Geocaching, Schatzsuche mit GPS-Empfänger

Happy Hunting

Geocaching ist die modernisierte Variante der Schnitzeljagd. Unser Autor hat sich mit einem GPS-Empfänger bewaffnet und ist in Hamburg auf Schatzsuche gegangen

Zwei erwachsene Männer krabbeln am helllichten Tag mitten in Hamburg an der sechsspurigen Willy-Brandt-Straße im Dreck herum. An einer heruntergekommenen Brücke scheinen sie irgendetwas zu suchen, blicken dabei mit ernsten Mienen immer wieder auf ein handyartiges Gerät. In etwa so, wie das die Besatzung vom Raumschiff Enterprise macht, wenn sie auf einem fremden Planeten Messungen durchführt. Aber diese beiden Typen hier haben mit Captain Kirk nichts zu tun. Sie sind auch nicht im Auftrag des Katasteramts unterwegs. Sie machen eine Geocaching-Tour, und einer von ihnen bin ich.
Geocaching? Was ist das denn? Genau das habe ich mich neulich auch gefragt. Da funktionierte mein Internetzugang plötzlich nicht mehr, und ich bat den einzig kompetenten PC-Fachmann in meinem Freundeskreis um Hilfe. Seine Antwort: »Kein Problem, ich komm’ heute sowieso beim Geocaching an deinem Büro vorbei.« Ich dachte, das ist vielleicht so eine Art Nerd-Witz, den ich nicht verstehe, aber nur ein paar Tage später saßen wir zwecks Planung einer Geocaching-Tour gemeinsam vorm Computer. Und spätestens jetzt ist es wohl an der Zeit, zu erklären, was das eigentlich ist, Geocaching. Das Grundprinzip geht so: Jemand versteckt an irgendeinem Ort eine Art Schatz (einen »Cache«), ermittelt mit einem Global-Positioning-Service (GPS)-Gerät die Koordinaten des Verstecks (Längen- und Breitengrad) und veröffentlicht sie im Internet. Wer das Versteck finden will, lädt sich die Daten aus dem Internet auf einen GPS-Empfänger und begibt sich auf die Suche.
Möglich ist diese Spielerei, weil die durch Satelliten übertragenen GPS-Daten seit dem Jahr 2000 nicht mehr verschlüsselt werden. Vorher bekam jeder, der nicht zufällig in leitender Funktion beim US-Militär tätig war, Koordinaten mit einer Abweichung von mindestens 100 Metern geliefert. Entwickelt wurde das satellitengestützte Ortungssystem GPS ab 1973 vom amerikanischen Verteidigungsministerium, 1995 kam es erstmals vollständig zum Einsatz. Damit militärische Gegner die Daten nicht nutzen konnten, wurde eine Selective Availability eingeführt: Die korrekten Daten konnte nur erfassen, wer den täglich erneuerten Schlüssel kannte. Eine Reihe von Gründen führte dazu, dass die Selective Availability im Jahr 2000 abgeschaltet wurde. Zum einen war das US-Militär mittlerweile in der Lage, eine Datenverschlüsselung für lokal begrenzte Gebiete vorzunehmen. Außerdem hatten sich die Hersteller ziviler GPS-Systeme zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Die amerikanischen Unternehmen fürchteten die Konkurrenz des europäischen Satellitennavigations-Projekts Galileo und drängten auf freie Verfügbarkeit der exakten Daten. Am 1. Mai 2000 tat US-Präsident Bill Clinton ihnen diesen Gefallen.
Zwei Tage später wurde das Geocaching erfunden. Es war der Amerikaner Dave Ulmer, der am 3. Mai irgendwo im US-Bundesstaat Oregon eine Kiste vergrub und die Koordinaten in einer Newsgroup veröffentlichte. In seine Kiste packte er unter anderem einen Kassettenrekorder und eine Dose Bohnen.
