Gepiercte Prediger und Jesus Freaks in Jugend-Freikirchen

Gott ist krass

Spaßchristen auf dem Vormarsch! Immer mehr junge Leute finden sonntäglich ihren Weg in Berlins Freikirchen. Gott und Coolness, Marx und Jesus, Party und Mission. Wer darin keinen Widerspruch sieht, ist vielleicht bei der International Christian Fellowship oder den Jesus Freaks gut aufgehoben.

Sonntagmorgen, die Musik beginnt, der Kopf bebt. Laute Actionfilm-Musik läuft zu einem Kurzfilm in Schwarzweiß, der die unterschiedlichsten Orte in Berlin in rasanten Schnittfolgen zeigt. Danach gehen bunte Scheinwerfer an. Umrisse der Rücken und Köpfe von rund 100 Menschen, die sich von ihren Sitzplätzen erheben, werden sichtbar. Die Band kommt auf die Bühne und spielt mit Schlagzeug, Gitarre und Keyboard deutschsprachigen Rock. Eine hohe Stimme singt: »Der Erlöser lebt.« Damit das alle mitbekommen, scheint der Text auf einer Leinwand und einem Flatscreen für die hinteren Reihen auf. Der laute Beat verursacht Kopfweh, für ein Rockkonzert ist 11 Uhr vormittags reichlich früh. Das Lied ist zu Ende, niemand applaudiert. Stattdessen setzen sich die Menschen wieder. Der Moderator kommt auf die Bühne: »Genial, dass ihr alle zum Gottesdienst erschienen seid. Wer neu ist, kann sich danach ein Begrüßungsgeschenk beim Ausgang abholen.«
Hier, in einem Mehrzweckraum eines unscheinbaren Wohnhauses im Berliner Stadtteil Steglitz, hat die freikirchliche Gemeinde der International Christian Fellowship (ICF) ihren Sitz. Lüftungskanäle ziehen sich unter der unverkleideten Decke entlang, über die Köpfe der gläubigen Besucher hinweg. Direkt über ihnen befinden sich weitere Räume der ICF, die sich mittlerweile auf drei Stock­werke erstreckt. Vor drei Jahren wurde die Freikirche gegründet, rund 200 Personen besuchen jeden Sonntag ihre Gottesdienste. Auch unter der Woche ist die ICF aktiv: Für glaubenswillige Jugendliche gibt es ein Freizeitangebot mit mehreren Treffen, Sommercamps, Schulungen und Seminaren – inklusive Freundeskreis. Sie lockt außerdem mit einem umfangreichen technischen Equipment vom Tonstudio bis zur Theaterbühne. Einzige Voraussetzungen sind der »Glaube an Gott«, die »biblische Grundlage« und die »Integration Gottes im Alltag«, also die Anerkennung der Bibel als Antwort auf alle Probleme. »Gottes Liebe in seinem persönlichen Leben zu erfahren«, oder: »eine persönliche Beziehung mit Jesus Christus aufzubauen, indem wir die Menschen herausfordern, das Gelernte an andere weiterzugeben«, lauten die auf der Homepage erklärten Ziele. Mit anderen Worten: Missionieren ist angesagt.

