Auszug aus seinem Roman »Deadline«

Hübsches Ambiente

Es treten auf: die dicke Übersetzerin und ihre Mutter, einst Arbeiterin in der Modelleisenbahnfabrik. Des Weiteren eine Schwester, zwei Neffen, ein Schwager, schwarz-weiß und bunt gekleidete Menschen. Ort: die Schwäbische Alb, ein Kinderzimmer, verschiedene Dorf­randsiedlungen, eine steil ansteigende Straße. Oder abfallende, je nachdem. Ein Auszug aus dem Roman »Deadline«.
Von

Die Terrasse war ganz mit Gestein aus der Gegend belegt: Sandstein und Muschelkalk, Travertin, an den Stufen hinunter zum Rasen auch Schiefer. Der Sand- und der Kalkstein hatten die Plastikstopfen unter den Stahlrohrbeinen der Stühle (Sitzfläche und Lehne: Drahtgeflecht, kunststoff­ummantelt) abgewetzt | weggewetzt; jetzt lagen die scharfen Enden der Rohre blank und zerschabten | annullierten die Namen und Ziffern im Sand und im Kalk | machten sie ungeschehen. Am Rand der Terrasse war ein Kissenstein (Fruchtschiefer) eingefügt, den der Vater noch gemacht, aber nicht mehr verkauft hatte. Die Hinterbliebenen hatten auf Nachbesserung gedrungen, der Vater hatte sich geweigert. Name, ein Stern, vier Ziffern. Noch ein Stern, noch vier Ziffern.

Drei Biertische standen nebeneinander | parallel | schnitten sich im Unendlichen; sechs Bänke. Blaue Tischdecken (Seidenpapier, eins, zwei, drei, vier Lagen), darauf Kerzenhalter aus Glas, gelbe Kerzen, drei auf jedem Tisch. Eine am oberen Ende, eine in der Mitte, eine am unteren Ende. Zwischen den Kerzen lagen Sonnenblumen mit bastumwickelten Stängeln.
Auf jedem Tisch ein Kuchenrondell. In der Mitte jedes Kuchenrondells stießen in spitzen Winkeln Apfel (gedeckt), Schwarzwälder Kirsch, Käse-, Karotten- und Zucchinikuchen aufeinander, je zweiundsiebzig Grad. Drei Rondelle mit je fünf Einfünftelkreisen, das hieß: Vierzig Prozent des Kuchens standen noch in der Küche.
Die Schwester hatte sich etwas ausgedacht: Wer schon vierzig war, für den galt Dresscode schwarz-weiß. Jünger: bunt.
An den Biertischen saßen schwarz-weiß oder bunt gekleidete Frauen, die mit der Schwester zur Schule gegangen waren. Und Frauen, die Kinder hatten, die mit Yannick (dem Kleinen) zur Schule gingen. Und Frauen, die sowohl mit der Schwester zur Schule gegangen waren als auch Kinder hatten, die mit Yannick (dem Kleinen) zur Schule gingen.
Ein paar Männer waren auch da; das waren die Männer der Frauen und | oder die Männer der Mütter der Kinder. Kinder rannten durch den Garten und wurden von ihren Müttern ermahnt.
Zwei Spätgebärende | Spätgeborenhabende trugen ausgebeulte Tragetücher unter dem Kinn.
Eine Frau sagte: »Wie die Pinguine.«
Ein Mann: »Wie Papageien.«

Der Schwager (Pinguin) steckte Windschutzbleche (Stahlblech) an einen Grill. Er kippte Holzkohle in die Grillwanne (feueraluminiert) und zündete einen weißen Würfel an (Paraffin). Er fächerte | drückte mit einem Kehrblech Luft in die Kohle, Rauch flatterte heraus.
Der Schwager sagte: »Jetzt buchstabier mal, Ntschotschi.« Er zwinkerte.
Ich: »Ntschotschi?«
»Wegen den Rauchzeichen, oder.«
»Rauchzeichen?«
»Vom Grill her. Die ich gerade gemacht hab’!«
Er hängte den Rost in die Windschutzblechkerben. Er sagte: »Ich muss noch mal an den Rechner.«