Ausgehend von diesem Grundmodell hat die Geocacher-Szene über die Jahre eine ganze Reihe von unterschiedlichen Cache-Typen mit unterschiedlichen Inhalten entwickelt. Die drei wichtigsten sind:
1. Der Traditional Cache: Die Position des Caches ist exakt im Internet angegeben.
2. Der Multicache: Es müssen ein paar Stationen abgeklappert werden, bevor man an den eigentlichen Cache gelangt.
3. Der Mysterycache: Um den Startpunkt der Suche finden zu können, muss zunächst ein Rätsel gelöst werden.
Der Inhalt der Caches unterscheidet sich von Fall zu Fall. Grundsätzlich befindet sich in den Caches immer ein so genanntes Logbuch, in das sich der Finder mit Datum und Uhrzeit einträgt. Manchmal liegen auch Kleinigkeiten wie Stifte, Radiergummis, Hefte in den Caches. In solchen Fällen sind die Finder aufgefordert, Dinge zu tauschen, wobei die getauschten Gegenstände den gleichen oder einen höheren Wert haben sollten.
Um für meine erste Tour in Hamburg ein paar geeignete Caches zu finden, nutzen wir die für solche Zwecke wichtigste Website ­geocaching.com, auf der mein Bekannter bereits unter dem Nickname Knorpel registriert ist. Die Suche in unserem Postleitzahlenbereich ergibt 50 Caches in einem Umkreis von ca. drei Kilometern. Da gibt es zum Beispiel einen, bei dem Wanderschuhe empfohlen werden, bei einem anderen müssten wir irgendwo hochklettern, und noch einer liegt der Anzeige zufolge sogar in der Alster. Das muss ja alles nicht sein, wir entscheiden uns für drei unkompliziert zugängliche Caches, alle in der Nähe des Hamburger Hafens. Die Suche nach Caches ist je nach Güte des GPS-Geräts einigermaßen komfortabel oder total nervig. Die richtig guten Geräte haben nämlich ein schön großes, farbiges Display, das an Auto-Navigationssysteme erinnert, die einfacheren Versionen bieten nur ein Schwarz-Weiß-Display mit einer ungenauen Umgebungsanzeige. Unseres ist ganz okay und bringt uns in die Nähe des ersten Caches. Er soll sich bei der Ruine der Sankt-Nikolai-Kirche befinden. Der Eintrag bei geocaching.com verspricht den Findern einen »schönen Panoramablick in alle Richtungen«.
20 Meter von der vermuteten Fundstelle entfernt, wird Knorpel plötzlich merkwürdig geheimnistuerisch: »Wir müssen uns jetzt unauffällig verhalten, damit die Muggels nichts merken.« Muggels – mit diesem Harry-Potter-Begriff werden in der Szene Leute bezeichnet, die sich in der Nähe der Caches aufhalten, aber keine Geo­cacher sind. Plausibler und in der Praxis bewiesener Grund für die Muggel-Paranoia: Wenn Geocacher einen Schatz bergen, packen sie ihn wieder zurück, damit der Nächste auch noch was von ihm hat. Wenn Nicht-Geocacher einen Schatz bergen, nehmen sie ihn mit. Deshalb sollte die Suche möglichst unauffällig verlaufen. Doch wie unauffällig kann man am Sonntagnachmittag an der viel befahrenen Willy-Brandt-Straße nach etwas suchen? Vor allem müssen wir im Dreck herumrobben, und jeder, wirklich jeder, der vorbeikommt, guckt uns an, als ob wir nicht ganz dicht sind. Dieser blöde GPS-Empfänger gibt plötzlich auch widersprüchliche Signale von sich. Nach knapp 15 Minuten sind wir erfolgreich! Wir finden eine kleine Plastikdose, die mit einem Magneten an der Brücke befestigt ist. In ihm befindet sich das Logbuch, in dem Knorpel sich verewigt. Und der Panoramablick? Naja, begeistert sind wir nicht gerade.