Die Anhänger der ICF achten sehr darauf, nicht altbacken zu erscheinen. Wichtig sind für ihren Stil moderne Musik, zeitgemäße Sprache, der Gottesdienst als »Event« und die Bibel als »von Gott inspiriertes Wort«. Diese Mischung scheint vor allem für junge Leute attraktiv zu sein, von denen immer mehr ihren Weg in freikirchliche Gemeinden finden und nicht selten beschließen, ihr gesamtes Leben auf sie auszurichten, wie Harald Wenzel vom John F. Kennedy-Institut für Nord­ame­rikastudien erklärt: »Jeden Sonntag gehen in Berlin rund 80 000 Menschen in die Kirche, 40 000 davon in die unterschiedlichsten Freikirchen.«
Das »Lobpreis-Konzert« der Band wird für eine Werbeeinblendung unterbrochen. Erneut ertönt temporeiche Hollywood-Musik, der Blick ist auf die Leinwand gerichtet: Mit »Entdecke deine Potenziale in der Mitarbeit« werben eindringlich große Buchstaben für das Engagement in der Kirche. Währenddessen ruft der Moderator zu Spenden für die ICF auf, ein Blumentopf aus Metall, der mit einer Serviette ausgelegt ist, wird durch die Reihen gegeben. »Diejenigen, die zum ersten Mal hier sind, sollen aber die Kollekte gleich weitergeben und nichts hineintun, das ist uns wichtig«, sagt der Moderator. Der erste Gottesdienst geht also aufs Haus. Dem besonders betonten Hin­weis folgt die nächste Werbeeinblendung auf der Leinwand. Ein fröhlicher Herr und eine fröhliche Dame werben Arm in Arm für einen Paarkurs in »verbindlicher Freundschaft«. Gleich darauf folgt ein Filmausschnitt aus »Bruce allmächtig«: Jim Carrey teilt die Tomatensuppe wie Moses das Meer. Das ist das Zeichen für den Pastor, auf die Bühne zu kommen. »Nasse Füße trotz geteiltem Meer« ist der Titel seiner heutigen Predigt, die rhetorisch bis ins letzte Detail ausgefeilt ist. Joshua, Moses, Gott, Jordan und Israel – danach glaubt man kurze Zeit tatsächlich, durch diese Bibelstelle durchzublicken. In der Predigt wird auch erklärt, wie die »Jobs« von »Gott, dem Leiter, und dem Volk« auszusehen haben. Quintessenz: »Das Volk« habe seinem Leiter und Gott blind zu vertrauen, de facto nicht nachzufragen und gegen die eigene Vernunft und das eigene Gefühl zu handeln, wenn es »der Leiter und Gott« so will.

Stefan Hänsch leitet derzeit die ICF Berlin. Der 35jährige freikirchliche Pastor gründete vor rund drei Jahren gemeinsam mit seiner Frau und zehn Freunden die Gemeinde. »Davor haben wir in Berlin und Brandenburg ganz viele Jugendveranstaltungen organisiert; das waren jedes Mal krasse Events, moderne Musik, zeitgemäße Sprache in der Predigt, also alles, was du dir so wünschst als Jugendlicher«, sagt er stolz. Dieses Pop-Spaß-Jesus-Konzept schien aufzugehen. Und so entstand die neue Berliner Gemeinde der eigentlich Schweizer Kirche ICF, die ursprünglich in den neunziger Jahren in Zürich nach dem Vorbild der Hillsong Church in Australien und anderer Kirchen in Nord­amerika entstanden ist. »Wir haben gesucht, wo weltweit Kirchen modern sind und einen impact auf die Gesellschaft haben«, sagt Hänsch. Die ICF habe deswegen gut gepasst, »weil das in Europa gut läuft«.
Über die Attraktivität dieser Bewegung sagt Wenzel: »Die ICF gehört zu einem Strauß von Freikirchen, die sich auf der ganzen Welt verbreiten.« Ihren Ursprung habe sie in den kirchlichen Awakening-Bewegungen in Nordamerika, in denen es um eine Stärkung des Glaubens im Sinne einer Rückkehr zu den Wurzeln, unter anderem der Bibel, geht. »Außerdem gibt es hier etwas, das bei uns praktisch unbekannt ist, diese Wiedergeburtserlebnisse«, sagt Wenzel. »Gläubige haben Erlebnisse, bei denen Gott ihnen sagt: ›Ändere dein Leben!‹« Ihm selbst sei dies von einem Leiter einer Baptistenkirche einmal so geschildert worden: »Man war Alkoholiker, dann liegt man nachts im Bett und hat eine Erscheinung im Zimmer, ein weißes Licht strahlt auf und man hat ein komisches Gefühl im Körper. Und am nächsten Tag beschließt man, einen neuen Weg einzuschlagen und sich jetzt nicht nur am Leben Christi zu orientieren, sondern auch Prediger zu werden.« Diese Wiedergeburtserlebnisse seien in vielen Kirchen auch keine einmalige Sache: »Eine spirituelle Bewegung versucht, diese Begegnung dauerhaft zu gestalten. Man hat das quasi jeden Tag, man will so leben, dass man im Dauerkontakt zu Gott steht«, so Wenzel. »Spiritualität ist heute eine Möglichkeit der Selbständerung, Therapieersatz, das Umgehen mit der modernen und rationalen Welt.«
Für ihre Missionsarbeit setzt die ICF nicht nur auf Spiritualität, modernes Outfit, Musik und zeitgemäße Sprache. Moderne Kommunikationsformen – Internet, Podcasts und Youtube – sind ebenso sehr wichtig. Auf der eigenen Homepage sind auch mehrere Werbevideos der ICF zu sehen. Die Gestaltung der Homepage suggeriert: Gott ist überall. Kaum ein Satz kommt ohne ihn aus. Und: Alle »lieben« alles. Ständig taucht das Wort »genial« auf. Überhaupt wird transportiert: Die Welt ist eine Leidenschaftskugel, die sich um Gott dreht. Wer sich bei der ICF engagiert, darf sich mitdrehen. Wie Eva Hofsommer, begeistertes Mitglied der ICF, die auch die kircheneigene »Akademie« betreut. »Auf Gott baue ich alles auf, relevante Dinge in meinem Leben kläre ich zuerst mit ihm ab«, sagt sie. Ob die zentrale Stellung der Bibel nicht fundamentalistisch sei? »Nein, denn da spricht die Liebe in mein Leben. Die Bibel ist die Lebenshilfestellung, mein Lebenshandbuch. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gucke ich in die Bibel«, sagt sie.