Mutter saß zwischen zwei grauen Gummireifen (Slicks) am Tisch. Die Schwester (»noch Papagei!«) drückte mit einem grellgrünen Plastiklöffel etwas vom Käsekuchen ab, hielt der Mutter den Löffel hin. Mutter öffnete den Mundwinkel, der Löffel glitt hinein. Die Schwester zog den Löffel heraus, der war jetzt verschmiert. Sie drück­te wieder einen Bissen vom Kuchen. Die Mutter malmte.
Yannick (der Kleine) fragte seine Großmutter: »Schmeckt gut, gell?«
Die Schwester sagte, sie, die Großmutter, könne ihn nicht verstehen.
Er: »Aber sie guckt doch her.«
Die Schwester sagte, sie, die Großmutter, könne den Sinn nicht verstehen.
Die Mutter warf den Kopf nach hinten, schnapp­te nach Luft. Kopf des Brustschwimmers, bevor er die Arme nach vorn schiebt. Sie formulierte: »Gell.« Oder »rell« oder »bell« oder »hell«.

Eine Frau, deren Sohn mit Yannick zur Schule ging, sagte, dass es auf dem Gymnasium viel weniger Probleme geben werde mit Ausländern, oder sie sagte: mit Türken, oder sie sagte: mit türkischstämmigen Kindern, oder sie sagte: mit Kindern mit einem nicht-deutschen Hintergrund, und das hoffe sie auch.
Eine andere (Volljuristin, Nurhausfrau, Pinguin), deren Sohn mit Yannick zur Schule ging, fragte, wie das denn in Amerika klappe, die Eingliederung der ganzen Ausländer, das stelle sie sich ganz schön schwierig vor.
Ich sagte: »Es gibt nicht so viele Ausländer.«
Die Volljuristin kicherte, die andern Frauen runzelten die Stirnen.
Eine Frau, die mit der Schwester zur Schule gegangen war, sagte, dass Kochflächen aus Glaskeramik sehr einfach zu reinigen seien, mit einem feuchten Tuch oder einem Papier von der Küchenrolle. Auf keinen Fall Backofenspray oder so etwas oder Fleckentferner.
Eine sagte, der amerikanische Präsident sei ja bald wie Hitler. Yannick (der Kleine) sagte, der Präsident sei schlimmer als Hitler, denn Hitler habe immerhin das Rote Kreuz zu den Gefangenen gelassen (Papagei). Mutter schaute aus dem Rollstuhl auf und in die Ferne, als denke sie über das, was ihr Enkelsohn gesagt hatte, nach. Die Frauen nickten, ein Mann sagte: »Das ist gut!« Die Volljuristin hatte wieder ihr Nurhausfraugesicht aufgesetzt. Sie sagte, dass die Schwester sich doch äußerst gut gehalten habe und dass sie, wenn sie es nicht besser wüsste, sie um mindestens zehn Jahre jünger schätzen würde.
Ein Junge nahm seinem Vater den Fotoapparat aus der Hand. Er ging ein paar Schritte rückwärts und setzte an, seine Eltern zu fotografieren. Ich sah das rote Lämpchen. Der Vater rief eine Weisung. Der Junge senkte die Kamera wieder und schaute hinüber zum Vater. Der Terrassenboden flackerte im Vorblitz, dann gleißte er im Blitzlicht auf, eine zweihundertfünfzigstel Sekunde lang. Der Junge ging herum und zeigte jedem das Bild auf dem kleinen Display. In großen Großbuchstaben: »Hofer«; kleiner darunter: »Alois und Maria«.
Auf einen Kuchenteller mit Resten (Schlagsahneschlieren, ein Randstück Karottenkuchen) streifte ich von den anderen Tellern die Reste und schob Teller um Teller unter den Resteteller.
Ein Kind, das neben seiner Mutter saß, kippte den Kopf zur Seite, schloss die Augen und legte die Hände gefaltet ans Ohr. Die Mutter strich dem Kind übers Haar.
Die Mutter: »Zum Sandmännchen sind wir wieder daheim.«
Das Kind: »Wann ist das?«
Ich trug den Tellerturm zur Terrassentür. 1851 plus 1935.