Mit dreckigen Klamotten geht’s zum nächsten Cache. Diesmal sehen wir ihn sofort. Die Idee ist genial: Eine hauchdünne Magnetplatte drückt das Logbuch an die Unterseite einer Informationstafel für Touristen, die vis-à-vis der schönen und beliebten Speicherstadt aufgestellt ist. Wer aufmerksam gelesen hat, ahnt das Problem: Die Muggeldichte ist enorm. Wir müssen warten. Touristenmassen ziehen vorbei, immer wieder bleiben einige von ihnen stehen und lesen interessiert den museumsdidaktisch korrekt aufbereiteten Text: »Von 1531 bis 1852 schützte eine Balkensperre die Einfahrt in die Hafenanlagen. Durch die technischen und strukturellen Veränderungen im Hafen, vor allem durch die Einführung des Containerumschlags seit den späten sechziger Jahren, wurde der wirtschaftliche Veränderungsdruck auf die Speicherstadt immer größer … «
Es dauert ewig. Die Nerven liegen blank: »Was für Arschlöcher!« raunt Knorpel, als zwei Touristen stehen bleiben und sich Kaffee aus der Thermoskanne einschenken. Dann kommen sie! Wir erkennen sie auf hundert Meter Entfernung: ein Geocacher-Pärchen, das an denselben Cache will wie wir. »Happy Hunting!« rufen wir, das haben wir irgendwo so gelesen. Und während wir eine Ewigkeit auf eine muggelfreie Phase warten, verwickle ich Knorpel und das Paar aus Uelzen in eine Art Diskussionsrunde, bei der ich kritische Fragen stelle wie: »Was macht euch an diesem Hobby so viel Spaß?« Die Uelzener meinen: »Das ist so eine spannendere Art von Reiseführer für uns. Man wird an Orte gelockt, die man sonst nie kennen lernen würde. Am besten hat uns bis jetzt eine stillgelegte Eisenbahnanlage in Buchholz gefallen. Ein anderes Mal mussten wir in ein leer stehendes Haus irgendwo im Wald einsteigen – das war schon sehr unheimlich.«
Knorpel ergänzt: »Man macht sich mit seiner Umgebung vertraut, kommt ein bisschen rum und lernt was dabei. Außerdem ist es vielleicht ganz gut, dass man sich mal ein bisschen an der frischen Luft aufhält. Ohne einen guten Grund würde ich ja nicht spazieren gehen oder so.« Allen dreien gefällt, dass es keine Ranglisten oder Meisterschaften gibt, sondern dass der Spaß im Vordergrund steht. Knorpel deckt aber auch die Schattenseiten seiner Freizeitbeschäftigung auf: »Es kann ganz schön frustrierend sein, wenn man das Scheißding nicht findet.«
Wie frustrierend, das erlebe ich dann bei unserer dritten und letzten Station. Der Weg führt uns in die HafenCity. Jedes Wochenende besuchen Massen von Touristen und Hamburgern dieses größte städtebauliche Projekt Europas und gucken sich dort Häuser an, in denen sie wegen der hohen Mieten niemals werden wohnen können. Sie sollten sich trösten, denn die Nachbarschaft dort muss bereits jetzt die Hölle sein, wie ein Blick auf die Ergebnisse der Bürgerschaftswahl 2008 verrät. 398 Wähler gaben in der HafenCity ihre Stimmen ab, davon entfielen 61,6 Prozent auf die CDU. Unsere Abneigung gegen dieses Vorzeigeviertel steigt von Minute zu Minute, weil wir den Cache einfach nicht finden. Nach der GPS-Anzeige müsste er sich bei einer Baustelle befinden, auf der wir aber nichts finden außer einem alten Arbeitshandschuh, einer leeren Erdnussdose, Zigarettenschachteln und anderem Müll. Es ist uns peinlich, unter den irritier­ten Blicken der Muggels an einer alten Schranke herumzutasten und eine alte Holzkiste abzusuchen. Nach einer Stunde geben wir auf. Gedemütigt und von jeglicher Hoffnung verlassen.
Wir nehmen es dennoch einigermaßen locker, denn das Scheitern hat wohl jeder Geocacher schon erlebt: Circa 10 000 von ihnen gibt es Schätzungen zufolge zurzeit in Deutschland. Etwa 40 000 Geocaches sind hierzulande versteckt, die meisten in Hamburg und Berlin, dank eines Preisrückgangs bei den GPS-Geräten steigt die Zahl der Geocacher seit Anfang dieses Jahres. Ist das nun gut oder schlecht? Ich wage eine Prognose: Lange wird es nicht mehr dauern, bis diese eher amateurhaft organisierte Beschäftigung ihre sympathische Harmlosigkeit verliert und Geocacher jedem vernünftigen Menschen auf die Nerven gehen. Schon haben die ersten Tourismusgesellschaften die Vorzüge dieses Hobbys entdeckt und bieten eigens gestaltete Geocaching-Touren an oder bauen bereits bestehende Angebote massiv aus. So geschehen etwa im Schwarzwald, in Thüringen und an der Küste Schleswig-Holsteins. Bis sich aber die netten Geocacher in »diese ätzenden GPS-Nerven­sägen« verwandelt haben, die einem überall die Laune verderben, empfehle ich jedem, mal eine kleine Tour zu unternehmen. Macht schon irgendwie Spaß.