Die Deutsche Frosch-Fraktion und die alte Tante Sozialdemokratie

Fröschles unaufhaltsamer Aufstieg

Oder: Die rückwärtige Familiengeschichte. Warum die alte Tante Sozialdemokratie endlich ihren Frieden gefunden hat.

Nun ist er also doch gegangen, der Onkel Bräsig. Gerade wollten wir ihn uns für den Augenblick noch als tapferen Menschen vorstellen. Dem gegen die klammheimliche Beerdigung der alten Tante Sozialdemokratie nichts anderes eingefallen war als einfach so lange sitzen zu bleiben, bis man es der Runde ansieht. So als müsste er beides zugleich machen: Den Platz der Tante besetzen und irgendein sinnvolles Wort zu ihrem Ableben finden. Wurde natürlich beides nichts. Und dann? Der Hintereingang. Hat das wirklich sein müssen, dass er uns nicht einmal ein erhobenes Haupt zum Abschied gönnt, sondern ganz wie wir es von ihm gewohnt waren, nur beleidigt herumnuschelt, aber um Gottes Willen niemanden von den Attentätern nennt? Dass er ganz öffentlich immer noch zugleich narzisstisch gekränkt und unterwürfig ist? Zugleich cholerisch und beißgehemmt bis in den politischen Tod. Das ist ungefähr so, als hätte Caesar im Augenblick seines Metzeltodes geschrieen: »Brutus war’s nicht. Keiner der Senatoren war dabei. Es waren nur ein paar unbedeutende Sklaven, die mich erstochen haben. Die Marktschreier waren Schuld! Uaarrrrrgh.«
Oder es ist so, wie wenn der Idiot der Familie, dem seine Brüder und Schwestern in den Kakao pinkeln, immer wieder nur von den bösen Buben da draußen herumheult, die ihm schlimme Namen geben. Oder es ist wie irgendwas anderes. Jedenfalls ist Onkel Bräsigs Abgang genau das Schauspiel, das die FROGS gebraucht haben, weder ein echtes Opfer (wer kann mit so einem Waschlappen denn Mitleid haben) noch gar ein zorniger Dissident. Dieser Mensch ist noch in der größten Katastrophe, die sich in einem Politikerleben abspielen kann, einfach nur stinklangweilig. Er lässt es sich sogar noch gefallen, dass die Froschbande ihm nachhöhnt: »Warum gehst du denn schon, Onkel Bräsig, der Abend hätte doch noch so nett werden können!«