Szenenwechsel: ein kleiner, lichtdurchfluteter Raum im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Langsam und etwas verspätet trudeln Mädchen und Jungs mit Dreadlocks, Piercings, Converse-Schuhen, Hippie-Ohrringen, Nietengürteln und Skaterschuhen ein. Es geht hier aber nicht um eine Gegenbewegung zur ICF, sondern um einen weiteren Gottesdienst einer Jugendkirche, der am selben Nachmittag stattfindet. Rund 30 Anhänger der »Jesus Freaks« sitzen und liegen am Boden. Der Gottesdienst beginnt. Ein Mädchen sitzt hinter einem Notenpult, improvisiert einige Einstiegssätze und stellt sich als Conny vor. Sie ist heute Sängerin und Gitarristin der Band, die außer ihr noch aus einer Trommlerin und einer Violinistin besteht. In einer musikalischen Mischung aus Funny van Dannen und den Früchten des Zorns singt sie: »It’s all about you, Jesus« – wie ein Mantra klingt das. In einer kurzen Pause sagt sie: »Jesus, es ist so krass, dass ich dich jetzt spüren kann. Ich lass dich nie wieder gehen.«

Die Jesus Freaks stehen in der Tradition der Bewegung der »Jesus People«, die in den sechziger und siebziger Jahren aus der Hippiebewegung entstanden ist. Sie deuteten unter anderem freie Liebe in Nächsten- und Gottesliebe um; auch sonst zeichnen sie sich durch eher konservative Moralvorstellungen aus. In Deutschland machte Martin Dreyer die Jesus Freaks bekannt. Während seiner freikirchlichen Pastorenausbildung in Hamburg soll er einem der Berliner Jesus Freaks zufolge 1991 eine »Gottes­erscheinung« gehabt haben, die ihn von seiner Drogensucht befreit habe und gemeinsam mit Freunden die Jesus Freaks gründen ließ. Auf ihrer Homepage wird die Geschichte so erzählt: »Auf Jesus waren sie abgefahren und wollten ihn unbedingt in Aktion erleben. Der Jesus, den man in der Bibel findet, ist krass. Sie fragten ihn: ›Können wir so sein, wie wir sind, und trotzdem radikal mit dir leben?‹« Was damals angeblich in einem Wohnzimmer in Hamburg begonnen haben soll, verbreitete sich in ganz Deutschland. Hamburg und Berlin sind ihre Zentren, und einmal im Jahr treffen sich beim Freakstock-Festival in Gotha bis zu 4 000 Leute. Gemeinsam feiern und beten sie, die Musik auf drei Bühnen reicht von Techno bis HipHop, von Mainstream-Pop bis Punk. Auch eine Drogenberatung ist an Ort und Stelle. Die Zahl der Anhänger in Deutschland wird auf 2 000 bis 5 000 geschätzt.
An der Verbreitung der Jesus Freaks dürfte die »Volxbibel«, die Martin Dreyer 2005 veröffentlichte, nicht unbeteiligt gewesen sein. Die freie Übersetzung der Bibel soll das Neue Testament in »Jugendsprache« wiedergeben. So wird beispielsweise die Bibelpassage »Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen?« in der »Volxbibel« folgendermaßen übersetzt: »Ihr seid wie Kühlschränke für diese Welt, ohne euch würde alles Gute vergammeln.« Die heilige Schrift erklärt Dreyer durch Bilder von Mopeds, Rollstühlen und McDonald’s. In gedruckter Version kann die »Volxbibel« mittlerweile in etlichen Buchhandlungen gekauft werden. Nach Angaben von Wikipedia liegt die derzeitige Gesamtauflage bei über 100 000 Stück, angeblich fand das Buch Eingang in mehrere Bestsellerlisten. Seit 2006 ist Dreyers Werk als offen zugängliches Wiki im Internet gestaltbar – was exegesetreuen Christen die Haare zu Berge stehen lässt.

