Komm und töte ihn!
Ungeachtet aller spezifischen Differenzen zwischen verschiedenen Bewegungen des islamischen Fundamentalismus und Integralismus ist es möglich, über eine gemeinsame ideologische Plattform zu sprechen, die sich vor allem in der strikten Ablehnung beziehungsweise Feindlichkeit gegenüber bestimmten politischen oder kulturellen Konzepten verdichtet. Dieses Ressentiment konzentriert sich vordergründig in folgenden Vorstellungen: Antisäkularismus, Antisemitismus, Antiliberalismus, Antikommunismus, Antiamerikanismus, Misogynie und Homophobie.
All diese Ideologeme gründen in einer fundamentalen Ablehnung jeder politischen Ordnung, die auf der Basis einer partizipativen Konstruktion gesellschaftlicher Macht konstruiert und legitimiert wird. Im islamischen Integralismus wird die Legitimation einer politischen Ordnung per definitionem in einer transzendentalen (und keinesfalls in einer gesellschaftlich immanenten) Sphäre der »göttlichen Vorsehung« angesiedelt.
Säkularisierung als ein Prozess, der im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts einsetzt und dessen theoretische Reflexion zu dieser Zeit vor allem der politische Liberalismus darstellt, sieht die Trennung der Sphären der staatlichen Organisierung der Macht und der Religion als herrschaftslegitimierende Instanz vor, aber auch die Emanzipierung des gesellschaftlichen Selbstbewusstseins von den Wertstrukturen jeglicher religiösen Ordnung.
Eine solche Emanzipierung der gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen beziehungsweise der konstitutiven Macht aus dem Schoß der Religion stößt auf grundlegende Ablehnung seitens des islamischen Fundamentalismus, der die gesamtgesellschaftliche Ordnung nur einem Prinzip unterwerfen will: dem Prinzip einer angenommenen »göttlichen Offenbarung«. Jene Offenbarung, die dabei als wortwörtliches Wort Gottes aufgefasst wird, sei die einzige Quelle der Legitimität einer jeden sozialen Ordnung und die einzige Instanz einer konstitutiven Macht. Selbst reformistische Strömungen des politischen Islam, die sich für unterschiedliche Konzepte einer »islamischen Demokratie« aussprechen, führen die angestrebte Ordnung auf diese »göttliche Offenbarung« zurück. Nicht die Demokratie an sich wird als adäquate Form eines politischen Systems betrachtet, sondern im Islam wird nach Grundlagen für Demokratie gesucht, die meist in dem Hinweis auf das Prinzip der Beratung (Shura) hinauslaufen und damit in der Realität zu etwas wie einer Demokratie mit Sharia-Vorbehalt führen. Dies ist neben der Frage der Demokratie auch an der Frage der Menschenrechte gut zu erkennen. So haben 1990 die Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) eine Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam verabschiedet, die damit letztlich die Menschenrechte als universelle Rechte aller Menschen für obsolet erklären und spezifisch »islamische Menschenrechte« formulieren, die alle unter einem Sharia-Vorbehalt stehen. Bereits in der Präambel betonen die islamischen Staaten »die kulturelle und historische Rolle der islamischen Umma, die von Gott als die beste Nation geschaffen wurde und die der Menschheit eine universale und wohlausgewogene Zivilisation gebracht hat, in der zwischen dem Leben hier auf Erden und dem im Jenseits Harmonie besteht und in der Wissen mit Glauben einhergeht« (1).
Die Erklärung, die als kleinster gemeinsamer Nenner der islamischen Staaten und nicht als Dokument finsterer Jihadisten zu lesen ist, hält fest: »Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Sharia« (2), und »die islamische Sharia ist die einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.« (3) Die Mitgliedsstaaten der OIC, der nicht nur Staaten wie Saudi-Arabien oder der Sudan, sondern auch die Türkei, Tunesien und Ägypten angehören und der seit der Verabschiedung der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam auch noch Albanien, Suriname, Guyana, Kasachstan und andere ex-sowjetische Republiken beigetreten sind, stellten damit die Universalität der Menschenrechte in Frage und versuchten eigene Menschenrechte zu kreieren, die dem Islam unterzuordnen wären.
Ganz ähnlich sind die Versuche zu bewerten, spezifisch islamische Formen der Demokratie zu erfinden, die in einem gewissen, als islamisch empfundenen Rahmen demokratische Mitbestimmung erlauben, aber eben genauso wenig Demokratie sind wie die Kairoer Erklärung Menschenrechte.