Jetzt schmeckt der Schweinebraten an der Tafel des alten Mädchens wieder richtig. Die Beerdigung der alten Tante Sozialdemokratie hat in aller Stille stattgefunden. Ach, es ging ihr doch schon lange nicht mehr gut. Hat sich gar nicht mehr recht bewegen können, und im Kopf war sie auch nicht mehr ganz richtig. Wie halt so alte Tanten sind; jetzt hat sie ihren Frieden. (Anonym natürlich, haben wir sie unter die Erde gebracht, damit die bösen Buben da draußen nicht noch um ihr Grab tanzen oder Bier und Tinte verspritzen.)
Und vom Erbe, was bleibt da? Höchstens so um die 25 Prozent. Aber daraus kann man doch was machen. Wenn die Familie sich nur einig ist. Wir sind nämlich wieder genau da, wo wir angefangen haben: Das alte Mädchen und der standhafte Par­teisoldat halten die Familie zusammen. Jeder hat da so seine Methoden. Man hasst sich weiter und hält die Türen zu den Leichen im Keller geschlossen, wie jede anständige Familie. Die Familie funktioniert wieder perfekt, und jeder weiß genau, wo er zu sitzen und was er zu sagen hat. Das alte Mädchen, das die Familie nach außen repräsentiert, und mit der geschickten Verteilung von kleinen Aufgaben, Zuwendungen und Drohungen die Rasselbande bei Laune hält, der standhafte Parteisoldat, der immer nur »Pflicht« und »Weitermachen« knackt, ja genau so wollen sie weiter machen, weil diese Familie das Vermögen und die Macht nur zusammen halten kann, wenn sie sich selber zusammenhalten kann. Und jetzt ist da eben noch ein Dritter.
Was sich geändert hat, und womit die Geschichte also doch noch weitergeht, obwohl sie sich doch eigentlich nur einmal im Kreis herum bewegt zu haben schien: Das alte Mädchen und der standhafte Parteisoldat können sich endlich offen zu einem gemeinsamen Ziehsohn bekennen, und er ist wirklich wohlgeraten: Das Fröschle. Fröschle Frank-Walter Steinmeier ist der Einser-Schüler, irgendwie sind alle in der Familie stolz auf ihn, auch wenn die meisten gar nicht wissen, dass er die ganze Familiengeschichte sowieso selber geschrieben hat. Er hat, nur zum Beispiel, dem Gasprom-Gerd die »Agenda« geschrieben, mit der er dann so eine flotte Karriere gemacht hat. Als die ins Gerede gekommen ist, da ist das Fröschle brav am Tisch sitzen geblieben, hat brav seine Hausaufgaben gemacht und war bei allen Schulausflügen der Wohlerzogenste. Nicht so ein Hartz, der sich dann beim Raffen erwischen lässt.
Beinahe alle sind auch auf seine Geschichten hereingefallen, wie er es mit auswärtigen bösen Buben gehalten habe. Natürlich seien keine Derbheiten im Spiel gewesen. Nein, diplomatisch habe er erreicht, dass auch die auswärtigen bösen Buben manchmal ein bisschen weniger bös waren. Natürlich haben alle dem Fröschle geglaubt, so wie der geguckt hat; wenn die Familie Besuch bekam, dann haben sie immer das Fröschle hingestellt. »Ach ist der lieb«, haben dann alle gesagt. Ein echter »Kronprinz« eben. Und das alte Mädchen und der standhafte Parteisoldat haben teils stolz und teils säuerlich gelächelt.
Wenn Onkel Bräsig die Rolle des Idioten der Familie so perfekt gespielt hat, dann ist das Fröschle – das »stille Wasser«, wie die Verwandten eingenommen und doch ein bisschen besorgt meinen – der klassische Musterknabe, der immer mehr weiß als alle anderen zusammen. Der zum Beispiel genau weiß, dass man Familiengeheimnisse nicht ausplaudert und dass, wer jammert schon verloren hat, und dass es nichts bringt, wenn man ehrlich ist. Fröschle kriegt lauter Einser, weil er den Lehrern gleich die Arbeit des Aufgabenstellens abgenommen hat. Nie hat er sich auf dem Schulhof geprügelt und sogar dafür, sich beim Petzen erwischen zu lassen, ist er zu schlau.

