Der indische Autokonzern Tata schließt nach Protesten ein Werk

Kleinwagen statt Kleinbauern

Für eine Autofabrik des indischen ­Konzerns Tata wurde Land enteignet. Auf Proteste reagierte das Unternehmen mit der Schlie­ßung des Werks.

Die Stimmung kippte mit dem Tod von Shushen Shatra. Seit einigen Tagen saßen die beiden Söhne des Kleinbauern zuhause, abgeschnitten von ihrer neuen Arbeitsstelle im Tata-Werk in Singur. Zu­vor hatte Shushen Shatra dem Großkonzern Tata sein Land verkauft – gegen die Zusage, dass seine Söhne in der Fabrik als Arbeiter eingestellt würden. Doch überraschend schloss die von einer Pro­testbewegung bedrängte Konzernführung Anfang September die gesamte Fabrik. Am 3. September brachte sich Shushen Shatra um.
Eigentlich sollten bereits Anfang Oktober die ers­ten Autos vom Band rollen. Im Januar hatte Tata in Neu-Delhi den Nano präsentiert, einen Klein­wagen, der nur 2 500 Dollar kosten soll. Zwar sind Straßen und Infrastruktur der indischen Städte bereits völlig überlastet, doch die Produktion eines Kleinwagens zum Preis eines Mopeds versprach gute Geschäfte.
Um die Produktionskosten zu senken, bewarb sich Tata im Bundesstaat Westbengalen im Nordosten Indiens um die Einrichtung einer Special Economic Zone (SEZ) bei der kommunistisch geführten Bundesstaatsregierung. Die CPI (Marxist) genehmigte den Antrag, bot staatliches Land an und aquirierte Privatland von Bauern.
Dieses Vorgehen ist bei der Einrichtung von SEZ üblich, den Bauern wird eine finanzielle Entschädigung angeboten. Die meisten Farmer wil­ligen ein, denn sie hoffen, dass sie oder ihre Fami­lienangehörigen durch die Ansiedlung größerer Betriebe eine Beschäftigung finden. Es gibt jedoch auch immer Bauern, die sich der Enteignung widersetzen. So auch in diesem Fall.

Etwa 160 Hektar Land enteignete die Regierung und zahlte pauschale Entschädigungen, egal, ob die Farmer der Maßnahme zustimmten oder nicht. Einige Bauern erhielten jedoch überhaupt keine Entschädigung. Damit hat die CPI (Marxist) abermals ihren Ruf als unternehmerfreundliche Landesregierung gefestigt, die Neuinvesti­tionen aus der Privatwirtschaft sind die höchsten in ganz Indien.
Doch als Reaktion auf die Aquirierung des Lan­des formierte sich diesmal breiter Protest. Enteignete Bauern, kritische NGO und vor allem die Oppositionspartei Trinamool Congress forderten »Land für Land« von der Regierung. Gewerkschaf­ten, in Indien meist an bestimmte Parteien gebunden und von Partikularinteressen geleitet, spielten eine geringe Rolle. Auch die maoistische Guerilla schaltete sich ein, konnte aber in der Protestbewegung kaum Fuß fassen.
Die Bewegung gewann im August 2008 immer mehr an Dynamik. Die Vorsitzende des Trinamool Congress, Mamata Banerjee, eine charisma­tische Politikerin, die ihre Karriere bei der Congress Party begann und 1997 die Abspaltung Trinamool Congress in Westbengalen gründete, wurde zum Symbol des Widerstands. Das intensive Medienecho der Proteste ist vor allem ihrer Popularität, aber auch ihrer Professionalität im Umgang mit den Medien geschuldet. Anfang September verlor Banerjee aber zusehends die Kon­trolle über die Proteste. Bei der Blockade des Werks wurden Busse angegriffen, Arbeiter und Angestellte verletzt.
Daraufhin schloss der Tata-Konzern kurzerhand das Werk und verkündete, auch an anderen Stand­orten den Nano produzieren zu können. Möglicherweise ist das nur eine Drohung, um die Regierung und die Protestbewegung unter Druck zu setzen, denn die Verlegung wäre kostspielig und würde den Produktionsbeginn verzögern. Doch der Bundesstaat Karnataka bot Tata in der vergangenen Woche 400 Hektar Land an, auch die Angebote anderer Landesregierungen ließen nicht lange auf sich warten. Die CPI (Marxist) hingegen wollte weder den Investor noch das investitionsfreundliche Image verlieren und schaltete sich ein. Die Protestbewegung, durch die Eskalation und den Suizid Shushen Sha­tras diskreditiert, baute die Barrikaden ab und sah sich zu Verhandlungen gezwungen, ohne rea­listische Hoffnung, die zentrale Forderung »Land gegen Land« durchsetzen zu können.

