Die neuen Liberalen und ihre Vorwürfe an die Antideutschen

Eliminierung der Widersprüche

Geschichte der neuen deutschen Volksfront (proisraelisch) – kurzer Lehrgang. Eine Antwort auf den Artikel »Juden als nützliche Idioten« von Ingo Way und Stefan Wirner.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Dem Bedürf­nis, von antideutscher Kritik sich abzustoßen, entspringen neudeutsche Liberale, die das meiste von dem verfehlen, was der Liberalismus im Guten enthält. Offenbar ist so etwas wie die Wut auf die eigene Vergangenheit im Spiel oder die Angst, von ihr nicht loszukommen. Je weniger der Zusammenhang, von dem man nichts mehr wissen will, zur Partei werden könnte – und darin liegt etwas von einer leider kaum entfalteten Affinität antideutscher Kritik zu liberalen Tra­ditionen –, desto mehr übt sich, wer seiner überdrüssig wurde, im Jargon repressiver Parteiapparate, die zum Glück nicht wirklich, sondern nur als Blogs existieren. Jeder sein eigenes Politbüro.
»Juden als nützliche Idioten« ist eben nicht zufällig der Text von Way und Wirner (Jungle World 33/08) gegen Stephan Grigats Dossier (32/08) betitelt. Die Lenin zugeschriebene Formel vom »nützlichen Idioten« schlägt allerdings zurück und entlarvt ein Denkvermögen, das nur im entsprechenden Parteiausschlussverfahren auftrump­fen kann. Wenn Stephan Grigat schreibt, »der eine oder die andere Antideutsche jüngeren Semesters sollte besser Adorno lesen als eifrig He­bräisch pauken«, macht daraus die Anklage, es werde »der Boykott von Hebräisch-Kursen empfohlen«. Nach dieser Methode wird ihm unterscho­ben, dass er den Zionismus als »Irrweg« sehe und Israel als das Resultat »falscher Schlüsse«, wel­che die Juden aus dem Holocaust gezogen hätten. Das ist vor dem Hintergrund dessen, was Gri­gat geschrieben hat, so grotesk, dass eigentlich nur noch der Verdacht fehlt, er und seine »Mitstreiter«, wie übrigens auch der Mossad, seien vom Iran finanziert.
Der infame Irrsinn soll offenkundig von der Frage ablenken, die das Dossier eigentlich beschäftigt: Was einerseits der Staat im Allgemeinen ist – und worin andererseits der kategorische Im­perativ besteht, für einen bestimmten einzutreten. Und wenn es einen Fortschritt gab in der anti­deutschen Kritik, dann betrifft er die Fähigkeit, mit den Augen des Westens zu sehen: zu erkennen, dass Staat nicht gleich Staat ist und die liberale bürgerliche Gesellschaft verteidigt werden muss – ohne darum auszublenden, dass diese Gesellschaft nicht nur ihre Versprechen nicht erfüllen kann, sondern sich in der Krise selbst ad absurdum zu führen droht. So kann aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie entwickelt werden, woran es dem Liberalismus notwendig mangelt: die nötige Vorstellungskraft und die prä­zisen Begriffe für das Potenzial an zerstörerischer Gewalt, die auf Israel und die Juden weltweit sich konzentriert.
Widersprüche, wo immer sie das Denken in Gang setzen könnten, werden jedoch in dem von Way und Wirner inszenierten Verfahren sofort eliminiert. Es entsteht dabei auch ein Bild vom Judentum, das etwa dem entspricht, was die KPdSU unter Arbeiterklasse verstand: Das »messianische Element« spiele zwar in manchen seiner Sekten »bisweilen eine Rolle, es wurde aber nie zum Mainstream«. Mainstream ist der modernisierte Ausdruck für die Parteilinie, der alle Gegensätze zu opfern sind. Darum favorisiert man den Philosemitismus – er ist das Volksfront-Bündnis mit dem Judentum: Gegensätze werden um eines verborgenen Nenners willen verschwiegen. Wenn es aber ein Denken in religiösen Zusammenhängen gibt, das nur aus seinen Widersprüchen begriffen werden kann, dann das der jüdischen Traditionen; darin liegt seine schwer zu beschreibende, philosophisch kaum eingeholte Dynamik. Und ein Blick auf die wich­tigs­ten neueren Diskussionen genügt – man denke an Gershom Scholem und Leo Strauss, Emil Fackenheim und Michael Walzer –, um sogleich auf die ständig balancierten Widersprüche zwischen messianischen Elementen und zionistischer Politik zu stoßen.

