Die Eskalation der Gewalt in Sachsen-Anhalt

Abenteuer Alltag

Die alltägliche Gewalt, die von Nazicliquen ausgeht, gipfelte in den vergangenen Wochen in zwei Morden in Sachsen-Anhalt. Doch die politische Motivation der Nazis gilt offiziell wieder mal als unsicher.

Zwei Tötungsdelikte innerhalb von acht Tagen, vorbestrafte Neonazis als Tatverdächtige und eine schweigende politische Öffentlichkeit musste Sachsen Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer in der vergangenen Woche rechtfertigen. Allerdings erst, nachdem der Spiegel über die politische Identität der Mörder berichtet hatte.

In beiden Mordfällen, der an dem Kunststudenten Rick L. in Magdeburg am 17. August und der an Marcel B. am 24. August im nahe gelegenen Bernburg, blieb in der Öffentlichkeit die Frage offen, ob die Tat politisch motiviert sei. In beiden Mordfällen sind die Täter aber der Polizei bekannte Nazis. Die Opfer allerdings wurden offenbar nicht eindeutig aufgrund ihrer »politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung« ermordet.
Denn weder waren Marcel B. und Rick L. Ausländer noch sichtbar Linke, sondern so genannte »leichte Opfer«, wie Heike Kleffner vom Magdeburger Verein »miteinander e.V.« sagt.
Der 18jährige Marcel W. wurde, von zahlreichen Messerstichen tödlich verletzt, in der Wohnung des Nazis David B. aufgefunden. Bereits im November 2007 soll dieser Marcel W. brutal attackiert haben. Zu dieser Zeit war B. zur Bewährung auf freiem Fuß, für eine Haftstrafe, zu der er vom Amtsgericht Bernburg wegen mehreren Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt worden war. Marcel W. sollte vor Gericht gegen ihn aussagen, doch aus Angst erschien er nicht vor Gericht.
Rick L. hingegen wurde in der Nähe der Diskothek »Fun Park« ermordet. Dort sei es zum Streit gekommen, bei dem Rick L. seinen späteren Mörder als Nazi bezeichnet haben soll. Dem Obduktionsbericht zufolge war Rick L. brutal zusammengeschlagen worden und an seinem eigenen Blut erstickt. Die Polizei stellte an der Bekleidung des festgenommenen Verdächtigen »DNA-fähiges Material« fest und gab an, der Mann sei als vorbestrafter Neonazi bekannt.
Doch selbst Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad möchte nicht über die Hintergründe der Morde reden. Die Erörterung der Vorstrafen von Tatverdächtigen gehöre nicht in Verlautbarungen an die Öffentlichkeit, sondern erst in die Anklageschrift, sagte er vergangene Woche der Magdeburger Volksstimme.

Seit den gewalttätigen Übergriffen von »Anti-Imps« auf israelsolidarische Antifas gibt es in Mag­deburg keine funktionierenden antifaschistischen Strukturen. Nur das zivilgesellschaftliche »Bündnis gegen Rechts« mobilisiert derzeit zu Aktionen wie dem Stadtteilfest mit dem Motto »Schöner Leben Ohne Nazinachbarn«, mit denen gegen ein Nazizentrum protestiert wird. Erst der Bericht des Spiegel brachte das Bündnis dazu, am 6. September eine Protestkundgebung zu organisieren. Etwa 200 Menschen trafen sich in der Magdeburger Innenstadt. Gründe, um gegen Nazigewalt zu protestieren, hat es in Magdeburg in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben, doch nur wenig regte sich.
Bereits im Februar 2006 hatte Bastian O. an einer Straßenbahnhaltestelle einen Mann aus Togo angegriffen und seinen Kampfhund auf ihn losgelassen. »Neger, was willst du hier in Deutschland?« hatte er den Mann angepöbelt. »Das geht mir hier alles am Arsch vorbei«, sagte er im Gerichtssaal bei seiner Verhandlung. Im Februar dieses Jahres war Bastian O. aus der Haft entlassen worden. Vor zwei Wochen wurde Bastian O. erneut festgenommen. Er ist dringend verdächtig, den Kunststudenten Rick L. ermordet zu haben.
Bastian O. komme aus dem »Spektrum fester, rechtsextremer Cliquen aus dem Magdeburger Stadtteil Reform«, sagt Heike Kleffner. Cliquen, die sich auch beim Fußball und auf Freefight-Veranstaltungen treffen. Man brauche kein Parteibuch mehr, »Cliquen reichen als Sozialisationsorte und Ausgangspunkte für brutale Gewalt«, so Kleffner.
Die Brutalisierung der Naziszene zeigt sich innerhalb von Organisationen wie den »Autonomen Nationalisten«, aber gerade auch in solchen Nazicliquen, wie es sie in Bernburg und Magdeburg gibt. Sie sind diejenigen, die die so genannten national befreiten Zonen beherrschen, in denen das Recht des Stärkeren gilt.