»Es gibt nichts, was ich lieber sehen würde als eine harmonische Koexistenz von Landwirtschaft und Industrie, und wir sind bereit, alles dafür zu tun, um dies möglich zu machen«, sagte Mamata Banerjee Anfang September bei ihrem Versuch, die aussichtslosen Gespräche zu rechtfertigen. Bei den anschließenden Verhandlungen lehnte die Regierung Entschädigungen in Form von Landzuteilungen erwartungsgemäß ab.
Das Einlenken von Mamata Banerjee und die Deeskalation durch den Abbau der Barrikaden wurden von den großen indischen Tageszeitungen und Nachrichtenkanälen als ein Zeichen politischer Reife gewürdigt. Die Berichterstattung über den Fall Tata ist ambivalent. Einerseits sprechen sich die meisten Medien für die Schaffung von Sonderwirtschaftszonen aus. Andererseits existiert in Indien durchaus ein kritisches Bewusstsein für die Kehrseiten des Wachstums und die zahlreichen Verlierer der gegenwärtigen Entwicklung.
So wagten auch Mamata Banerjee und die Protestierenden am Dienstag voriger Woche abermals den Gang auf die Straße. »Die Menschen wur­den verraten. Wir werden das Entschädigungs­paket der Regierung in die Mülltonne werfen«, ver­kündete Banerjee bei einer Kundgebung vor meh­reren tausend Unterstützern in Sichtweite des Tata-Werks. Ruhig und entschlossen erklärte die Sprecherin, dass es nicht um die Schließung des Werkes gehe. Rund 120 Hektar Land forderte Banerjee aber »um jeden Preis« zurück. Andernfalls würden die Blockaden wieder aufgebaut, drohte sie mit erhobener Faust.
Die Auseinandersetzungen um das Tata-Werk in Singur sind vor allem Resultat einer verfehlten Politik der indischen Regierung. Auf nationaler Ebene existieren keine kohärenten Richtlinien für Landenteignungen und Entschädigungen. Die Regelungen für die Errichtung der SEZ sind weitgehend Sache der Bundesstaaten, die vor allem möglichst günstige Rahmenbedingungen für Investoren schaffen wollen.
Verschärft hat sich die Konkurrenz um die Ansiedlung von Konzernen und Industriebetrieben unter den indischen Bundesstaaten durch die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. In den letzten vier Jahren wuchs die indische Wirtschaft um durchschnittlich rund neun Prozent. In diesem Jahr wird nur ein Wachstum von sieben bis 7,5 Prozent erwartet, während die Infla­tionsrate seit Ende vorigen Jahres von 3,5 auf zwölf Prozent stieg.
Für landesweite Reformen hat die regierende Kongresspartei keine Mehrheit, dementsprechend wird es bis zur Parlamentswahl Anfang nächsten Jahres keine grundlegenden Veränderungen in Fragen der Landvergabe und Entschädigungen geben. Die Regierung versucht zwar, die Situation der Landbevölkerung durch einzelne Maßnahmen zu verbessern. So wurde im Fe­bruar ein Schul­denerlass beschlossen, der allen Bauern, die ein staatliches Darlehen erhalten haben, die Rückzah­lung erspart. Dies betrifft etwa ein Viertel aller Bauernhaushalte. Derartige Regelungen kommen aber tendenziell der unteren Mittelschicht der Bauern zugute, ebenso wie die geforderten Entschädigungen in Westbengalen. Landlose Arbeiter und Kleinbauern profitieren gar nicht oder in weitaus geringerem Maß.
Landkonflikte sind in Indien häufig, besonders bei der Errichtung von SEZ, doch nur selten gibt es organisierte Massenproteste von nationaler Bedeutung. Im Falle des Tata-Werkes in Singur hat die parteipolitische Konstellation in Westbengalen maßgeblich zu einer größeren Ausbreitung der Proteste beigetragen. Der oppositionelle Tri­na­mool Congress will die Stimmen der Bauern gewinnen. Die CPI (Marxist) hingegen hofft, mit den umworbenen Investoren kämen Arbeitsplätze und Wählerstimmen. Andererseits muss die Partei vermehrt auf die Stimmung unter der bäuerlichen Bevölkerung achten und Landkonflikte entschärfen, wenn sie die nächste Wahl gewinnen will. Bei den Kommunalwahlen Anfang des Jahres verlor die CPI (Marxist) bereits viele Stimmen.

Als Verteidiger der Arbeiter und Bauern hat sich die CPI (Marxist) in Westbengalen auch nicht wirklich profiliert. Im Januar 2007 richtete die Regierung eine SEZ für die indonesische Chemiefirma Salim ein. Die stetig wachsenden Proteste der Bauern und zahlreicher oppositioneller Grup­pen wurden im März vorigen Jahres mit Repres­sion und Gewalt beantwortet. Polizisten und bewaffnete Angehörige der CPI (Marxist) töteten alleine am 14. März 2007 bei der Räumung einer Blockade mindestens 50 Menschen. Daraufhin kam es zu wechselseitigen Angriffen, Vertreibungen und Morden.
Die staatliche Repression, aber auch die Angrif­fe auf Anhänger der CPI (Marxist) sorgten in ganz Indien für Aufsehen. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten die Verbrechen und kritisierten die kommunistische Regierung. Zuletzt kam es im August zu neuen Auseinandersetzungen, nachdem ein Kader der CPI (Marxist) bei einer Schießerei mit Anhängern des Trinamool Congress getötet worden war. Es dürfte nicht der letzte Konflikt dieser Art gewesen sein, denn weitere Special Economic Zones sind in Planung.