Dahinter steht die Ablehnung von politischen Konzepten, die konstitutive Macht als eine Kategorie des gesellschaftlichen Konsenses beziehungsweise eine Kategorie der gesellschaftlich immanenten Aushandlung politischer, ökonomischer und ideologischer Interessen auffasst. Auf einer breiten Basis und ungeachtet weiterer spezifischer Differenzen gilt dies sowohl für den politischen Liberalismus, die Aufklärung, die Demokratie, den Kommunismus als auch den Sozialismus.
Obwohl der politische Islam gerne mit den Kritikern der sozialen Ungleichheit in den westlichen, kapitalistisch dominierten Ländern liebäugelt, selbst aber außer eines diffusen Konzepts der Armensteuer (Zakat) in der Theorie und eines politischen Konservativismus und Korruption in der Praxis nichts anderes anzubieten hat, ist eine Allianz mit linken antikapitalistischen Kräften in den betroffenen Gesellschaften nur selten auszumachen. Im Gegenteil: Während manch westlicher »Globalisierungsgegner« von Allianzen mit Ahmadinejad träumt und der linke Londoner Bürgermeister Ken Livingstone 2004 mit Yusuf al-Qaradawi einen islamischen Integralisten zum European Social Forum einlud, der sich ansonsten für die Ermordung von Schwulen einsetzt und Selbstmordattentate als »Märtyreroperationen« bezeichnet, die »die großartigste Form des Jihad« (4) darstellen würden, zählen kommunistische und sozialistische Parteien in den islamischen Staaten selbst zu den härtesten Gegnern des politischen Islam. Letztere wissen einfach besser über die ideologische Basis der verschiedenen Strömungen des islamischen Integralismus Bescheid. Keine Form des politischen Islam beruht auf einer Idee der sozialen Chancengleichheit, die neben Materialismus und Säkularismus eine zentrale Agenda aller historischen linken Bewegungen war und für einen Großteil der antikapitalistischen Bewegungen von heute immer noch ist. Olivier Roy (5) lässt jedoch die Möglichkeit einer kurzfristigen Allianz zwischen bestimmten islamistischen Bewegungen und einer »postmodernen« populistischen Linken für die Zukunft offen. Tatsächlich sind bereits einige Gruppierungen aus dem Bereich des politischen Islam in der Antiglobalisierungsbewegung aktiv. Als dauerhafte Erscheinung hält er dies jedoch für sehr unwahrscheinlich.
In seiner Ablehnung des politischen Liberalismus, welcher historisch nie durch eine scharfe Grenze von einem ökonomischen Liberalismus zu trennen war, verfährt der islamische Fundamentalismus, entgegen eigenen Beteuerungen, äußerst selektiv. Die Aspekte wie die gesellschaftlich immanente Konstitution von Macht und Herrschaft oder individuelle Freiheit werden abgelehnt, Aspekte wie die Teilung der Arbeit oder eine auf dem Reichtum basierende soziale Hierarchie der Macht, die ebenfalls dem Liberalismus eigen sind, werden stillschweigend akzeptiert, aus jedem kritischen Diskurs ausgeblendet beziehungsweise mit dem Rekurs auf eine »ewige göttliche Ordnung« legitimisiert. Der islamische Fundamentalismus ist selektiv antiliberalistisch, aber auf keinen Fall antikapitalistisch. Wo er die politische Macht erringen konnte – wie etwa im Sudan –, war eine zwar islamisch verkleidete, in der Realität jedoch betont neoliberale Wirtschaftspolitik die Folge.