Damals: Edelvelours (Polypropylen), dunkelrot. Heute: Wolle, pastinakengelb. Darauf, asymmetrisch verteilt, weinrote Quadrate mit abstrak­ten Mustern darin, Kringel, Wellen, Geraden.
Die Schwester, auf dem Weg zur Terrasse, ging unter dem Dreibock hindurch. Sie sagte, ich solle die Teller einfach auf die Spülmaschine stellen.
In der Küche hantierten Frauen. Eine kratzte Töpfe sauber, zwei schnitten vornübergebeugt Paprika in Streifen und Tomaten in Achtel. Die Paprikaschneiderin, Rücken zur Tür, sagte: »Die ist aber schon so richtig amerikanisch dick.«
Die Tomatenachtlerin schaute auf und schaute mir ins Gesicht.
Auf der Arbeitsplatte standen fünf mal zwei Fünftel gleich zwei ganze Kuchen. Taking decisions, your task. Ich hob je ein Stück Apfel, Schwarz­wälder, Käse, Karotten und Zucchini auf einen Servierteller.

Wir essen, weil wir Hunger haben. Wir essen, weil es uns schmeckt. Wir essen, weil wir unseren Körper mit lebenswichtigen Nährstoffen versorgen müssen, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Wir essen, weil wir wachsen. Wir essen, weil wir müde, gelangweilt, einsam, ängstlich, deprimiert oder gestresst sind, sagt Robert Thayer, Psychologieprofessor an der California State. Wir essen, weil Essen da ist.
Wir essen, weil ein Heilpraktiker uns den gesundheitlichen Schaden von Semmelnessen verdeutlichte, anstelle unseres Bedürfnisses von fünf Semmeln nur drei Semmeln. Wir essen, weil wir sonst verhungern würden.

Ich tupfte die Schokoladenstreusel vom Teller und drückte Ctrl + M. War da draußen noch jemand? Wieder eine Mail vom Schwager, verschlüsselt mit ROT13.
Unten saßen sie auf der gescheckten Terrasse, auf Lettern und Ziffern, die glänzten golden oder waren in den Stein gekerbt oder aus dem Stein herausgehoben oder dunkelgrau gefasst. Ich addierte, was ich erkennen konnte: 38 395. Ich hob vom Teppich Yannicks Diodenpistole (980 Gramm) und verschanzte mich unter dem Fenstersims (Granit). Die Weiber wieherten, die Männer dazwischen lächelten mit.
Der offene Mund einer Mutter verschwand hinter dem Korn. Ich drückte ab. Nichts passierte. Die Wirklichkeit war keine Braunsche Röhre. This is HD-TV. It’s got a better resolution than real life. Das hatte eine bessere Auflösung als das richtige Leben. Eine bessere Lösung als das richtige Leben.
Im Flur rief die Schwester meinen Namen, dann stand sie im Zimmer. Ich klickte, Alt + F4, die Mail vom Schwager weg. Jemand müsse die Mutter zurückbringen. Die fühle sich nicht wohl, wohl sei das auch zu viel für sie, der ganze Trubel. Kopfschmerzen, oder was sie habe.
Auf einem Serviertisch standen Glasschüsseln (Blütenform, fünf Liter): Kartoffelsalat, Feldsalat. Stangenbrot war schräg geschnitten, in schwagerdaumendicke Scheiben.
Die Männer der Frauen hatten sich Bier eingeschenkt, hatten die Braunglasflaschen in Halblitergläser hineingeleert. Eine Frau trank einen kleinen Schluck und stellte das Glas wieder vor ihren Mann.
Der Schwager kam aus dem Haus heraus mit einer Plastikschachtel. Er nahm Fleischfetzen heraus und Würste. Holzkohle prasselte in die Grillwanne.
Ich schob den Rollstuhl zum Auto. 1861 plus 1937, 3798. Der Schwager half mir, die alte Frau auf den Beifahrersitz zu heben.
Er reichte mir die Schlüssel.
»Soll ich nicht lieber mitkommen?«
»Du kümmer dich um deine Würstchen.«

