Das Leben und die Verfolgung der Juden auf dem Balkan

Die Spur der Grabsteine

Was bleibt vom Leben und von der Verfolgung der Juden auf dem Balkan? Eine Reise auf den Spuren der Erinnerung.

Die nordgriechische Stadt Thessaloniki erstickt im Autoverkehr. Nur wer sich auf den beschwer­lichen Weg hinauf in die Altstadt macht, wird irgendwann den Bleigeschmack los, der sich sofort auf die Zunge gelegt hat, nachdem man die Stadt betreten hat. Hier oben, in der Ano Poli von Thessaloniki, erinnert das Leben tatsächlich noch ein wenig an das Bild von Griechenland, mit dem Reisebüros gerne werben. Zwar ist der Olymp von hier aus nur an sehr seltenen, klaren Tagen zu sehen. Zwar muss man sich immer wieder an die Wände der schmalen Gassen drücken, denn auch hier fordern Autofahrer ihr Recht auf Vorfahrt, aber in den Höfen, die zu den einstöckigen Häuschen gehören, laufen Hühner herum und Cafés und Restaurants stellen ihre Stühle raus.
Wer hier oben, in Thessalonikis Altstadt, zu Gast ist und zu Boden blickt, muss bisweilen feststellen, dass er auf jüdischen Grabsteinen sitzt, steht oder geht. Einige davon stammen sogar noch aus der Zeit, als die aus Spanien vertriebenen Juden sich in dieser Stadt niedergelassen haben. Ob man will oder nicht, in der Altstadt von Thessaloniki tritt man bisweilen mit Füßen eine Geschichte, die bis ins Jahr 1492 zurückreicht, als die spanischen Juden ihr Land verlassen mussten und auf den Balkan kamen.
In Saloniki, wie die Stadt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hieß, lebten die Vertriebenen relativ konfliktfrei mit den Türken zusammen, wenn sie – als Nichtmuslime – den Statthaltern des Osmanischen Reiches auch Steuern zu entrichten hatten. Aber der von Kemal Atatürk und Eleftherios Venizelos vereinbarte so genannte Be­völkerungsaustausch sorgte Anfang der zwanziger Jahre dafür, dass die Türken die Stadt verlassen und Griechen Platz machen mussten, die wiederum aus der Türkei kamen. Sie neideten den Juden nicht immer, aber oft ihre etabliertere Stellung.
Als die deutschen Besatzer im Dezember 1942 an die Zerstörung des jüdischen Friedhofs gingen, riefen sie die griechische Bevölkerung zur Plünderung auf. Viele ließen sich das nicht zweimal sagen und raubten jüdische Grabsteine, um damit ihre Häuser und Höfe zu pflastern. Rund 50 000 Juden lebten in Saloniki, als die Deutschen am 9. April 1941 in die Stadt einmarschierten. Im Sommer mussten sich alle arbeitsfähigen Juden im Zentrum versammeln und in glühender Hitze stundenlang ausharren: Die Deutschen ver­pflichteten sie zur Zwangsarbeit. Zwar gelang es der jüdischen Gemeinde noch, ihre Mitglieder frei­zukaufen, aber sie konnte nicht wissen, dass sie damit deren Leiden verlängerte: Am 18. August 1943 verließ der letzte Transport nach Auschwitz den Bahnhof von Saloniki.
Heute erinnert nicht mehr viel an die Jahrhunderte lange Anwesenheit der Sepharden. Bis 1990 gab es in Griechenland nicht einmal eine israe­lische Botschaft. Der linken Pasok-Regierung, die zwischen 1981 und 1988 und dann noch einmal von 1993 bis 2004 an der Macht war, war wenig daran gelegen. Und erst im Jahr 1997 wurde in Thessaloniki ein Mahnmal enthüllt zur Erinnerung an die Juden, die auf dem Syntagma-Platz zusammengetrieben worden waren. Dieses Mahn­mal wurde am 1. August 2006 während einer Demonstration gegen den Krieg im Libanon geschändet. Die Demonstranten waren Mitglieder der Kommunistischen Partei Griechenlands und ihres Jugendverbands, denen scheinbar das Wissen darüber abhanden gekommen war, dass die Arbeitertradition der Stadt eine jüdische war.

