Berliner Kritik am herrschenden Arbeitsbegriff

Ausgliedern zum Kaffeekränzchen

Mit einer Demonstration und etlichen künstlerischen Aktionen will eine Ber­liner Gruppe zur Kritik am herrschenden Arbeitsbegriff beitragen.

Samstagnachmittag in Berlin, am Maybachufer in Neukölln. Spaziergänger und Hundebesitzer flanieren am Ufer entlang. Verschleierte Hausfrauen schleppen prallvolle Tüten aus einer Aldi-Filiale und verstauen die Einkäufe in großen Autos. Mehrere jüngere Leute stellen Tische auf und bieten Kaffee und Kuchen an. Kostenlos. Man soll lediglich eine »Ausgliederungsvereinbarung« unterschreiben, danach müßig im Liegestuhl oder auf einem der mitgebrachten Plastikhocker sitzen und über sich und seine Stellung in der Welt der Lohnarbeit nachdenken. Möchte man irgendwo ausgegliedert werden? Arbeitet man zu viel, zu wenig oder gar nicht? Bekommt man Geld für die Arbeit, oder muss man sich vom Jobcenter demütigen lassen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten? Leider beginnt es zu regnen.

Die Sache ist eine Kunstaktion, organisiert von der AG Unvermittelt, die wiederum Bestandteil der Berliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) ist und für den Zeitraum vom 15. August bis zum 17. September eine Kampagne »für einen Arbeitsbegriff jenseits von Überarbeitung und Mangel« durchführt. Zum Auftakt hat es bereits eine Demonstration unter dem Motto »Gebt der Arbeit eine Chance« gegeben.
Auf einem von den jungen Leuten verteilten Falt­blatt ist zu lesen: »Der Ausgliederungsservice schließt mit Ihnen einen Vertrag, der Sie zu nichts verpflichtet. Als Gegenleistung bieten wir Ihnen Kaffee und Kuchen in einer angenehmen Atmo­sphäre. Gegenstand des Ausgliederungsvertrags ist die Ausgliederung aus dem Lohnarbeitssystem.« Dazu gibt es Informationen darüber, wie man den so genannten Arbeitsvermittlern im Jobcenter gehörig auf die Nerven gehen kann.
Die Aktion konterkariert die Tatsache, dass, wer zum Jobcenter gehen und Arbeitslosengeld II beantragen muss, in der Regel dazu genötigt wird, eine so genannte Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben. Mit der Unterschrift verpflichtet man sich dazu, alles nur Erdenkliche zu tun, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Man verpflichtet sich auch, die eine oder andere Zumutung über sich ergehen zu lassen. So berichtete z. B. der Spiegel 2007, dass den Hamburger Empfängerinnen und Empfängern des Ar­beitslosengelds II ein Fragebogen ins Haus geflattert war: »Das Amt will nicht nur wissen, ob die Hartz-IV-Empfänger ihren Speiseplan gern mit exotischen Gerichten (z.B. aus Indien, Japan und Mexiko) aufpeppen. Von Interesse sind offenbar auch ihre Antworten auf die Frage, ob das Leben in der DDR gar nicht so schlecht war, ob gern Filme angeschaut werden, in denen viel Gewalt vorkommt, oder ob man es schön fände, wenn eine Liebe ein ganzes Leben hält.« Zudem habe sich das Amt erkundigt, ob »Dinge wie Tarot, Kristalle oder Mandalas« dem Arbeitslosen helfen könnten, »in schwierigen Lebenssituationen die richtige Entscheidung zu treffen«, und ob »christliche Wertvorstellungen keine Rolle spie­len«. Die Hamburger Behörde für Wirtschaft und Arbeit versprach sich nach Angaben des Magazins von dem Vorgehen, »ein umfangreiches Profil der Kunden zu erhalten, um passgenauere Instru­mente für den Förderbedarf zu entwickeln«. Das hatte ein Mitarbeiter der Grundsatzabteilung damals angegeben.