Der Futtermais war überreif. Wie Lärmschutzwände standen meterhoch die dichten Halme links und rechts der Straße. Vor uns ein Traktor­anhänger, 25 km/h.
Ich sagte: »Mutter.«
Sie drehte den Kopf zu mir. Sie legte ihre Hand auf meine Hand auf dem Schaltknüppelknauf. Ich zog meine Hand unter ihrer Hand weg. Ihre Hand lag auf dem Schaltknüppelknauf.
»Warum hat er das gemacht, eigentlich?« Ich.
Sie bog den Kopf nach hinten, sagte zum Dachhimmel (Polyurethanschaum): »Gleis … «
Verstand sie mich? Oder war sie abgetaucht in ihre Vergangenheit, in ihr Langzeitgedächtnis, das ihrer kranken Eigenzeit weismachte, es sei die Gegenwart? »Gleis.« Sie redete von der Fabrik, von der Modelleisenbahn. Sie dachte an die Tenderlok und an das Krokodil. Sie sprach zu mir im Glauben, ich sei eine Kollegin, die neben ihr saß und Lämpchen auf Modellbahnwaggonchassis schraubte. Das war nicht irgendein Winkel der Erinnerung, das waren acht und mehr Stunden an jedem Tag, an zweihundert und mehr Tagen in jedem Jahr, in fünfzig Jahren in jedem, das hieß: in einem Leben.
Das waren mehr als zehn Jahre, rund um die Uhr herum, ohne Schlaf und ohne Traum. Ihr Langzeitgedächtnis hatte nicht sehr viel Auswahl.
»Gleis.«
Oder »heiß« oder »weiß«.
»Du weißt es nicht?«
Sie sagte, und jetzt konnte ich jede Silbe erraten: »Ich. Kann. Es. Nicht. Sagen.«
Weiß ich nicht, das sagte die Demente. Kann ich nicht sagen, sagte die mit dem Schlag­anfall | die Aphasikerin | Dysarthrophonikerin. Es gab viele Begriffe für die Begriffslosen.
Ich faltete den Rollstuhl auseinander. Ein Pfleger half, die Mutter aus dem Beifahrersitz zu heben. Die grauen Rollstuhlreifen gaben die Rich­tung vor. Ich schob den Stuhl in Schlangenlinien | Sinuskurven gangabwärts. Mutter lachte müde. Ich folgte ja doch ihren Spuren.
Im Aufenthaltsraum spielten zwei geschrumpfte Frauen Mensch-ärgere-dich-nicht. Tische und Stühle waren aus hellem Holz (Kiefer), an den Wänden Schiebetüren, die knallten in klaren Folienfarben, in primären unten, Cyan, Magenta, Gelb, in sekundären oben, Blau, Rot, Grün.
Ein Möbelhausprospektbild. Ein Kindertagesstättenausstatterprospektbild mit zitternden, sabbernden Alten, mit starren Faltengesichtern, mit Schnabeltassen.
Ich, zur Pflegerin | Erzieherin: »Sie hat gesagt, ihr sei nicht gut.«
Die Pflegerin: »Wir kümmern uns.«
Sie blieb stehen zwischen Mutterrollstuhl, noch mit Mutter darin, und Mutterbett, noch ohne Mutter darin. Blick aus dem Flugzeugfenster. Unter mir die Mutterstirn. Dünen, Gräben, gläserne Iglus. SORRY, NO REAL-TIME INFORMATION AVAILABLE FOR YOUR REQUESTED FLIGHT.