Wer den Zug nimmt, um von Thessaloniki in die bulgarische Hauptstadt Sofia zu fahren, hat kein schönes Erlebnis. Es ist bei weitem der ­heruntergekommenste Zug, den man den Leuten zur Verfügung stellt, die nach Bulgarien fahren (müssen). Die Waggons starren vor Schmutz, die Fenster lassen sich nicht schließen und immer wieder weht ein beißender Uringestank durch den Waggon. Dass man auf dem Weg nach Sofia durch Makedonien fahren muss, mit dem sich der griechische Staat über die Frage streitet, ob es so heißen heiß darf, wie es heißen will, müssen die Pas­sagiere büßen. Kaum ist man eingenickt, reißen Security-Leute die Tür auf und knip­sen das Licht an. Ein freundlicher Gesichtsausdruck oder etwa ein »Guten Abend!« liegt weit unter ihrer Wür­de. Dann die Grenzkontrollen. Erst der Grieche, dann der Makedonier, dem man verspre­chen muss, dass man sein Land auf dem schnells­ten Weg auch wieder verlässt. Und gerade hat man die Augen wieder geschlossen, steht ein Bul­gare in der Tür.
Dass man so unausgeschlafen ist, verstärkt den ersten Eindruck, den man von Sofia hat, und der ist niederschmetternd: Lange fährt man durch lieblos hochgezogene, graue Plattenbausiedlungen, die offenbar seit geraumer Zeit den Weg alles Irdischen gehen. Zerbrochene Fensterscheiben sind durch Pappe ersetzt, leere Plastikflaschen und -tüten dümpeln in schleimigen Pfützen herum. In Sofia selbst ist alles dann doch nicht so schlimm, eigentlich ist es sogar eine schöne Stadt, wenn auch hier nur der Autoverkehr nicht wäre. Viele Menschen sind arm, insbesondere alte Frauen, die tastend herumgehen und Passan­ten um einige Münzen bitten. Roma-Frauen versuchen Blumen an die Leute zu bringen, und auf dem Platz vor der Alexander-Nevski-Kirche verkaufen Händler Nazi-Devotionalien.
Davon sind noch viele im Land, denn Bulgarien kollaborierte mit Nazi-Deutschland. Die Deutschen benutzten es als Aufmarschgebiet für die Okkupation des griechischen Nordens. Dennoch könnte man hier darauf verweisen, dass den jüdischen Bürgern Bulgariens ein ähnliches Schick­sal wie den Juden von Saloniki erspart worden ist. Sie mussten den Stern bzw. ein gelbes Band am Oberarm tragen, sie wurden in Ghettos gepfercht, aber diejenigen, die in den Grenzen Bulgariens von 1941 lebten, haben immerhin überlebt, während die in den von Bulgarien besetzten Regionen Makedonien und Thrakien lebenden Juden deportiert und ermordet worden sind. In Bulgarien wandten sich nicht nur Vertreter der orthodoxen Kirche, sondern auch große Teile der Zivilbevölkerung gegen die geplante Deportation ihrer jüdischen Nachbarn – und haben sie so verhindert.
Dennoch scheint man sich in Sofia lieber nicht an gewisse Aspekte seiner Geschichte erinnern zu wollen: Der Stadtplan, den das Touristen-­Informationsbüro im Bahnhof von Sofia verteilt, verzeichnet zwar jede orthodoxe Kirche, aber weder die Banja-Baši-Moschee im Zentrum der Stadt noch die nahe gelegene Synagoge. Dabei handelt es sich um eine der größten Europas und um die größte des Balkans. Ihr Prunkstück, ein Kronleuchter, ist an die zwanzig Meter hoch und wiegt 1 700 Kilo. Sofias Synagoge bietet 1 170 Men­schen Platz, doch die meisten der 50 000 bulgarischen Juden, die die Kollaboration Bulgariens mit dem Nationalsozialismus überlebt hatten, wan­derten nach 1948 nach Israel aus und taten gut daran. Denn die Terrorwelle, mit der die bulgarische Kommunistische Partei die Bevölkerung überzog, übertraf sogar noch die in den anderen Ländern des Stalinschen Einflussbereichs. In seinem Aufsatz »Vernichtungsterror und ›Säuberungen‹ in der Bulgarischen Kommunistischen Partei 1936 bis 1953« schätzt der Autor Stefan Troebst die Zahl der bereits im sowjetischen Exil ums Leben gekommenen bulgarischen Kommunisten auf mehrere Hundert. Nach dem Schaupro­zess gegen den Parteivize Trai­tscho Kostow, der im Dezember 1949 gehängt wurde, wurden weitere 200 Kommunisten verhaftet und hingerichtet. Der bisherige Chef des Zentralkomitees, Geor­gi Dimitrow, war unter mysteriösen Umständen bereits im Juli 1949 in einer Klinik in der Sowjet­union verstorben. Jetzt hatte sein Nachfolger Tscherwenkow freie Bahn, um mit all denen abzurechnen, die er als »Feinde mit Parteibuch« bezeichnete. Ab 1950 dann, in Verbindung mit der Landkollektivierung, richtete sich der Terror in erster Linie gegen Anarchisten, die in Bulgarien auf eine traditionsreiche Bewegung zurückblicken konnten, und gegen Bauern. Der Ungar Georg Hermann Hodos, auch er ein Opfer der Schau- und ihrer Nebenprozesse, die zwischen 1949 und 1953 Osteuropa erschütterten, schätzt die Zahl derjenigen, die in den ersten vier Jahren nach der kommunistischen Machtübernahme in Bulgarien getötet wurden, auf 100 000 Menschen. Beizeiten nach Israel gegangen zu sein, dürfte also vielen Menschen das Leben gerettet haben. Glück­licherweise haben die bulgarischen Kommunisten die jüdische Auswanderung nicht behindert.