In anderen Städten gingen die Behörden ähnlich vor. Das Jobcenter in Berlin-Neukölln wollte 2007 so einiges wissen, und zwar von Jugend­lichen, die selbst bald die Schule beendeten und deren Eltern ALG II bezogen. Es wurden nicht nur die Adresse und Telefonnummer erfragt, son­dern auch die Handynummer und die Mailadresse. Auch die Noten in Deutsch, Mathe und Englisch waren für das Amt von Interesse, ebenso wie Näheres zur Geisteshaltung der Befragten: »Ist es mir wichtig, dass ich meine Zuverlässigkeit unter Beweis stellen oder klare Aufgaben bekommen und diese umsetzen kann? Zählt für mich vor allem, ›Nägel mit Köpfen‹ zu machen oder in einer Gruppe gut zurechtzukommen?« Auch nach den so genannten Führungsqualitäten wurde in dem Schreiben gefragt: »Bin ich am zufriedens­ten, wenn ich andere anleiten und führen oder wenn ich verständnisvoll auf andere eingehen bzw. anderen helfen kann?« Weiter wollte das Jobcenter wissen: »Fühle ich mich besonders leis­tungsfähig, wenn ich Dinge vor allem sachlich korrekt bearbeiten oder mich immer wieder mit neuen Situationen / Menschen auseinander­setzen kann?«
Dass man in der Regel dennoch nirgends »eingegliedert« wird, auch wenn man »Nägel mit Köpfen machen will« und »in der Gruppe gut zurecht kommt«, ist den meisten Arbeitslosen ­genauso klar wie den Mitarbeitern der Jobcenter selbst, die nur selten wirklich über die Qualifi­kationen verfügen, um die Gespräche zu führen, mit denen sie mehr oder weniger Verzweifelten das Leben vergällen.
Aber der AG Unvermittelt geht es um mehr als nur um juristische Spitzfindigkeiten. Es geht um die Absurdität eines »Eingliederungsvertrags« ohne vorhandene Arbeitsplätze und um die Absurdität des herrschenden Arbeitsbegriffs, in dem nach wie vor Arbeit mit Lohnarbeit gleichgesetzt wird, von der wiederum der Wert eines Menschen abzuhängen scheint. Natürlich geht es auch um Kunst: Die ausgefüllten »Ausgliederungsvereinbarungen« sollen später ausgestellt werden.
Die Leute, die auf den Bänken hocken und das Angebot von Kaffee und Kuchen gerne annehmen, machen mit und füllen die Formulare schmunzelnd aus. Sie gehören, man sieht das, nicht zu den Privilegierten. Eine Frau erzählt einer Mitarbeiterin der Unvermittelt-Kampagne: »Als ich gearbeitet habe, habe ich mich fast totgeschuftet. Jetzt bin ich auf Hartz IV und genieße die ganzen Sachen, die Berlin so bietet. Man kann sich zum Beispiel viele Vorträge anhören, die sind kostenlos. Aber jetzt ist da immer die Angst: Wie geht es weiter?«
Derweil tuckert ein Aussichtsdampfer vorbei, Touristen starren. Manche Spaziergänger sehen verständnislos herüber. Moderne Kunst halt! Das gefällt nicht allen. Es sind auch nicht alle begeistert davon, dass das Faltblatt der NGBK als Schirmherrin die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Heidi Knake-Werner von der Linkspartei, ausweist, die zur Auftaktveranstaltung der Kampagne einige Worte geschickt hat. Knake-Werner scheint sich nur schwer entscheiden zu können: Möchte sie für ein Sozialsystem verantwortlich sein, an dessen Entwicklung sie maßgeblich beteiligt war und für das auch ihre Partei steht, oder möchte sie dagegen kämpfen?

Doch nicht nur diese Frage drängt sich einem an­gesichts der Aktion der AG Unvermittelt an diesem regnerischen Nachmittag auf, sondern auch eine andere: Wenn hier schon künstlerisch wertvoll und ironisch »ausgegliedert« werden soll, dann bitte wohin? Zum Techno-Tanzen auf Goa? Zum Käsemachen in den Abruzzen? Aussteigen ist unzeitgemäß – jede Menge Menschen aus den Abruzzen und aus Goa würden alles dafür tun, eingegliedert zu werden in ein Sozialsystem, für das sich immer mehr Menschen mit ­einem Schlauch­boot auf den Weg von Marokko nach Lampedusa oder auf die Kanaren machen. Das Eingliedern funktioniert nicht, und das »Aus­gliedern« besteht nicht mehr als Alternative. Das ist freilich nicht die Schuld der AG Unvermittelt.