Der Schwager spannte Lichterketten mit geschätzten jeweils sechzig bunt funzelnden Lämpchen (zu je etwa | ungefähr 0,7 Watt) quer durch die Luft über den Biertischen. Am Ende jeder Leitung installierte er eine Spannvorrichtung aus Umlenkrollen und Zuggewichten (aufgefädelte Sechskantmuttern, 32 mm).
Eine Lichterkette hängte der Schwager einfach an einen Nagel neben der Terrassentür. Sie trug Fruchtleuchten (Erdbeer, Melonenkeil, Trau­be, Apfel, Himbeer).
Eine Frau (Papagei) rief: »Hey, Partyketten!«
Der Schwager: »Nur wo es gemütlich aussieht, verbringen die Gäste gerne den Abend. Schon mit wenig Geld lässt sich ein hübsches Ambiente zaubern.«
Die Frau: »Du nun wieder!«
Auf dem Grund der einen Blütenschüssel versank ein Kartoffelsalatrest. Weiße Brocken stießen durch den Fleischbrühspiegel. Auf der Brühe schwammen Fettäuglein und Zwiebelringabschnittchen. In der Schüssel daneben: Feldsalatblättchen, zusammengefallen in balsamessigbraunem Dressing.
»Die Steaks müssten jetzt fertig sein.«
»Ich kann nicht mehr.«
»Wo ist denn die Kirsten?« Oder: Kerstin, Kristin, Gabi.
»Heim. Der Kleine muss ja ins Bett.«
»Ein Reihenendhaus ist ja in dem Sinne kein Reihenhaus. Sondern also eher praktisch so was wie eine Doppelhaushälfte.«
Die Tomatenachtlerin von vorhin (Küche) brachte eine Schüssel (frischer Kartoffelsalat) und noch eine Schüssel (Feldsalat).
»Ich kann nicht mehr.«
»Die Wurst noch.«
Der Mann der Volljuristin | Nurhausfrau schlug einen Massivhausprospekt auf und faltete einen Massivhausgrundriss auseinander, auf dem die Zimmer unterschiedlich eingefärbt waren. Die schnurgeraden Grenzen der Frontierstaaten. Utah, Colorado, New Mexico und Arizona mit massiven Ziegelwänden.
»Bringst mir auch eins mit?«
»Ist nicht richtig kalt.«
»Egal!«
Wohnfläche qm 104. Küche, Diele, Bad, WC, Woh­nen, Eltern, Kind römisch eins, Kind römisch zwei.
»Ohne Keller?«
»In der neuen Siedlung.«
»Wo willst denn da bauen?«
»In der ganz neuen Siedlung. Dem Allgaier seine Felder hinter der Siedlung. Das soll ja Bauland werden bald.«

