Serie über Serien: »Big Love«

Zu viele Frauen gibt’s nicht

Polygamisten im Mormonenmilieu beobachtet

Der Vorspann von »Big Love« zeigt die Hauptfiguren, den Ehemann und seine drei Frauen, bei einem fast schwerelosen Tanz auf dem Eis, dazu singen die Beach Boys »God only Knows«, später sitzen sie zu viert beim Tischgebet zusammen, ganz allein auf einer Erdkugel oder auch auf einem ganz anderen Planeten. Dieser stilisierte Auftritt glücklicher Polygamisten ist schöner als jede Wirklichkeit, vor allem aber widerspricht er dem gesellschaftlich vorherrschenden Bild von Polygamie (zumindest in der US-ameri­kanischen Religionslandschaft) als repressives, patriarchales System, in dem Frauen nicht viel mehr sind als Gebärmaschinen oder sex toys für durchgeknallte Sektenführer.
Erst vor kurzem kam es auf einer texanischen Ranch, die von Anhängern der »Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter Day Saints« (FLDS) bewohnt wird, zu einem Aufsehen er­regenden Großeinsatz. Anlass war der Notruf eines 16jährigen Mädchens, das mit einem 50-jährigen Mann verheiratet war und von Misshandlungen erzählte. Die radikalfundamentalistische Untergruppe, die aus dem Mormonentum entstanden ist, praktiziert noch immer die Polygamie, die von der Hauptkirche schon Ende des vorletzten Jahrhunderts abgeschafft wurde. In der HBO-Serie »Big Love« heißt die an die FLDS angelehnte fiktionale Gruppierung »United Effort Brotherhood« (UEB).
Den Nachrichten von Zwangsehen mit Minder­jährigen, sexuellen Übergriffen und Machtmiss­brauch setzt »Big Love« ein vorurteilsfreies Portrait einer »modernen« polygamen Gemeinschaft entgegen, die auf den ersten Blick dem klassischen Bild einer amerikanischen Mittelklassefamilie entspricht. Bill (Bill Paxton), ein Unternehmer, lebt mit seinen drei Frauen Barb, Nicki, Margene (die zweite wird von Chloe Sevigny gespielt) und insgesamt sieben Kindern in drei benachbarten Häusern in einem Vorort von Salt Lake City. Die Aufgabenverteilung wird zwischen den drei Frauen bei einer wöchentlichen Sitzung ausgehandelt, auch für die Nächte mit Bill gibt es klare Vereinbarungen. Nach außen hin ist strenge Geheimhaltung geboten, das bedeutet Lüge und Verstellung bei den außerfamiliären sozialen Kontakten und in der Arbeitswelt, will man nicht als so genannter pliggy denunziert (und kriminalisiert) werden. Aus diesem und vielen anderen Gründen kommt es in »Big Love« zu einer ständigen Überproduk­tion von Chaos.
Dieser trotz allem Ausnahmestatus typisch amerikanischen Suburbia-Welt wird der hermetisch abgeschlossene Kosmos streng fundamentalistischer Mormonen gegenübergestellt, das Leben im compound, einer streng bewachten Enklave, die wie eine Siedlung aus dem vergangenen Jahrhundert anmutet, die Frauen tra­gen knöchellange Röcke und geflochtene Hochsteckfrisuren. Hier hat Roman Grant (Harry Dean Stanton) das Sagen, ein so genann­ter prophet, doch viel eher gleicht er einem Paten. Seine Geschäftsmethoden sind mafiös, und das müssen sie auch sein, denn seine Stellung wird eben­so von der eigenen Familie wie von einer extremistischen Polygamisten-­Gruppe bedroht.
Hauptsächlich geht es in »Big Love« aber um Beziehungen. Um Solidarität und Konkurrenz, Liebe und Eifersucht. Denn natürlich kommt es zwischen den »Sister-wifes«, die sich in einer komplizierten Rangordnung befinden, zu unver­meidlichen Machtkämpfen, wobei der patriarchale Charakter der Beziehungsordnung von den drei Frauen immer wieder kritisch hinterfragt wird. Dass sich in dieser streng reglementierten Ordnung die Gefühlswelt verwirrend gestaltet, kann manchmal zu grotesken Situationen führen. So kommt es etwa zwischen Bill und seiner ersten Frau Barb zu einem ganz plötzlichen und erneuten Aufflammen ihrer Liebe. Die beiden beginnen eine Affäre, treffen sich heimlich im Hotel, beenden dann aber das Verhältnis, um die Familie nicht zu zerstören.
»Big Love« ist weit mehr als ein Trip in abseitiges Terrain amerikanischer Kultur und Reli­gions­geschichte. Denn die Art und Weise, wie Polygamie verhandelt wird, ist nicht zuletzt ein Statement für alternative Beziehungsmodelle bzw. Formen des ehelichen Zusammenlebens jenseits der traditionellen Kleinfamilie und der seriellen Monogamie. Im Grunde praktizieren die Henricksons nichts anderes als eine straff durchorganisierte Form der Promiskuität. In einer Szene fordert einer der Polygamisten-Führer die gesetzliche Anerkennung ihrer Privatrechte. »We’re just like homosexuals«, erklärt er seinen leicht schockierten Frauen.