Das linksintellektuelle New Yorker Magazin n+1

Keine Kompromisse mehr

Als die erste Ausgabe des Magazins n+1 ­erschien, jubelte die New Yorker Intellek­tuellenszene. Dieses Heft hatte gerade noch gefehlt. In knappen Worten wurden der Fitnesswahn in seine Einzelteile zerlegt, die Selbstversklavung des Handy-Users angeprangert und George W. Bush für die Krise der Philosophie verantwortlich gemacht. Die Herausgeber um den Bestsellerautor Benjamin Kunkel lieben es ironisch und meinen es dennoch ernst. n+1 stellt sich in die Tradition der großen, linksintellektuellen US-Zeitschriften. Die Anthologie »Ein Schritt weiter« versammelt die besten Beiträge aus den ersten fünf Nummern in deutscher Übersetzung.

Eine Jugend in den frühen Neunzigern bestand oft aus den Komponenten Instrument lernen und mit Schul­freun­den eine Postpunk- oder Grunge­band gründen. Wichtig waren die musikalischen Referenzen und vor allem das Durchscheinen von etwas Besonderem, schließlich wollte man sich von den Bands unterscheiden, die zuvor die Bühne des Jugendzentrums gerockt hatten.
Diese Sehnsucht nach dem Anderen kann man als Positionierung in einem allgemeinen »Wir-Gefühl« bezeichnen oder kurz Haltung nennen. Nach dieser mühsam erarbeiteten hedonistischen Phase setzt der schmerzhafte Prozess der Desillusionierung ein, spätestens dann, wenn im Bewerbungsschreiben der Punkt »Motivation« zur Sprache kommen soll.
Solche Erfahrungen sammelten auch die Studienfreunde und Harvard-Absolventen Keith Gessen, Mark Greif, Benjamin Kunkel und Marco Roth, als sie begannen, Literaturrezensionen für große amerikanische Zeitungen zu schreiben. Ihre klugen Interpretationen, komplexen Analysen und das umfangreiche Wissen in Kritischer Theorie und Poststrukturalismus interessierte aber so ziemlich niemanden. Stattdessen mussten sie ihre Texte in die Agenda des Literaturbetriebs einpassen, formatgerechte Arbeiten abliefern und sich auf die Interview-Angebote der PR-Agenturen beschränken.
Gesprengt wurde die Frustrationstoleranz der vier Autoren jedoch vor allem durch Redakteure, die den eigenen Lesebetrieb in den fünfziger Jahren eingestellt hatten, oder beispielsweise durch James Wood, Chefkritiker des New Yorker, der W.G. Sebald als revolutionären Autor feierte, weil er erstmals seit Beckett die Grenzen des realistischen Romans erweitert habe. Capote, Pynchon, Bernhard und hundert bessere Beispiele waren ihm wohl entgangen. Gessen, Greif, Kunkel und Roth kompensierten den schockierenden Berufsalltag nicht mit der Gründung einer Punkband, was mit Anfang Dreißig vermut­lich keine echte Alternative mehr ist, sondern beendeten die Zeit der Kompromisse, als sie im Herbst 2004 mit durchaus punkiger Attitüde die Zeitschrift n+1 gründeten, die seitdem zweimal jährlich in einer sehr überschaubaren Auflage erscheint. Unter dem treffenden Titel »Ein Schritt weiter. Die n+1-Anthologie« hat der Suhrkamp-Verlag nun die besten Essays der ersten fünf Ausgaben in deutscher Übersetzung herausgebracht. Beschleunigt wurde diese Entscheidung sicher nicht nur durch berühmte n+1-Fans, wie Jonathan Franzen und Barbara Epstein, sondern auch durch den Erfolg von Kunkels Debüt­roman »Indecision« (2005), der von der New Yorker Presse mit dem fast schon reflexartig für Nachwuchsautoren verwendeten Salinger-Vergleich geadelt wurde.
Die Eliteausbildung der Herausgeber, ihre Kritik am Literaturbetrieb und der konsequente »Wir«-Modus, der im Intro von n+1 und bei Interviews von den Autoren durchgehalten wird, könnten, zumindest entfernt, beim deutschsprachigen Publikum Erinnerungen an »Tristesse Royale« wachrufen. 1999 gab ein Dandy-Kollektiv um Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre diesen Höhe- und Tiefpunkt der deutschen Popliteratur heraus. Im gediegen-distinguierten Ambiente des Berliner Hotels Adlon wurde der Themenkomplex Markenwelt und Selbstfindung inszeniert, die Provokationen und Gesten wurden sorgfältig eingebettet in das ironische Verweissystem einer hyperästhetisierten Popkultur. Das Projekt ist sicher nicht nur daran gescheitert, dass sich die Begriffe Dandy und Kollektiv wechselseitig ausschließen. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der New Economy lagen Kracht und seine Freunde mit ihrem an Bret Easton Ellis orientierten Fetischbegriff der Ware ganz weit neben dem gesellschaftlichen Lebensgefühl.