Ein Campingtischchen. Dahinter: eine Frau, die mit der Schwester zur Schule gegangen war. Sie sei seit Kurzem geschieden, hatte sie vor ein paar Stunden erzählt. Sie weine ihrem Ex-Mann keine Träne hinterher. »Der Bock!« Heute Abend mixte sie Cocktails.
Auf dem Tischchen: eine Flasche brauner Schnaps, ein Chromkörbchen voller Limetten, eine Eismühle (Edelstahl, gebürstet), eine Tüte Zucker.
»Weißer Rohrzucker? Wo hast denn den her?«
Ich zählte die Lämpchen an den straff gespannten Kabeln. Ich hatte falsch geschätzt. Fünfundfünfzig. Keine sechzig. Oder? Ich zählte sie noch einmal. Siebenundfünfzig.
Die Frau (Subjekt) hinter dem Campingtischchen (lokale adverbiale Bestimmung d. Subjekts) zerstampfte (Prädikat) die Limetten (Akkusativ­objekt) mit einem Holzklöppel (instrumentale adverbiale Bestimmung) im Glas (lokale adverbiale Bestimmung d. Akkusativobjekts).
Ich zählte jede Lämpchenfarbe einzeln. Rote: neunzehn rote. Grüne: neunzehn grüne. Gelbe: neunzehn gelbe.
Die Subjektfrau hinter dem Campingtischchen drehte sich um und bückte sich nach einer neuen Flasche. Zwischen Hosenbund und Pullisaum war eine Handbreit Haut zu sehen. Helle Striche (senkrecht), durchgestrichen (waagrecht) wie bei der Strichzählung die Fünf. Eins, zwei, drei, vier, quer. Eine alte Tatauierung, weggefräst | ungültig gemacht.
»Um Gottes willen, nein, das trink ich nicht, da sind doch Terpene drin!«
»Es ist eh gleich zwölf!«
Zwei Edelstahltabletts mit Sektgläsern.
»Nehmt euch, schnell!«
»Drei! Zwei! Eins! – For she’s a – to you, happy birthday – jolly good fellow!«
Unten im Rasen steckten Weißblechwinkel mit Windlichtern.
Die kleine Jolly-good-fellow-Fraktion wusste nicht, wie es nach »fellow« weiterging. Manche wiederholten einfach die erste Zeile. Nach der zweiten Wiederholung war nur noch eine einzelne helle Stimme zu hören: »for she’s a jolly good fe-hel-low«, piekste es aus dem allgemeinen Happy-Birthday-Gegrummel heraus. Dann schwenkte auch diese Stimme zu Happy Birthday. Which nobody can deny.
Die Schwester (Papagei) ging ins Haus und kam als Pinguin wieder heraus. Bald darauf ging sie zu Bett. Es sei ein langer Tag gewesen. Sie sei auch ein bisschen beschwipst. Die anderen sollten doch bitte noch bleiben.
Dann war nur der Mann von einer der Frauen noch da. Seine Frau war längst nach Hause gegangen. Kirsten? Kerstin? Kristin? Gabi? Er war betrunken genug, mich anzustarren. Die Heizpilze (Edelstahl, gebürstet) zischten leise. Glühen­de Lochblechzylinder leuchteten hinüber auf abwaschbare Sitzkissen auf Drahtgeflechtstühlen und herunter auf das Gesicht des Mannes der gegangenen Frau. Er sagte: »Meine Oma ist aus Schlesien. Die hat immer gesagt, in Schlesien hat man immer gesagt, wenn einer Geburtstag hat, dann muss man den gut verprügeln, dass das Fleisch im Grab besser fault.«
Seine Lider senkten sich wie altersschwache Holzrollläden. Er sagte, schwere Zunge: »Ich bin ein alter Pinguin, aber du, du bist noch jung. Wo gibt’s denn das, dass ein Pinguin mit einem. Mit einem.«
Ich: »Papagei.«
»Dass ein Pinguin mit einem Papagei. Wo gibt’s denn das.«
Hinter mir der Schwager: »Jürgen, es wird Zeit!«

Vom Schwager eine Mail: »Bist du noch wach?«
»Nein, ich schlafe schon.«
Er legte sich zwischen mich und die Wand. Er versuchte, sein Schnaufen zu dämpfen und seinen Atem ruhig und gleichmäßig klingen zu lassen. Im Zwielicht seine Kleider auf dem Stuhl: Silhouette eines kauernden Zwergs. Der Tod saß in diesem Haus überall, dachte ich. Der ging hier ein und aus. Der war ein richtiger Pendler, und hier, in diesem Haus, da war sein Ruhepunkt. Und dass man diese Anthropomorphisiererei doch besser bleiben ließ, diese Trostlüge. Allein aus Illusionsprophylaxe. Mit Abstrakta konnte man nicht reden, die saßen nicht herum, die konnte man nicht überzeugen, was andres zu tun. Dieser Todgnom da auf seinem Stuhl, den konnte man nicht therapieren. Der hatte keine Krankheitseinsicht. Ich fasste hinter mich, da ragte der kleine Schwager | der Schwanz des Schwagers. Anthropomorphisiererei.
Ich griff nach dem hydraulischen Ausleger | das Übel an der Wurzel, drückte meinen Po nach hinten. Der Schwager erstarrte. Seufzte.
Ich drehte mich um. Er küsste mit Vorsicht meine Schläfe, rutschte ab zum Nasenbein. In seinem Atem war ein Geruch, der kam direkt aus der Lunge. Dort, im Schwager, diffundierte Ethanolgas aus dem Blut in die Alveolen. Caipirinha.
Er tippte mit der Zunge gegen meine Lippen, geriet in einen Loop, drehte mit der Zungenspitze Achten und malte Unendlichkeiten auf meinen Mund.
Das Fleisch kneten und das Fett, in der Masse versinken im Dunkeln, das mochten sie. Doch wenn es hell war, drehten sie den Blick weg von den Bauchringen und Bauchfalten, weg von den Arschtaschen und den Orangenhauthüften.
Ich strich mit einer Hand zwischen seinen Schenkeln entlang. Er drückte seine Zunge zwischen meine Zähne.
Ich: »Bin gleich wieder da!« Geflüstert.
Im Badezimmer kippte ich die Waschtasche (Nylon) auf den Teppich | Waschbeckenvorleger. Kippte ich meinen Kulturbeutel | meinen Plastiksack für Zahnhygiene, Reinlichkeit und Vögelkultur auf den hohen (den tiefen?) Polyacryl-Flor. Auf den dichten Faserspitzen schwebten Fläsch­chen und Tübchen. Das verfickte Diaphragma war weg. Ich sah nur das Verhütungsgel (Milchsäure) und den Applikator. Voraussetzung für einen guten Sitz: eine ausgeprägte Nische hinter dem Venusknochen am Vaginaleingang.