Traditionell bildeten die Juden in der islamischen Welt eine geduldete Minderheit mit dem Status der Schutzbefohlenheit (Dhimma). Dabei wurde ihnen grundsätzlich derselbe Status zuerkannt wie den Christen und anderen Angehörigen der Ahl al-Kitab, der monotheistischen Buchreligionen, die im Gegensatz zu den Polytheisten der arabischen Halbinsel in einer inferioren Stellung geduldet wurden. Sie blieben zwar Untertanen mit minderen Rechten und Pflichten – so blieb ihnen das Waffentragen versagt und der Militärdienst erspart – und mussten mit der Kopfsteuer (Djizya) eine erhöhte Steuerleistung aufbringen. Zwar ist die Darstellung der Christen im Koran tendenziell etwas freundlicher als jene der Juden, dies hat jedoch primär historische Gründe. »Zweifellos«, schreibt Bernard Lewis, der große alte Mann der angloamerikanischen Orientalistik, »liegt es an den friedlichen Beziehungen zwischen dem Propheten und den Christen, dass diese im Koran positiver wegkommen als die Juden.« (6) Tatsächlich lassen sich die massiv antijüdischen Verse im Koran auf konkrete historische Auseinandersetzungen des Propheten mit den jüdischen Stämmen um und in Medina zurückführen, die aus der Nichtanerkennung der Prophetenschaft Mohammeds durch die jüdischen Stämme resultierten. Nachdem Mohammed ursprünglich hoffte, von den Juden Medinas als Prophet anerkannt zu werden, wandte er sich nach der für ihn enttäuschenden Ablehnung immer militanter gegen diese, was schließlich in der Vernichtung dieser Stämme endete.
Es würde hier zu weit führen, den Status der Juden in den einzelnen historischen islamischen Reichen im Detail nachzuzeichnen. Es muss jedoch festgehalten werden, dass es grundsätzlich keine Unterscheidung zwischen der jüdischen Bevölkerung und anderen nichtislamischen Minderheiten gab. Der Islam kennt auch keine Allmachtsfantasien, wie sie im Christentum aus der Überlieferung vom Gottesmord resultieren, da Jesus im Islam nicht als Gott, sondern als Prophet gesehen wird. Außerdem wird die zentrale Heilsbotschaft des Christentums, wonach Jesus stellvertretend für die Sünden der Menschen gestorben wäre, abgelehnt. Für den Großteil der Muslime starb Jesus nicht am Kreuz, sondern schwebte in Lebensgefahr und wurde schließlich von Gott gerettet, indem ein anderer Mann an seiner Stelle gekreuzigt worden sei, den man für Jesus hielt. So lautet zumindest die am weitesten verbreitete Auslegung von Sure 4,156. Damit fällt die gesamte theologische Basis für die aus der Gottesmord-Legende herrührenden Allmachtsfantasien der Christen gegenüber den Juden weg. Die traditionelle islamische Vorstellung vom Juden war damit nicht jene einer verschwörerischen Allmacht, wie sie dem christlichen wie dem modernen Antisemitismus zugrunde liegt, sondern die einer Inferiorität. Juden werden als »Schweine und Affen« beschimpft, aber nicht als Kinder- oder Gottesmörder verfolgt.
Allerdings änderte sich dieser Status im 20. Jahrhundert mit der Übernahme von aus Europa stammenden antisemitischen Projektionen deutlich. Wie der moderne Antisemitismus in Europa hatte auch die Übernahme antisemitischer Weltbilder in der islamischen Welt mit Krisenerscheinungen im Zusammenhang mit der kapitalistischen Moderne zu tun. Der Erklärungsbedarf, der sich aus dem Fortbestand von Herrschaft und Ausbeutung ohne die Existenz der klassischen personalen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse ergab, das Unbegreifliche des Kapitalismus als warenvermitteltes Herrschaftssystem, machte auch die islamische Welt anfällig für Verschwörungstheorien und die Suche nach »der geheimen Macht«, die für die Zumutungen des Kapitalismus verantwortlich zu machen wäre. Verschärfend kam hinzu, dass es sich beim in Ansätzen sich entwickelnden Kapitalismus in der islamischen Welt um einen peripheren Kapitalismus handelte und diese Regionen über den Kolonialismus und Imperialismus in das kapitalistische Weltsystem integriert wurden, also nicht zu den Siegern des neuen Systems gehörten.