Auch im benachbarten Jugoslawien ließ man die Juden auswandern. Dort setzte Josip Tito im Zuge seiner Bemühungen um eine Bewegung so genannter Blockfreier nicht auf einen israelischen, sondern, mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, auf einen arabischen Bünd­nispartner. Und das, obwohl von 12 000 Belgrader Juden nur 2 300 die deutsche Besatzung überlebten und von den insgesamt über 80 000 Juden im Königreich Jugoslawien 80 bis 85 Prozent ermordet worden waren.
In erster Linie hatten die Deutschen Frauen und Kinder getötet. Ihrer wurden sie habhaft, weil es für Mütter mit Kleinkindern nahezu ausgeschlos­sen war, sich den Partisanen anzuschließen. Wer kämpfte, konnte seine Chancen hingegen erhöhen: Drei Viertel der Juden, die als Partisanen gegen den deutschen Vernichtungskrieg kämpften, haben überlebt. Auch aus diesem Grund verweist das jüdische Museum Belgrads noch immer fast trotzig auf die Partisanengeschichte Jugoslawiens. Hier befindet sich die einzige Ausstellung der Stadt, die auch nach 1989 nicht ver­ändert wurde. Besucher werden mit offenen Armen empfangen; der Mitarbeiter Miroslav De­majo lässt es sich nicht nehmen, Interessierte auch auf den Jüdischen Friedhof zu führen, und der ist ein offenes Geschichtsbuch. Jeder Stein erzählt von Partisanentum oder einer anderen Form von Widerstand, von Querelen auch mit oder in der Kommunistischen Partei, von einem Leben mit Familie und Freunden, das nach dem Willen der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten innerhalb Jugoslawiens nicht erst in den siebziger, achtziger oder neunziger Jahren enden sollte. Und schon gar nicht durch einen natürlichen Tod. Und auch das Leben nach der Befreiung im Oktober 1944 war nicht immer einfach: »Er zum Beispiel« – Dr. Demajo weist auf das Grab eines Herzspezialisten – »ist immer nach Israel gefahren und niemand konnte etwas dagegen sa­gen. Die wussten alle, dass sie irgendwann mal unter seinem Skalpell landen können und waren dann doch lieber vorsichtig.«
Die Betonung liegt auf die. Schräg gegenüber, auf dem orthodoxen Friedhof, stehen Trauernde um das Grab des ehemaligen serbischen Präsidenten Zoran Đindic, der am 12. März 2003 in Bel­grad erschossen wurde. »Streng genommen bin ich kein Jude«, kommt Dr. Demajo auf sich zurück, während man wieder Richtung Innenstadt läuft, »mein Vater war serbischer Jude, meine Mutter eine Kroatin aus Zagreb. Sie haben sich bei den Partisanen kennen gelernt, und meine Mutter ging nach Zagreb zurück, um mich zur Welt zu bringen.« Demajo ist Rentner; er stellt seine Zeit dem Jüdischen Museum unentgeltlich zur Verfügung. Dort arbeitet man seit einigen Jahren an einer Interviewsammlung mit Überlebenden des Holocaust, von der gerade der fünfte Band in Vorbereitung ist. »Zwei Bände konnten wir aufgrund einer Schenkung schon ins Englische übersetzen lassen«, sagt Dr. Demajo stolz, »aber für eine Übersetzung von Band drei und vier gibt es noch kein Geld. Also müssen wir warten, bis sich die Gelegenheit ergibt.«

Dass Erinnerungsarbeit Geld kostet, wird auch in der ungarischen Hauptstadt deutlich, der letzten Station vor der Rückkehr nach Berlin. Zwar gibt es im Zentrum Budapests eine berühmte Synagoge mit angeschlossenem Museum, das viele Besucher anzieht, und wo an die 560 000 Juden erinnert wird, die von den Deutschen und den Parteigängern Miklos Horthys ermordet wurden, aber wer sich auf die Suche nach dem jüdischen Friedhof Budapests macht, findet sich nach langer Wanderung zwischen Bahngleisen und heruntergekommenen Trafohäuschen wieder. Das Tor zum Friedhof ist verschlossen. Natürlich, es ist ja Samstag, aber wer von außen ­einen Blick riskiert, muss feststellen, dass die Restaurierung dieses Friedhofs nicht zu den ersten Anliegen der ungarischen Regierung gehörte, und daran hat sich noch immer nichts geändert: Er ist überwuchert, die ihn umgebende Mauer streckenweise eingestürzt, und immer mal wieder mit Stacheldraht versehen.
Ist das nötig? Offenbar, denn Ungarn macht Schlagzeilen unangenehmster Art. Von Rechts­radikalen und Straßenschlachten in Budapest hat man gelesen, von Neonazi-Aufmärschen in kleineren Orten und Dörfern, während denen ­gegen Roma und Juden skandiert wird.