihres obersten Gurus, der an diesem Abend häufig nur ehrfurchtsvoll als »der Doktor« bezeichnet wird.

Hamer begann bereits Anfang der achtziger Jahre, die »Germanische Neue Medizin« zu entwickeln, eine Mischung aus medizinischer Außenseiterlehre und Profit abwerfender Organisation. Obwohl er von seinen Anhängern noch immer als Lichtgestalt verehrt wird, leitet längst ein anderer die Geschäfte: Seine vormalige rechte Hand Helmut Pilhar vertreibt die Bücher und Filme und organisiert die Studienkreise, Vorträge und Seminare. Hamer hält sich derweil in Norwegen auf, wo er sich dem Zugriff der Cottbusser Staats­anwaltschaft zu entziehen versucht, die wegen Volksverhetzung gegen ihn ermittelt.
Die Grundlage seiner Ideologie entwickelte Hamer 1979 nach einer Hodenkrebserkankung. Kurz zuvor war sein Sohn Dirk erschossen worden. Hamer sah eine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen und verallgemeinerte sie zur pseudo­wissenschaftlichen »Eisernen Regel des Krebs«, die als erstes von insgesamt fünf »Naturgesetzen« später die Grundlage der »Germanischen Neuen Medizin« bildete.
In Hamers Gedankenwelt gibt es keine Krankheiten, sondern nur »Sinnvolle Biologische Sonder­programme (SBS)«, die durch innere Konflikte ausgelöst werden. Nach einem schweren »Konflikt­erlebnisschock«, dem »Dirk-Hamer-Syndrom (DHS)«, soll der Patient von Fieber, Schmerzen oder Müdigkeit ruhig gestellt werden. Die Symptome sollen so das biologisch »richtige« Verhalten erzwingen. Die »Therapie« besteht aus einer offenen Aussprache mit dem Partner oder dem Chef und dem anschließenden Warten auf die »Ausheilung«.
»Der Doktor« ist der festen Überzeugung, mit Hilfe der Computertomographie (CT) die Ursache des vermeintlichen inneren Konfliktes eingrenzen zu können. Nach dem »Konflikterlebnisschock« bildeten sich an einer für den jeweiligen Konflikt charakteristischen Stelle »konzentrische Kreise, die wie Schießscheiben aussehen«. In einer Mitteilung an die Ärztekammern vom Juli schreibt die Deutsche Röntgengesellschaft dazu: »Die auf der Homepage der Hamer-Unterstützer zugäng­lichen Abbildungen sog. ›Hamerscher Herde‹ zeigen … eindeutig nur Kreisartefakte, wie sie bei CT-Geräten älterer Bauart auftreten können, wenn diese technisch nicht einwandfrei arbeiten.« Hamer hat seine Behauptungen bisher dennoch nicht zurückgenommen.

Aribert Deckers verfolgt das Treiben der »Germa­ni­schen Neuen Medizin« bereits seit vielen Jahren. Der Kritiker betreibt mehrere Websites zu dem Thema und hat gemeinsam mit einer losen Gruppe von Mitstreitern eine »Totenliste« erstellt, in der die mutmaßlichen Opfer der falschen Behandlungsmethoden der »Germanischen Neuen Medizin« geführt werden. »Wir wissen von über 150 Todesfällen«, sagt er im Gespräch mit der Jungle World. Neben den dokumentierten Fällen geht Deckers aber von einer großen Dunkelziffer aus: »Ich fürchte, dass es drei- oder viermal so viele Tote sind.« Einige davon hätten mit einer schulmedizinischen Behandlung wohl gerettet werden können.
Aber auch Patienten, die von ihren Ärzten bereits aufgegeben worden waren, mussten un­nötige Schmerzen erleiden. »Hamer macht den Leuten Angst«, meint Deckers, »und bringt sie dazu, keine Schmerzmittel zu nehmen, indem er behauptet, sie würden dadurch auf der Stelle sterben.«
Die eigentlichen Übel sind Hamer zufolge die Schulmedizin und »die Juden«. Hamer glaubt, dass auf Weisung eines vermeintlichen »Welt­ober­rab­biners« alle Juden erfolgreich nach der Methode der »Germanischen Neuen Medizin« behan­delt würden, während, so schrieb er 2001 in einer öffentlichen Erklärung, »die Rabbiner diese segens­reiche Entdeckung nunmehr seit 20 Jahren für Nicht-Juden blockieren und damit das grau­sigste und schlimmste Verbrechen unserer Weltgeschichte inszeniert haben«. Das Verbrechen be­stehe aus »zwei Milliarden an Chemo und Morphium zu Tode gebrachten Patienten!«. Kritische Berichte und juristische Verfahren, die ihm Haftstrafen in Deutschland und Frankreich einbrachten, gehören Hamer zufolge zu einer »beispiel­losen Erkenntnisunterdrückungskampagne«.
Das bringt Hamer und seinen Mitstreitern vor allem Verbündete aus der neonazistischen Rechten ein. So warben in der Vergangenheit mehrere NPD-Landesverbände für Veranstaltungen der »Ger­manischen Neuen Medizin«. Besonders ausgeprägt ist die Sympathie aber in der »Reichsbür­ger«-Bewegung, die das Deutsche Reich zwar für derzeit nicht handlungsfähig, völkerrechtlich aber noch existent hält. Gleich mehrere »vorläufi­ge Reichspräsidenten« werden deshalb von konkurrierenden Gruppen innerhalb der Bewegung aufgestellt. Als einer von ihnen Hamer 2006 in ei­nem Interview anbot, ebenfalls für einen solchen Posten zu kandidieren, antwortete dieser: »Ja, ich würde annehmen (…) mit Freuden sogar.«

Viele »Studienkreise« der »Germanischen Neuen Medizin« stellten in den vergangenen Jahren ihre Arbeit ein, zurzeit sind es noch knapp 50 in Deutschland, Österreich, Italien und Polen. Die Lehren von Ryke Geerd Hamer sind aber dennoch weit verbreitet. Einige seiner vormaligen Anhänger haben sich mit ihm zerstritten und ihre eigenen Vereine gegründet. Andere lösten die pseudomedizinischen Vorstellungen vom Radauantisemitismus und vermengten sie mit anderen esoterischen Fragmenten, weil sich so deutlich mehr Profit machen lässt.
Dazu gehören neben den so genannten Synergie-Therapeuten und diversen kleineren Gruppie­rungen vor allem die so genannten Metamedi­ziner. Ihr Marketing gestaltet sich äußerst profes­sionell: Für eine Gala in Kalifornien warben sie mit der Unterstützung etlicher Berühmtheiten wie den Hollywood-Schauspielern Tommy Lee Jones oder Ben Stiller.
Erst im April veranstaltete die International Meta-Medicine Association in München einen zweitägigen »Fachkongress für Ärzte, Heilpraktiker und Therapeuten«. Während die Teilnahme­gebühren mit 175 Euro pro Person noch vergleichs­weise moderat ausfielen, verlangt die Organisation für ihre »Diplom-Ausbildung« für Ärzte und Heilpraktiker 1 120 Euro.
Aribert Deckers hält die »Metamedizin« für deut­lich gefährlicher als ihren Vorläufer. »Die ­erscheinen im Tarnmantel des Arztes«, sagte er, »und ein Patient ist natürlich völlig nichts­ahnend. Der kommt nie darauf, dass die vermeintliche ärztliche Heilkunst, die ihm da gerade vor­exer­ziert wird, in Wahrheit Hamerscher Schwachsinn ist.«