Trotzdem gerieten zunächst nicht die Juden in das Fadenkreuz der Angriffe. Zunächst wurden vor allem christliche Minderheiten mit ähnlichen Stereotypen belegt, wie sie der europäische Antisemitismus Juden zuschrieb. Im Osmanischen Reich gerieten vor allem Armenier und Griechen ins Zentrum ressentimentgeladener Angriffe, die sie mit der Moderne, den Kolonialherren, in erster Linie aber mit einem als parasitär begriffenen Händlertum gleichsetzten. Strukturell war dieser Hass, der sich 1915 schließlich im Genozid an den Armeniern des Osmanischen Reiches entlud, dem Antisemitismus verwandt. Und schließlich fokussierten diese Ressentiments auch im Nahen Osten zunehmend auf »den Juden«. Es würde den Rahmen sprengen, dies hier im Detail nachzuzeichnen (7), klar ist jedoch, dass sowohl das partielle Bündnis, das große Teile der arabischen Nationalisten wie des frühen politischen Islam mit Nazideutschland schlossen, als auch die zunehmende Zugänglichkeit europäischer antisemitischer Literatur für arabische und muslimische Intellektuelle zunehmend Jüdinnen und Juden in die Schusslinie dieses Ressentiments geraten ließen. Verschärft wurde dies noch durch den Beginn der jüdischen Siedlungstätigkeit in Palästina, die insbesondere in der arabischen Welt als Bedrohung wahrgenommen wurde. Arabische Nationalisten oder Bewegungen wie die Muslim-Bruderschaft machten keinen Unterschied zwischen den meist aus Europa stammenden Zionisten, die tatsächlich eine »jüdische Heimstatt« in Palästina schufen, und jenen arabischen Jüdinnen und Juden, die seit Jahrhunderten – ja im Falle des Irak seit fast dreitausend Jahren – in der Region lebten und den Zionismus – wenn überhaupt – nur vom Hörensagen kannten.
Eine entscheidende Persönlichkeit für die Integration des modernen Antisemitismus in das Weltbild des politischen Islam bildete der Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini, ein ebenso überzeugter Panarabist wie Verbündeter der Muslim-Bruderschaft, der sich seit der Niederlage im »Palästinensischen Aufstand« von 1936 auf der Flucht befand, 1941 am prodeutschen Militärputsch Rashid Ali al-Gaylanis im Irak teilnahm und schließlich in der nationalsozialistischen Reichshauptstadt Berlin im Exil landete. Im Exilland würdigte man, dass er dafür gesorgt hatte, dass die »zionistischen Pläne in Palästina und der übrigen arabischen Welt genügend bekannt wurden« (8). Dem Exilanten wurden gemeinsam mit anderen Exilarabern beste Arbeitsbedingungen geboten. Mit einem eigenen arabischen Radiodienst und der Hilfe beim Aufbau muslimischer SS-Hilfstruppen sollten die Exilanten um Husseini als Teil der deutschen Propagandamaschinerie funktionieren. Schließlich war längst auch Nordafrika zum Schauplatz des Zweiten Weltkriegs geworden. So rühmten die Nazis den engen »Zusammenhang zwischen der religiösen, nicht allein auf die Araber beschränkten und der national-arabischen Bewegung, der gerade durch die Persönlichkeit Amin al-Husseinis verkörpert wird« (9). Der Mufti setzte sich dabei persönlich dafür ein, dass Jüdinnen und Juden nicht nach Palästina entkommen sollten. Simon Wiesenthal schilderte bereits 1947 die Besuche Husseinis in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Auschwitz und Majdanek, wo er sich den Lagerwachmannschaften vorstellen ließ. Husseini »sprach dabei besonders fähigen SS-Männern seine Anerkennung aus«. (10) Bei Veröffentlichung seiner Schrift hoffte Wiesenthal noch darauf, dass der mittlerweile aus kurzer Gefangenschaft entflohene Mufti noch als Kriegsverbrecher angeklagt werden könnte. Diese Hoffnung sollte sich mit der Rückkehr Husseinis in den Nahen Osten in nichts auflösen. Vielmehr entfaltete er nun eine neue Welle an Aktivitäten, die diesmal aufgrund seiner undiplomatischen Maximalforderungen vor allem für die Palästinenser fatale Auswirkungen hatten.
Mit anderen alten arabischen NS-Seilschaften bildete er den Kern eines neuen Netzwerkes, das es einer ganzen Reihe ehemaliger deutscher Kriegsverbrecher erlaubte, im Nahen Osten unterzutauchen und hier eine rege Aktivität zu entfalten. Der Prominenteste von ihnen ist sicher die rechte Hand Eichmanns, Alois Brunner, der – sollte er nicht mittlerweile doch verstorben sein – bis heute noch in Syrien vermutet wird. Neben Syrien fanden vor allem in Ägypten mehrere hohe NS-Funktionäre Verwendung in Geheimdienst- oder Beraterfunktionen. Deren antisemitische Aktivitäten bestanden, so der deutsche Islamwissenschafter Michael Kiefer, »hauptsächlich in der Wiederholung altbekannter Verschwörungstheorien, die in der arabischen Öffentlichkeit großen Zuspruch fanden, da sie das Scheitern des arabischen Militärs 1948 und 1956 mit einem System von wahnhaften Vorstellungen zu erklären versuchten«. (11) Selbst die Niederlagen gegen Israel wurden so wiederum antisemitisch gedeutet.