Parteidisziplin, auch ohne Partei, entbehrt zwar der Vernunft, funktioniert jedoch nach dem logischen Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Das Judentum, so Way und Wirner, sei »eine Religion der Tora und nicht der Endzeiterwartung«; und »Messianismus und Totalitarismus« seien »nahe Verwandte«, wofür man sich auf keinen jener jüdischen Gelehrten, sondern akkurat auf ein Buch Norman Cohns beruft, dessen Inhalt aber ungefähr so getreu wiedergegeben wird wie der von Grigats Dossier. Offenbar fungiert hier eine hastig gezimmerte Konstruktion von Judentum als Stellvertreter des absoluten Subjekts, das benötigt wird, um reine Identität zu verbürgen und Kriterien der Säuberung zu legitimieren. Ihren politischen Konkurrenten und Feinden, oder was sie dafür hielten, haben die Marxisten-Leninisten einstmals vorgehalten, dass sie Klasse und Volk nur als Mittel zum Zweck verwenden, um das real existierende Vaterland der Werktätigen zu stürzen. Jetzt heißt es, die »real existierenden Juden« seien für die Antideutschen »nichts anderes als ein Mittel zum Zweck, die kruden Ideen dieser lin­ken deutschen Strömung zu untermauern, die nur auf die Abschaffung von Marktwirtschaft und Demokratie hinaus will und Versöhnung und Religiosität zutiefst verabscheut«.
So müssen diese »vorgeblichen Freunde« – die antideutschen Doppelagenten und dialektisch-antizionistischen Verräter – aus der ideellen Partei für Marktwirtschaft und Demokratie, Versöhnung und Religiosität ausgeschlossen werden, sind sie doch »tief verwurzelt« in der feindlichen, totalitären Klasse: Das Dossier von Grigat sei »ein lehrreiches Dokument der deutschen Linken, in der die Antideutschen tief verwurzelt sind – und zwar in ihrem totalitären, antidemokratischen Spektrum. Man sollte dem Text von Stephan Grigat größtmögliche Verbreitung wünschen. Damit Juden wissen, wozu sie für deutsche Linke taugen.«
All das ist lächerlich und wäre an sich der pole­mischen Gegenrede nicht wert. Die Organisationen der Juden sind selbst jeweils in der Lage einzuschätzen, wem sie trauen können und wem nicht. Was sie im besten Fall von einer Kritik haben, die sich antideutsch nennt, ist Hilfestellung in Sachen Illusionslosigkeit: eine Analyse der politischen Verhältnisse, die, im Unterschied zu ihnen selber, keine Rücksichten auf politische Funktionsträger nehmen muss und darum nicht Gefahr läuft, verständliche Wunschbilder von Deutschland als verbürgte politische Realität zu nehmen. Nur der Negativität einer kritischen Theorie verpflichtet, die sich auch noch die Kritik am »Jargon der Dialektik« (Jean Améry) zu eigen macht, hat sie mit dem Judentum, wenn auch in ganz anderer Gestalt, das Wissen gemeinsam, dass die Welt nicht »erlöst« ist, und das heißt nichts anderes als: Der sachliche Blick auf die Gegenwart, um in ihr zu überleben – auch, soweit das möglich ist: gut zu leben –, und die Hoffnung um der Hoffnungslosen willen schließen einander so wenig aus, wie sie ineinander aufgehen können. Kein Wort zu dulden, das der Verzweiflung Trost gewährte, so drückten Adorno und Horkheimer ihre eigene Nähe zur jüdischen Religion aus: Hoffnung knüpfen »einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen … die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns.« Die Verneinung freilich ist nicht abstrakt, sie setzt auf eine sich ständig selbst explizierende Kritik, die von der Gefährdung des Einzelnen im Zusammenhang des Ganzen gerade nicht abstrahieren kann, sondern daraus politische Urteilskraft schöpft. Darum weckt sie erst recht den Hass derer, die den Trost suchen im Ganzen und die den Wahn, der ihm entspringt, eifrig rationalisieren.

Die Parole, die dabei von den jüngsten Liberalen ausgegeben wird, lautet: »Liberalismus in einem Land«, um der »Weltrevolution«, Fratze des Mes­sianismus, den Garaus zu machen. Aber das Land, um das es geht, ist natürlich Deutschland. Auch noch die Gefahren, die dem Staat der Holocaust-Überlebenden drohen, werden ihnen zur Variablen der Apologie, die nur einen Zweck kennt: das irrationale Ganze zu kaschieren, wie es in der Form des Kapitalverhältnisses beschlossen liegt, und von keinem Souverän, sei er noch so westlich orientiert und unterstützenswert, je unter Kontrolle gebracht werden kann.
In der Wahl der Mittel geht diese Apologie dem­nach genau so weit, wie man es selber den Antideutschen unterstellt: Den Israelis wird Sicherheit suggeriert, wo es sie nicht geben kann, darin etwa, »dass Deutschland nach den USA der größte Handelspartner Israels ist und in der EU dessen wichtigster Fürsprecher«. Um die Gesellschaft so rational und harmonisch wie irgend möglich darzustellen, ist eben jedes Mittel recht (einschließ­lich des Schweigens über den Handel mit dem Iran), und darum erscheinen auch die drohenden Gefahren so harmlos wie irgend möglich. Wer das einzig notwendige, »notwendig falsche« Bewusstsein des Zionismus wirklich gewonnen hat, wird für solche Insinuationen ohnehin nicht anfällig sein. Dieses richtige Bewusstsein von der Verfolgung der Juden erkennt immer nur den Zwang, sie herunterzuspielen. Es ist zugleich der Zwang der deutschen Ideologie.