Nachdem Conny und ihre Band die Lobpreis-Lieder gesungen haben, ist an diesem Sonntag der 21jährige Ben für die Predigt zuständig. Bei den Jesus Freaks hält sie jede Woche eine andere Person aus der Gruppe. Auf ein paar A4-Bögen hat sich Ben seine Predigt zusammengeschrieben. Aus zwei abgegriffenen Matthäus-Evangelien zitiert er immer wieder Bibelstellen. Manchmal reißt sein roter Faden ab, dann braucht er einige Sekunden, bevor er weiterredet. »Lass dich nicht verarschen, wenn wer versucht, dir etwas einzureden, schau in der Bibel nach«, lautet eine zentrale Aussage seiner Predigt. Und: »Du bist einzigartig und wertvoll.« Auf seinem T-Shirt ist auf dem Hintergrund eines roten Sterns zu lesen: »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Seinen linken Mundwinkel schmückt ein schwarzes rundes Piercing.
»Ich sehe mich als Kommunist, oder Sozialist«, sagt Ben nach dem Gottesdienst. »In meinem Bücherregal steht die christliche Standardliteratur genauso wie Brecht und Marx. Kommunismus für die gerechte Welt hier, Gott für das gerechte Leben nach der Erde.« Zu Sex, Treue und Ehe steht er konservativ: »Es ist ein großes Geschenk, wenn man mit dem Sex bis zur Ehe warten kann.« Schmunzelnd fügt er hinzu: »Ich selbst habe es aber nicht geschafft.« Auch glaubt er, dass Gott »Mann und Frau« für die Ehe erschaffen habe. Dass die Jesus Freaks im Allgemeinen so links seien, wie sie optisch vermuten lassen, verneint Ben. Es gehe um Gott und Jesus, nicht um Politik. Trotzdem habe es schon einige Gottesdienste gegeben, die die Polizei geräumt habe. Auch der Staatsschutz habe mittlerweile ein Auge auf sie geworfen. »Gott ist die einzige Macht, die ich anerkenne. Für mich gibt es zum Beispiel keinen Staat. Außer den endgültigen bei Gott«, sagt er.

Viele dieser neueren Ausformungen des Christentums verwundern auf den ersten Blick. Aber wenn es um Missionierung und Verbreitung der eigenen Religion ging, war nicht selten nur mehr die Bibel heilig. »Weltweit ist das Christentum die am schnellsten wachsende Religion, die größten Zuwächse gibt es auf der Südhalbkugel«, sagt Wenzel. Die Ausbreitung sei aber auch in manchen säkularen Regionen Europas zu beo­bachten. Alle befragten Anhänger der ICF und der Jesus Freaks erklären sich das sogar selbst mit der Suche nach einfachen Antworten in einer komplexen Welt. Wenzel bringt aber eine zusätzliche These ins Spiel: »In ihrem Herkunftsland USA kämpfen die Freikirchen mit immer größer werdenden Problemen, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhängen. Längst können sie mit konservativen Haltungen wie der Ablehnung der Scheidung nicht mehr punkten.« Daher seien die Freikirchen in den USA auf dem Rückzug. »Und da ist Missionierung das Erfolgserlebnis, das die eigenen Probleme kompensieren soll.«