Bis in die fünfziger Jahre existierten der Antisemitismus und der politische Islam zwar meist in denselben Bewegungen nebeneinander, waren jedoch noch nicht systematisch ideologisch miteinander verwoben. Erst mit Sayyid Qutbs Schrift »Unser Kampf mit den Juden«, die 1950 veröffentlicht wurde, wurde auch der moderne Antisemitismus systematisch islamisiert. Qutb konstruiert einen zeitlosen Kampf zwischen Juden und Muslimen, der vom Beginn des Islam bis heute reicht, und beeinflusste damit insbesondere den palästinensischen Ableger der Muslim-Bruderschaft, die Hamas (Islamische Widerstandsbewegung), und diverse jihadistische Strömungen des militanten Islamismus. So wird in der heute noch gültigen Hamas-Charta explizit die Vernichtung Israels gefordert und dies mit einem Hadith untermauert: »Der jüngste Tag wird nicht kommen, bevor nicht die Moslems gegen die Juden kämpfen (und die Juden töten) und der Jude sich hinter Steinen und Bäumen verbirgt. Die Steine und Bäume werden sagen: Oh Moslem! Da versteckt sich ein Jude hinter mir, komm und töte ihn.« (12)
Eine zentrale Stellung nimmt der Antisemitismus auch bei international agierenden jihadistischen Gruppen wie al-Qaida ein. In einer Erklärung an die amerikanische Öffentlichkeit erklärte al-Qaida im November 2002 nicht nur, »Wir sind die Nation, die den Tod mehr liebt als ihr das Leben«, sondern versuchte der US-amerikanischen Öffentlichkeit mit einem klassischen antisemitischen Muster der Gleichsetzung von Zinswirtschaft und Judentum zu erklären, dass sie unter Herrschaft der Juden stünde. (13) Während antiimperialistische Linke oft Israel vorwerfen, »US-Vasall« im Nahen Osten zu sein, macht al-Qaida klar, dass die Juden die USA beherrschen: »Es ist doch bekannt, dass eure Politik von wenigen reichen Leuten bestimmt wird, die mit ihrem Geld die ganze Welt beherrschen und eure Wahlkämpfe manipulieren, und dass dahinter die Juden stehen, die eure Politik, eure Medien und eure Wirtschaft in der Hand haben.« (14)
Eng mit dem Antisemitismus ist auch der Antiamerikanismus des politischen Islam verbunden. Auch das Phänomen des Antiamerikanismus ist nicht nur auf den politischen Islam begrenzt. Der Hauptvorwurf aller antiamerikanistischen Bewegungen gilt dem amerikanischen Imperialismus, der schon Mitte des 19. Jahrhunderts (vor allem im karibischen Raum) einsetzt, sich durch das 20. Jahrhundert konsequent weiter entfaltet hat und in manchen Regionen der Erde bis heute eine historische Tatsache darstellt. Die Hauptziele des US-Imperialismus im 20. Jahrhundert waren aber vor allem Süd- und Zentralamerika und Südostasien. Erst nach der ersten Ölkrise 1972 richtete sich das Augenmerk einer imperialistischen Außenpolitik der USA auf die Ölquellen im Mittleren Osten. Doch die USA waren nicht die einzige Macht, die sich durch politische, ökonomische und militärische Strategien eine Dominanz in diesem Raum sichern wollte. Der Imperialismus der ehemaligen UdSSR oder europäischer Staaten wie Frankreich oder Großbritannien spielte in diesem Raum, politisch wie auch militärisch, ebenfalls eine sehr wichtige Rolle.
