Gespräch mit Holm Sundhaussen über Opfer, Täter und die »Vertreibung« der Deutschen aus Jugoslawien nach dem Krieg

»Die Tabuisierung hat sich gerächt«

Die Präsidentin des Bundes des Vertriebenen, Erika Steinbach, versucht derzeit, den jugoslawischen Parti­sanen einen Völkermord an Deutschen zu unterstellen. Holm Sundhaussen, Professor für Südosteuropäische Geschichte in Berlin, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte Jugoslawiens.

Erika Steinbach behauptet, dass etwa 55 000 Deutsche zwischen 1944 und 1948 durch den Antifaschistischen Rat der Volksrepublik Jugoslawien (AVNOJ) getötet wurden. Können Sie diese Zahl bestätigen?

Wir müssen davon ausgehen, dass tatsächlich etwa 55 000 Deutsche in Jugoslawien Opfer der Vergeltungsmaßnahmen nach Kriegsende wurden. Die große Mehrheit davon ist in Lagern umgekommen und meistens an Hunger gestorben.

Steinbach verwendet dafür den Begriff »Todeslager« und suggeriert damit eine Nähe zum Begriff des »Vernichtungslagers«. Steckte hinter der Internierung der Deutschen durch die Partisanen Titos eine Vernichtungsabsicht?

Inzwischen sind fast alle erhaltenen Quellen über diese Zeit zugänglich, und es gibt bislang keine überzeugenden Beweise dafür, dass die Internierung in den Lagern zur Vernichtung führen sollte. Fest steht allerdings, dass der AVNOJ die Aberkennung der bürgerlichen Rechte und den Einzug des Vermögens der Deutschen beschlossen hat. Jedoch hat er weder eine Umsiedlung, eine Vertreibung oder die Vernichtung der Deutschen organisiert.
Dass Tito die Anweisung zum Völkermord veranlasst hätte, wie Steinbach es formuliert, ist eine bislang nicht belegbare Behauptung. Die jugoslawische Regierung hat noch im Januar 1946 die Alliierten, speziell die USA, um Unterstützung bei der Transferierung der Deutschen nach Deutsch­land gebeten, jedoch vergeblich. Dass es seitens der ehemaligen Partisanen Rache und Vergeltung gegen Deutsche oder politische Gegner gab, ist hingegen unbezweifelbar. Das jedoch war angesichts der mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Jugoslawien in Gang gesetzten Gewalt­spirale auch zu erwarten. Umso fragwürdiger ist es, dass die NS-Führung die Evakuierung der Deutschen aus dem Banat so lange verboten hatte, bis die Rote Armee im mittleren Banat eingetroffen war.

Also lässt sich die Gewalt des deutschen Aggressors mit der Gewalt der Partisanen im Zweiten Weltkrieg nicht vergleichen?

Hätten sich die Kommandanten der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee nach Kriegsende vor Gerichten verantworten müssen, wären sehr wahrscheinlich einige von ihnen wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden.
Allerdings führt ein umfassender Relativismus, wie ihn beispielsweise Erika Steinbach betreibt, nicht weiter. Es gibt nicht nur graduelle Unterschiede, sondern es spielt auch eine ganz wesentliche Rolle, wer die Gewaltspirale in Gang gesetzt hat. Denn sobald sie einmal in Gang gesetzt ist, entwickelt sie erfahrungsgemäß schnell ihre Eigendynamik. Steinbachs Behauptung, dass alle wehrfähigen deutschen Männer nur unter Zwang in der Waffen-SS gedient hätten, ist ein Mythos. Das gab es zwar, aber genügend Deutsche haben die völkische Idee über alles gestellt, waren an Kriegsverbrechen und der »Arisierung« jüdischen Vermögens beteiligt. Nach Kriegsende hätte Jugoslawien die Verantwortlichen einem Gerichtsverfahren unterwerfen sollen, anstatt kollektive Vergeltung zu üben.
Dass Menschen, denen Leid zugefügt wurde, für Rache und Vergeltung anfällig sind, ist traurig, aber ein Faktum. Und deshalb ist es wichtig, dass wir die gruppenpsychologischen Entwicklungen der Gewalteskalation aufdecken. Wehret den Anfängen gilt in diesem Fall ebenso wie in vielen anderen Situationen.