Zwischen »Tristesse Royale« und n+1 liegen nur unfassbare fünf Jahre, sehr viel größer könnten die Unterschiede jedoch kaum ausfallen. Die Zeit ist schlichtweg heute eine andere, und was bei »Tristesse Royale« nicht mehr als Geplapper war, ist bei n+1 smarte Intellektualität. Die Redaktion der amerikanischen Zeitschrift befindet sich in der Lower Eastside, ganz in der Nähe des inzwischen abgewickelten CBGBs, des Clubs, in dem die Ramones und Patti Smith Punk erfanden. Die Herausgeber machen zwar einen sehr smarten Eindruck, bezeichnen sich aber als »angry«, positionieren sich links und kokettieren mit dem Begriff »Sozialismus«, der im Amerika von George W. Bush sicher nicht seine schockierende Wirkung verfehlt. Arrogantes Verhalten lehnen sie ab, falsche Bescheidenheit ist aber auch nicht ihr Ding. Als Vorbild für n+1 nennen sie die Partisan Review, das Vorwort trägt den Titel »Zur intellektuellen Lage«, jede Ausgabe hat ein großes Thema wie »Glück« oder »Entzivilisierung«, hier werden also keine Kleinigkeiten verhandelt, aber für das Leichte gibt es schließlich Lifestyle-Magazine.
Die Texte sind kompliziert, dicht, analytisch klar, gleichzeitig auch ironisch, witzig – so nebenbei ganz flüchtig lassen sie sich nicht lesen. Die Autoren machen keine methodischen Unterschiede zwischen Alltagsphänomenen, Literatur und politischen Themen – Foucault, Barthes, Derrida laufen immer mit, das Setting ist vor allem bei Greif und Roth an die eigene Biographie gekoppelt. Keine schlechte Strategie, hier geht es nicht um Selbstfindung, sondern um Selbstvergewisserung oder Lebensgefühl, und der Leser kann das Spiel mitspielen und sich fragen, wie war das eigentlich bei mir, wo bin ich gerade angekommen und wie geht’s jetzt weiter. In solchen Momenten funktioniert dieser obsessive Gebrauch von »wir«, zwischendurch wehrt man sich aber schon dagegen, ständig als Angehöriger einer Bewegung angesprochen zu werden.
Großartig sind die Artikel, wenn es um Ablehnung geht, Mark Greifs Abrechnung mit dem Fitnesswahn, »Gegen das Training«, wurde gleich mit in die Anthologie »The Best American Essays 2005« aufgenommen. Schwieriger gestaltet sich die Sache mit dem offensiv geforderten politischen Aktionismus, letztlich fällt den theoretisch avancierten Verfassern dazu relativ wenig ein. Eine Ausnahme ist die Geschichte vom Aktionär, der zum tortewerfenden Aktio­närs­aktivisten wird, als er feststellt, dass sein Portfolio keinesfalls mit seiner Mitgliedschaft bei den »United Students Against Sweatshops« vereinbar ist.
Die fünfte Ausgabe von n+1 führte vor allem beim jüngeren Teil der treuen Lesergemeinde zu Protesten, weil E-Mail, Handy und Blog in den »Prozess der Entzivilisierung« eingeordnet wurden, mit einer brüsken Überleitung zum Problem Netzpornographie: »Zu den schmerzhaften postindustriellen Zivilisationsleiden wie Karpaltunnel-Syndrom, RSI-Syndrom oder Augenüberlastung gesellt sich der Masturbationsdaumen.« Die Blog-Argumentation der Herausgeber ist allerdings interessant, neben dem Hinweis, dass Blogs oft hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, werden Lit-Blogger als Marketing-Avantgarde des 21. Jahrhunderts bezeichnet, die vor allem unbezahlte Arbeit leisten. n+1-Autoren selbst schreiben übrigens für die Zeitungen und Magazine, gegen die sie gleichzeitig antreten, wegen der Miete. Hoffen wir mal, dass das keine größeren Auswirkungen auf ihre Haltung hat.

Benjamin Kunkel / Keith Gessen: Ein Schritt weiter. Die n+1-Anthologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, 293 Seiten, 12 Euro