Der Schwager schob ein Handtuch unter meinen Hintern. Wo hatte er das plötzlich her? Er schob es von der einen Seite, zog es von der anderen.
Ich fragte mich, was ich da eigentlich tat. Wenn man sich beim Ficken | Vögeln | beim Sex oder sogar genau in der Sekunde der Penetration (auch: die Prüfung der Viskosität von Schmierfetten) fragte, was man da eigentlich tat, dann war es auch schon zu spät. Dann war alles verloren | Hopfen und Malz. Dann war alles weg. Plopp, Phantasmaverpuffung. Von hundert auf null in nullkommanull.
Ich stand neben mir, lag neben mir und schaute mir zu. Das könntest du auch einfach lassen, sagte ich zu mir. Doch wenn es danach ging, dass ich etwas auch einfach lassen konn­te, weil ich neben mir stand, wenn es danach ging, konnte ich gleich alles lassen. Was hieß alles? Alles. Alles hieß alles.

Der Schwager zog und drückte und stieß und rührte. Er hatte die Augen geschlossen, deine wunderschönen, strahlend blauen, braunen, grünen, roten Augen, ich sah das Gesicht im Schein des Viertel- oder Halbmonds. Die Bartstoppeln waren dunkler als am Tag. Zum ersten Mal sah ich den Schwager ernst, sah seinen Mund ohne Grinsen. Ohne Ironie oder Spott. Die Lider zitterten im blauen | blassen | fahlen Restlichthimmellicht. Bei Nacht sind alle Stoppeln schwarz.
Er stieß und rührte, atmete zu laut. Deine weichen, warmen, verzweifelt ausgestreckten Hände. Er hatte vergessen, wo er war, er stieß schneller. Er stieß, er hustete: »Obacht!« Es krach­te, der Schwager kippte nach vorn und biss in das Kopfkissen seines Sohnes. Yannick (der Kleine).
Mein Kopf lag tiefer als der Leib. Das Blut floss langsam aus den Beinen ins Gehirn. Der Bettrahmen war auf den Boden (Eichenstäbe, Würfel­muster) geknallt. Am Kopfende waren die Bettbeine weggebrochen.
Wir lagen nebeneinander, schauten zur Decke und horchten.
Ich: »Was summt denn da so?«
Der Schwager: »Die Spülmaschine. Ich hab’ sie vorhin noch eingeschalten.«
Am Fußende Holzdübelknarren. Dann knallte der Bettrahmen unten, am Fußende, auch nach unten.
Spülmaschinensummen.
Das Blut floß aus dem Hirn zurück in den Leib.
Der Schwager: »Bleibst du hier?«
»Nein.«
Pause.
Ich: »Kommst du mit nach Amerika?«
»Nein.«
Er fiel in eine helle Hechelatmung. Er kicherte oder weinte. Draußen fuhr ein Lkw vorbei. Ein Pkw. Scheinwerfer suchten die Zimmerdecke ab.