Liest man den Text der Hallenser Gruppe »Materialien zur Aufklärung und Kritik« aus dem vergangenen Jahr, findet man dort die treffende Beschreibung für das, was sich derzeit rund um Magdeburg entwickelt. Der in dem Leipziger Magazin Cee Ieh abgedruckte Text über die »schlechte Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft« besagt unter anderem: »Die Tendenz der nachbürgerlichen Zustände ist die Totalisierung der Racket-Herrschaft.« Nicht mehr freie Marktsubjekte stünden einander in diesen Verhältnissen gegenüber, sondern Staatsangehörige, die um Staatszuwendungen wetteiferten. »In dem Maß, in dem sich die Menschen in staatsunmittelbare Soldaten der Arbeit verwandeln, verschwindet der bourgeois, der Marktbürger, zugunsten des Staatsbürgers, des citoyen.« Klassenunterschiede würden sich in dieser Staatsunmittelbarkeit auflösen.
Allerdings ist die Basis des citoyen, des aktiv und eigenverantwortlich am öffentlichen Leben teilnehmenden Bürgers, recht schmal. In keinem anderen Bundesland ist die Zahl der Nichtwähler so hoch wie in Sachsen-Anhalt. Viele Menschen sehen hier keine ökonomische Chance mehr für sich und packen ihre Koffer. Wer kann, macht es wie Rick L. und verlässt die Gegend nach dem Abschluss der Schule. Auch die aus Magdeburg kommende Band Tokio Hotel spielt aus verständlichen Gründen lieber in San Francisco oder Paris als im »Fun Park« in Magdeburg.
Wer bleiben will, muss etwas anderes präsentieren, und zwar aggressive Bodenhaftung, so wie Olaf Bernhard, dessen Imbissbude »Curry 54« in der Magdeburger Altstadt zum Sieger um den Titel »Beste Currywurschtbude Deutschlands« gekürt wurde. Er trägt gerne T-Shirts mit dem Frakturschriftzug »Dönerjäger«. Ab 29. September will der Sender Kabel Eins zwei Wochen lang täglich im Vorabendprogramm mit »Live-Schalte« aus dem kleinen Imbiss senden. Einige Seiten hinter dem Bericht über die Toten in Sachsen-Anhalt beschreibt Bernhard dem Spiegel seine Ideen. »Die Currywurst ist klassenlos. In unseren Laden kommen Leute aus allen Schichten, vom Straßenkehrer bis zum Minister.« Das werde nie langweilig. »Aber man muss das mögen. Wer da im fettigen T-Shirt steht und genervt die Wurst rüberreicht, der ist falsch.« Von Kabel Eins will er für seine Auftritte kein Geld. »Wer das für Geld machen wollte, ist auf der falschen Spur. Dann würde ich eine Rolle spielen, für die ich eine Gage bekomme, und würde mich anstrengen, besonders witzig zu sein oder so. Aber dann hätte das mit Alltag ja nichts mehr zu tun.«
Ein Deutscher sei ein Mensch, der nur lügen könne, wenn er es selbst glaubt, hat Adorno einmal geschrieben. Bei »Abenteuer Alltag – Imbiss live« ist dies ab demnächst zu besichtigen. Von den beiden Toten der letzten Wochenenden wird bei Majo und Ketchup wohl nicht die Rede sein.

Geändert: 11.9.2008