Ein weiterer Aspekt, der oft für die Erklärung des steigenden Antiamerikanismus in islamischen Regionen der Welt herangezogen wird, ist eine konsequente politisch-ökonomisch-militärische Unterstützung Israels seitens der USA. Jene spielt in den Ressentiments gegenüber Amerika in dieser Region sicher eine sehr wichtige Rolle. Sie alleine vermag aber genauso wenig wie der US-Imperialismus eine überzeugende Antwort auf eine so massive antiamerikanische Haltung unter den populären islamischen Bewegungen zu liefern. Dabei ist erstens festzuhalten, dass die politische und militärische Unterstützung Israels ebenfalls nicht nur durch die USA gegeben war. Die erste militärische Unterstützung Israels kam bekanntlich vonseiten der UdSSR, nicht von den USA. Zweitens ist anzumerken, dass die politischen Eliten der meisten islamischen Staaten mit jenen der verhassten USA durchaus eng kooperieren. Militärische und politische Unterstützung vonseiten der USA gab es nicht nur für Israel, sondern auch für Ägypten, Saudi-Arabien und eine Reihe anderer islamischer Staaten. Entgegen des Huntington’schen Konzeptes eines »clash of civilisations« scheint auf der Achse der politischen und ökonomischen Eliten des Nahen Ostens und der USA geradezu Harmonie zu herrschen. Solange das Ölgeld in die Taschen dieser politischen Eliten fließt, fallen Begriffe wie Imperialismus, Hegemonie oder Kultur erst gar nicht. Antiamerikanische Mobilisierung verdichtet sich von unten, dient aber auch dazu, diesen Zorn auf einen fernen unerreichbaren Gegner zu projizieren, der die eigenen Eliten unangetastet lässt. Die ungleiche Verteilung des Eigentums ist ein nahrhafter Boden für jede Art populistischer Massenmobilisierung. Der islamische Fundamentalismus weiß dies geschickt zu nutzen. Er ist aber keine Bewegung der Armen und Entrechteten, die für eine gerechtere Weltordnung kämpfen würden. Den islamischen Integralismus stören nicht Imperialismus oder Kapitalismus an sich, sondern die Tatsache, dass Imperialismus, globale Herrschaftsansprüche und Hegemonie von einem »Land der Ungläubigen« über die »Länder der Gläubigen« ausgeübt werden und nicht umgekehrt. Der Antiamerikanismus islamischer Fundamentalisten ist damit kein Resultat realer Machtpolitik im Nahen Osten, sondern Ressentiment und hat – wie jedes Ressentiment – mit der Situation dessen, der es pflegt, zu tun und nicht mit dem, den es trifft, und ist damit auch von einer rationalen Kritik an der US-Nahost-Politik zu unterscheiden. Das Ressentiment des Antiamerikanismus hat im Nahen Osten – über den engeren Kreis des islamischen Integralismus und Fundamentalismus hinaus – eine Reihe von unterschiedlichen Funktionen und Nutznießern, die sowohl den Regierenden als auch oppositionellen Bewegungen nutzen können. Amerika steht dabei, wie beim europäischen Antiamerikanismus auch, als Chiffre für weit mehr als den Staat, dessen Regierung und Außenpolitik. Amerika ist auch für den politischen Islam synonym für die Verwerfungen der Moderne, für gesellschaftlichen Liberalismus, eine selbstbewusste und emanzipierte Weiblichkeit und letztlich für sexuelle Ausschweifungen.
Sex stellt ein weiteres, in seiner Bedeutung oft unterschätztes Feindbild des politischen Islam dar. Sexuelle Praktiken, die sich außerhalb von patriarchalisch-konservativen Vorstellungen einer religiös geregelten Moral bewegen, gehören zu den stärksten Verunsicherungen für konservative islamische Männer, denen integralistische Bewegungen die alten Sicherheiten der patriarchalen Ordnung versprechen. Die Herrschaft über die sexuelle Moral ist, ähnlich wie bei vielen anderen totalitären und autoritären gesellschaftlichen Konzepten, eine der wichtigsten Agenden des politischen Islam. Einen beispielhaften Ort der gesellschaftspolitischen Sanktionierung der sexuellen Praktiken finden wir in dem Verhältnis des islamischen Fundamentalismus zur Homosexualität.
Dem ist vorauszuschicken, dass das gesellschaftliche Bild der Homosexualität in der islamischen Welt nicht nur aus dem Schoß einer bestimmten Religion entspringt, sondern ein Konglomerat aus traditionell starken patriarchalischen Ordnungsstrukturen, regionaler Geschichte und religiösen Vorstellungen darstellt.
Anders als im europäischen Diskurs über die Homosexualität, der im 19. Jahrhundert ansetzt, wird die Homosexualität im islamischen Diskurs nicht als eine universelle Kategorie aufgefasst, die ungeachtet sexuell-technischer Details für alle Personen gilt, die einen gleichgeschlechtlichen sexuellen Verkehr praktizieren. Der sexuelle Diskurs im islamischen Kulturkreis ist vor allem durch eine angenommene sexuelle Passivität und Aktivität geprägt, die zugleich ein Machtverhältnis darstellt. Der Frau wird dabei die passive Rolle, eine »Empfängerrolle« zugeschrieben, während der Mann eine aktive Rolle innehat, sowohl beim Geschlechtsverkehr als auch in anderen sozialen Verhaltensweisen des Alltags.