Waren die Verbrechen an Deutschen im sozialistischen Jugoslawien tabu?

Es war absolut tabu. Über die an Deutschen oder anderen Bevölkerungsgruppen begangenen Verbrechen wurde nicht gesprochen. Diese Tabuisierung hat sich gerächt, denn sie bildete den Nährboden für die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre massiv einsetzende Umdeutung der öffentlichen Erinnerungen. Die verlief allerdings nicht im Sinne einer kritischen Aufarbeitung der Geschichte, sondern im Sinne einer unreflektierten Umpolung. Aus Helden wurden Verbrecher und aus Verbrechern wurden Helden.

Sind die historischen Debatten in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens derzeit immer noch von dieser Umpolung geprägt?

Mittlerweile sind im ehemaligen Jugoslawien zahlreiche historische Arbeiten veröffentlicht worden, die sich mit den Verbrechen der ehemaligen Partisanen auseinandersetzen. Einige genügen voll und ganz den internationalen wissenschaftlichen Standards. Aber die meisten bedienen weiterhin nationalistische oder ideologische Rachegelüste und sind ebenso einseitig wie die vormaligen regimetreuen Darstellungen. Nach wie vor wird Vergangenheit für politische und nationale Zwecke instrumentalisiert.

Sie sagen, dass Vertreibung als nationaler Erinnerungsort immer national und völkisch aufgeladen sei. Dagegen wäre Vertreibung als »europäischer Erinnerungsort« ein Ausweg aus der nationalen Falle. Was verstehen Sie darunter?

Also zunächst mal muss man daran erinnern, dass Vertreibungen die Geschichte Europas und vor allem Mittel- und Osteuropas in diesem Jahrhundert maßgeblich geprägt haben und es die Auf­gabe der Historiker ist, nach den Ursachen und den Gemeinsamkeiten in den Einzelfällen zu fragen. Unter den Ursachen sticht eines besonders hervor und das ist das völkische Nationsverständnis beziehungsweise die imaginierte Abstammungsgemeinschaft, die mit ihren rigiden Einschluss- und Ausschlussmechanismen die Entwicklung eines politischen Nationsverständnisses als einer Staatsbürgergemeinschaft blockiert hat, die nationale Mehr- und Minderheiten generiert hat, die die Minderheiten in vielen Fällen als Störfaktor und Bedrohung der Mehrheiten erscheinen ließ. Der NS hat diese völkische Idee bis zum Extremen getrieben. Die völkische Solidarisierung mit dem Nationalsozialismus zerstörte die Grundlage für ein Zusammenleben.

Sie sind Projektleiter des Lexikons »Jahrhundert der Vertreibung«. Wird mit diesem Titel nicht einer Perspektive auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts Vorschub geleistet, die einer Vermischung von Opfern und Tätern dient? Welchen Sinn macht es, weiterhin an diesem Begriff festzuhalten?

Die Mitarbeiter des Lexikons haben lange über den Titel diskutiert. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, und es gibt ja auch noch einen Untertitel. Dieses Lexikon dient natürlich nicht einer Vermischung von Opfern und Tätern. Im Gegenteil, sowohl Opfer wie Täter sollen explizit benannt werden. Aber die im Lexikon behandelten Stichworte machen deutlich, dass es in der Regel keine ausschließliche Täter- und Opfernationen gibt. Aus Opfern können Täter und aus Tätern Opfer werden. Mitunter kommt es sogar zu einem wiederholten Rollentausch. Das heißt aber nicht, und das sage ich auch vor dem Hintergrund der Verbrechen in den neunziger Jahren im früheren Jugoslawien, dass alle gleichermaßen schuldig oder unschuldig sind.