Natürlich ist Fröschle auch sein eigener Mythos. Die Unaufhaltsamkeit ist bei ihm an die Stelle eines Programms getreten. So ein Grinsen, das zu gleichen Teilen Unschuld und Hinterlist ausdrückt, kann man ja auch lernen. Oder so ein Ich-sehe-aus-wie-ein-kleiner Beamter-aber-kann-mich-jederzeit-in-einen-flachländischen-Napoleon-verwandeln. Es kann ja auch sein, dass jemand, der aussieht, als wolle er so aussehen, als wisse er von nichts Tiefergehendem und Dahinterliegendem, vielleicht wirklich keine Ahnung hat. Oder dass ein Frosch, der auf die Macht lauert, vielleicht in Wirklichkeit nur vor einem Spiegel sitzt. Wie dem auch sei: Für die Familie ist Fröschle genau der richtige.
Denn Fröschle funktioniert so perfekt wie Onkel Bräsig verlässlich scheiterte. Dabei hilft ihm die einzige Eigenschaft, die beide gemeinsam haben. Ihre tief sitzende, nachhaltige und unerschütterliche Langweiligkeit. Aber wo dafür bei Onkel Bräsig eine komische Unentschlossenheit, ein aus dem Ruder gelaufener Wille zur Harmonie, die unerfüllbare Sehnsucht nach Zuwendung und Respekt in der Familie verantwortlich war, da ist es bei Fröschle die vollkommene Leere und Konzentration des ewigen Nerd. Wer die Regeln des Spiels beherrscht, braucht keinen Inhalt. Dieses Wartenkönnen, und schwupp ist die lange Zunge draußen und auch schon wieder drin.
Fröschle ist ja nicht gekommen, er war schon immer da. Dieses Musterkind ist älter als das alte Mädchen und der stalinistische Parteisoldat zusammen. Fröschle ist der Geist des kommenden Kapitalstalinismus, der fröhlichen Chinesifizierung der Marktwirtschaft, des Sozialabbaus und des Staatsgewinns als Reality Show, die sich in den Köpfen des alten Mädchens und des standhaften Parteisoldaten nebulös ausbreitete, und im Gasprom-Gerd die Form eines furchtbar vulgären Lachens annahm. So etwas tut Fröschle nicht. Fröschle wartet. Einerseits auf die nächste Fliege. Und andrerseits auf den Zauberkuss. Dann nämlich verwandelt sich Fröschle in einen wunderschönen – Riesenfrosch.

Mit der Billigung des alten Mädchens und des standhaften Parteisoldaten macht sich nun am Familientisch die Deutsche Frosch-Fraktion breit. Sie haben sich von der alten Tante Sozialdemokratie ein paar Klamotten genommen, aber das macht nichts. Von Tante Sozialdemokratie haben die Frösche auch ihre Liebe zu Fabriken behalten. Es stören sie nur die lästigen Menschen darin. Aber noch mehr stören sich die Frösche an Menschen, die nicht in der Fabrik sind. Bei denen können sie richtig böse werden. Die Frösche möch­ten, dass die Menschen mehr arbeiten, weniger verdienen und zwischendurch möglichst schlecht behandelt werden. Aus der Zeit, als die Tante Sozialdemokratie (mehr oder weniger) noch am Leben war, wissen sie, dass Menschen, die man zu gut behandelt, unnütz werden. Und dass man unnütze Menschen niemals gut behandeln darf. Damit sie in die Mitte kommen, machen die Frösche alles, wofür sich das alte Mädchen zu schade ist. (Aber sie weiß natürlich, was sie an ihnen hat: Die Herrschaft des alten Mädchens dauert, solange sie zugleich eine Frosch-Herrschaft ist, 25 Prozent hin oder her.)
Natürlich ist auch das nur eine Frage der Zeit, dass nach dem standhaften Parteisoldaten auch der Gasprom-Gerd zurückkehrt. Man kann nämlich ohne weiteres eine Familiengeschichte noch weiter zurück schreiben. Schauen Sie sich doch das Fernsehprogramm an. Da sind wir doch auch schon wieder in den fünfziger Jahren. »Ja, Gerd! Gerd!«, schreien die Frösche. »Komm zurück. Die Leute haben sowieso alles vergessen.« Am Tisch des alten Mädchens ist bestimmt ein Plätzchen frei. Der alte Parteisoldat macht es ja auch nicht mehr ewig. Warum soll nicht auch da der Vorgänger der Nachfolger werden in unserem Frosch­tanz? Alles was du wolltest, ist eingetroffen, großer Gerd. Die Sozialdemokratie ist tot.«
Und der Gasprom-Gerd überlegt und denkt, dass es vielleicht doch ganz behaglich wäre, an den Familientisch zurück zu kommen, wenigstens ab und zu. Um sich ein bisschen feiern zu lassen. Eigentlich, zugegeben, braucht ihn ja niemand. Aber könnte man das nicht von dieser ganzen Familie sagen?