Ein Homosexueller ist in diesem Diskurs nicht gleich ein Homosexueller. Das Entscheidende ist, dass er seiner männlichen Rolle gerecht wird. So kann eine männliche Person, die sich auf einen rezeptiven Analverkehr einlässt, mit einer stärkeren gesellschaftlichen Ablehnung konfrontiert werden als die Personen, von welchen angenommen wird, sie wären ausschließlich aktive Homosexuelle.
Im politischen Islam wird Homosexualität in dem Sinne ideologisiert, dass sie als ein Feindbild der »göttlichen Ordnung« instrumentalisiert wird. Doch hinter dieser Sorge um eine angenommene ewige Ordnung der Dinge versteckt sich nichts anderes als die Angst um patriarchalische Strukturen der Macht, die gerade in jenem Konstrukt einer sexuellen Passivität versus Aktivität fundieren. Dieses Konstrukt bietet das Fundament für die Legitimierung einer patriarchal strukturierten Machtverteilung in der Gesellschaft. Dementsprechend wichtig ist islamischen Fundamentalisten der Kampf gegen Homosexuelle. Yusuf al-Qaradawi erläutert in seinem – in Österreich immer noch als Schulbuch im islamischen Religionsunterricht verwendeten – Buch »Erlaubtes und Verbotenes im Islam« die für Homosexualität vorgesehenen Strafen: »Die islamischen Rechtsgelehrten haben über die Strafe für dieses abscheuliche Tun verschiedene Meinungen. Sollte es die gleiche Strafe wie für Hurerei sein, oder sollten beide, der aktive und der passive Teil, getötet werden? Zwar scheinen solche Strafen grausam, doch wurden sie empfohlen, um die Reinheit der islamischen Gesellschaft zu erhalten und sie von abartigen Elementen rein zu halten.« (15)
Homosexualität verunreinigt also die islamische Gesellschaft und ist dementsprechend brutal zu bestrafen. Dass es sich dabei nicht um reine Theorie handelt, sondern auch um konkrete – oft tödliche – Praxis, zeigt ein Blick in die gesetzlichen Realitäten vieler islamischer Staaten. »Abhängig von Regierung und Rechtsprechung geht die Bandbreite der Strafen von einer Auspeitschung bis hin zum Tod durch Steinigung oder durch eine einstürzende Wand. Nach Schätzungen (…) sind seit der Revolution von 1979 im Iran 4 000 Schwule hingerichtet worden. Die Taliban sind für zehn öffentliche Hinrichtungen in Afghanistan verantwortlich.« (16)
Die Homophobie des politischen Islam ist unmittelbar mit der Frauenfeindlichkeit verbunden. Frauen werden nicht an sich bekämpft, aber auf ihren vermeintlich »natürlichen« Platz in der Gesellschaft verwiesen. Auch die radikalsten Fundamentalisten benötigen Frauen zumindest zur Fortpflanzung – als ihren »Acker«, wie es Qaradawi (17) auch heute noch formuliert. Frauen, die mit dieser Rolle nicht einverstanden sind – und derer gibt es selbst in Saudi-Arabien immer mehr –, gefährden die vermeintliche gesellschaftliche Ordnung des Islam. Diese »aufmüpfigen Frauen« zurückzudrängen, ist keineswegs nur Politik oppositioneller Gruppierungen. »Jeder muslimische Staat«, erklärte die marokkanische Feministin Fatema Mernissi bereits Anfang der neunziger Jahre, »kann seine offiziellen Arbeitslosen um die Hälfte reduzieren, wenn er an die Sharia im Sinne der despotischen Kalifen-Tradition anknüpft. Deshalb sollte man den Fundamentalismus keinesfalls auf eine Hand voll Verblendeter reduzieren, die in den Straßen Klamauk machen; man muss ihn im Gegenteil im geoarabischen und weltweiten ökonomischen Zusammenhang sehen, wie auch in Verbindung mit der Frage des Erdölreichtums und der neuen Weltordnung, die uns der Westen vorschlägt.« (18)