Ich erwachte von einem Klopfen. Die Türschlossfeder wurde gespannt. Sie knackte.
Boden: Schurwollteppich, safrangelb. Eine Tube Milchsäure (Aluminum, 3,8 Unzen gleich ca. 107,73 Gramm). Sie war nur an den Flanken etwas eingedrückt | tailliert. In den Falz waren Ziffern gestanzt. Produktionscode und Verfallsdatum. Die konnte ich jetzt nicht erkennen. Ein Applikator (Polyethylen). Wo war bloß das verfickte oder eben unverfickte Diaphragma?
Lucas (der Große) stand im Zimmer, Yannick (der Kleine) stand in der Tür und weinte mei­nen Namen. Hinter Yannick (dem Kleinen, der in der Tür weinte) die Schwester. Gesicht: Waschbeton. Ich schob unter der Decke die Hand Richtung Wand. Ich tastete dahin, wo der Schwager lag.
Neben der Schwester Frau Gomolka mit Putz­eimer (zwanzig Liter) und Nassmopp. Schwester und Frau Gomolka Schulter an Schulter. Die Schultern teilten sich, der Schwager stieg hindurch, schob Yannick (den Klei­nen) vor sich her, durch die Tür ins Zimmer.
Ich ahnte die Wahrheit schon. Davon konnte man müde werden. Ich setzte mich auf.

Der Schwager sagte: »Eure Mutter ist gestorben heute Nacht.« Yannick weinte lauter. Frau Gomol­ka zu Yannick: »Jetzt sei still.«
Ich war ganz bei mir. Hier in der Gegenwart und beim Vergangenen zugleich und ohne Angst vor der Zukunft. Alles war eisklar und kongruent. Was hieß alles? Alles. Alles hieß alles.
Ich stach mit einem Zeigefinger in das Zimmer vor mir, mit dem andern Zeigefinger stach ich hinter mich. Der Rumpf verdrehte sich. Der Blick drehte sich mit, in die Dachschräge hi­nein.
Die Wiederholung (Arm I) und die Erinnerung (Arm II) wiesen weg vom fetten Leib. Das Fett, das bleibt, das hatte Wagner III gesagt.
Die Zukunft war nicht ungewiss. Woran ich mich erinnerte, das wiederholte ich vom zum Beispiel linken Ellenbogen bis zum linken Handgelenk. Doch was sich wiederholte, das war ein Erinnern nach vorn, von der rechten Schulter bis zur Zeigefingerspitze. Zwischen Erinnerung und Wiederholung saß mein fetter Leib jetzt auf der Bettkante, und ich mittendrin im fetten Leib. Mein Fett bei mir. Das Fett, das bleibt, das hatte Wagner III gesagt.
Die Bettkante lag tiefer als sonst. Ich saß tie­fer als sonst.
Yannick (der Kleine) weinte noch immer. Er zog mit kurzen Schluchzern Luft in die Lungen. Ich hörte ihn quietschen und dachte: demnächst Hyperventilationstetanie.
Frau Gomolka: »Hör auf jetzt, oder ich hau dir eine rein!«

Dass die Mutter am Geburtstag der Schwester gestorben war und nicht an meinem, das nahm ich ihr übel. Das nahm ich der Mutter übel, und der Schwester nahm ich es auch übel.
Neben dem Schrank (Yannicks), auf der Erde (Eiche), der aufgeklappte Hartschalenkoffer. Im Deckel ein gespanntes Netz. Hinter dem Netz die dunkle Bluse.
Unterm Fensterbrett baumelte ein USB-­Stecker an einem Kabel, das Kabel stieg senk­recht nach oben zum Griff einer Diodenpistole. This is HD-TV. It’s got a better resolution than real life. Das war Hochauflösendes Fernsehen. Das hatte eine bessere Auflösung als das richtige Leben. Eine bessere Lösung als das richtige Leben.
Ich sah die Schwester draußen im Flur und dachte: Geburtstagskind.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus: Bov Bjerg: Deadline. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2008, 144 Seiten, 16 Euro. Der Roman er­scheint dieser Tage.