Das Konzept der gesellschaftlichen Rolle der Frau im islamischen Fundamentalismus gründet in der Teilung der Gesellschaft in eine private und eine öffentliche Sphäre, in der jede Art des öffentlichen Agierens ein exklusives Recht des Mannes darstellt, während die Frau in die private, häusliche Sphäre verwiesen wird, sowie in die symbolischen Aufteilungen: passiv-aktiv, schwach-stark, emotional-rational und so fort. Diese Symbolik, die zu einer »natürlichen« Differenz hochstilisiert wird, dient als Vorwand für eine geradlinige Trennung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche entlang der Achsen einer repressiven Geschlechtszuteilung. Dieses Konzept ist versteckt präsent hinter den immer lauter werdenden Forderungen nach exklusiven islamischen Stränden, exklusiven islamischen Krankenhäusern oder exklusiven islamischen Schulen in Europa, die gegenwärtig rege Debatten auslösen. (19)
Obwohl die feste geschlechtsbezogene Aufteilung entlang der Achse öffentlich-privat für die Konstruktion des Gesellschaftsbildes des islamischen Fundamentalismus ausschlaggebend ist, werden auch in diesem Fall bestimmte Ausnahmen praktiziert, wenn es für tagespolitische Zwecke opportun erscheint. So wird die politische Mobilisierung der Frauen in der Öffentlichkeit angestrebt und unterstützt, wenn es zum Beispiel um ihre Beteiligung an Massendemonstrationen gegen politische oder ideologische Gegner geht. In diesen bestimmten und strategisch wichtigen Momenten wird ihre »politische Anwesenheit« auf derselben Straße, auf welcher sie sich vielerorts unter normalen Umständen ohne männliche Begleitung gar nicht aufhalten dürfen, nicht nur geduldet, sondern sogar gefordert.
Selbstverständlich treten viele dieser – hier nur im Ansatz diskutierten – Ideologeme nicht nur im politischen Islam auf. Auch säkulare arabische Nationalisten oder nichtislamische österreichische Rechtsextremisten sind in den meisten Fällen antisemitisch. Auch konservative Katholiken sind homophob und so weiter.
1) Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam: /www1.umn.edu/humanrts/instree/cairodeclaration.html
2) Ebd.: Artikel 24.
3) Ebd.: Artikel 25.
4) www.meforum.org
5) Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung und Entwurzelung und Radikalisierung. München, 2006.
6) Lewis, Bernard: Die Juden in der islamischen Welt. München, 2004: 20.
7) Genauer wurde dies in folgendem Beitrag herausgearbeitet: Schmidinger, Thomas: »Oh Moslem! Da versteckt sich ein Jude hinter mir, komm und töte ihn!« Zur Islamisierung des Antisemitismus. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jahrbuch 2008, Schwerpunkt Antisemitismus: 103-139.
8) Fischer-Weth, Kurt: Amin Al-Husseini. Großmufti von Palästina. Berlin, 1943: 75.
9) Ebd.: 11.
10) Wiesenthal, Simon: Großmufti. Großagent der Achse. Salzburg u. a., 1947: 37.
11) Kiefer, Michael: Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes. Düsseldorf, 2002: 93.
12) Hamas-Charta: Artikel 7.
13) Erklärung von al-Qaida vom November 2002. Abgedruckt als Anhang in: Fielding, Nick/Fouda, Yosri: Masterminds of Terror. Die Drahtzieher des 11. September berichten. Der Insider-Report von al-Qaida. Hamburg, 2003: 225ff.
14) Ebd.
15) Al-Qaradawi, Yusuf: Erlaubtes und Verbotenes im Islam. München, 1989: 147.
16) Gundermann, Eva/Kolb, Thomas: Menschenrechtsverletzungen auf Grund sexueller Identität am Beispiel von Libanon und Ägypten. In: LSVD Berlin-Brandenburg e.V.: Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam. Berlin, 2004: 81-87.
17) Al-Qaradawi, Yusuf: Erlaubtes und Verbotenes im Islam. 1989: 168.
18) Mernissi, Fatema: Die Angst vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie. Hamburg u.a., 1992: 231.
19) Vgl. Chervel, Thierry/Seeliger, Anja: Islam in Europa – eine internationale Debatte. Frankfurt a. M., 2007.
Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Thomas Schmidinger/Dunja Larise (Hrsg.): Zwischen Gottesstaat und Demokratie. Handbuch des politischen Islam. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008, 319 Seiten, 19,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.