Bedeutung von Satire und Karikatur in der türkischen Presse

Lachen wie die Dänen

Die Satire nimmt in der türkischen Presse eine zentrale Stellung ein. Angegriffen werden die heiligsten Traditionen, die Engstirnigkeit der Dörfler, die Macht der Militärs, die patriarchale Familie und der Eifer der Fundamentalisten. Der gesellschaftliche Diskurs wird maßgeblich durch die Satireblätter und Kolumnen der Tageszeitungen geprägt.

Nahe der Redaktion der Satirezeitschrift LeMan im zentralen Is­tan­­bu­ler Stadtviertel Cihangir liegt der Teegarten an der Firuzaga-Moschee. Früher saßen hier ältere Männer beim Tee und vertrieben sich die Zeit mit dem Brettspiel Tavla. Heute ste­hen die Tische bis auf die Straße, trendige Istan­buler bevorzugen türkischen Mokka, in der Kon­ditorei nebenan werden Salzgebäck, Eclairs und andere Knabbereien in Massen verkauft.
Mehmet Çagçag sitzt mit einer kleinen Gruppe von Redakteuren an einem Tisch. Der Zeichner skizziert den kommenden Titel für LeMan. Minis­terpräsident Tayyip Erdogan als Muppet-Show-­Figur in einer Talkshow des regierungsnahen Fernsehsenders Kanal 7. Eine Anspielung auf den aktuellen Spendenskandal. Der in Deutschland angesiedelte Verein »Deniz Feneri« (Leucht­turm) soll gesammelte Gelder in Millionenhöhe an Erdogan nahestehende Medien geleitet haben.
Doch die Zeichnung gefällt der Runde nicht. Mit gerunzelter Stirn zerknüllt Çagçag die in Win­deseile entstandene Zeichnung. »Wir versuchen, auf dem Titel immer tagesaktuell und provokativ zu sein«, erklärt er, »aber momentan haut man schnell in die falsche Kerbe oder wirkt einfach platt.«
Der türkische Ministerpräsident ist ein bevorzugtes Motiv der Satire. Sein oft autoritäres Auftreten, die Maßanzüge und dunklen Son­nenbrillen sowie seine verhüllte Ehefrau reizen die Zeichner immer wieder zu Spott. Ein Titelbild vom 5. September 2007 zeigt den Staatspräsidenten Abdullah Gül mit dem Parteikollegen und langjährigen politischen Weggefährten Erdogan. Es geht um das Kopftuchverbot. In der Zeichnung tanzen Gül und Erdogan miteinander neben dem mit seiner unverschleierten Frau über das Parkett schwebenden Gene­ral­stabschef. Abdullah Gül sagt: »Gut, dass du mich zum Tanz aufgefordert hast, mein Had­schı … Vom vielen Nüsschenknabbern ist mein Glaube ganz bröcklig geworden!« Erdogan antwortet: »Sei vorsichtig, du trittst mir auf die Füße … sonst brech’ ich dir die Knochen.« Der Ministerpräsident ist nicht gerade für seinen sprühenden Humor bekannt. In der Vergangen­heit verklagte er vor allem Karikaturisten, die ihn als Tier zeichneten. Doch genau diese Zeich­nungen wurden, ähnlich wie die dänischen Mohammed-Karikaturen, nur um so interessan­ter für eine größere Öffentlichkeit. Mittlerweile haben die Berater des Regierungschefs auf ihn eingewirkt, die Klagen aus eigenem Interesse zu unterlassen.
Das ist klug, denn es gibt in der türkischen Geschichte prominente Vorbilder für humorlose Staatsoberhäupter, die bis heute Anlass für respektloses Gelächter bieten. Bei der Entstehung und Expansion des Genres zeichnerische Satire stand im Osmanischen Reich, aus dem Anfang der zwanziger Jahre die Türkei entstand, eine Nase im Zentrum des oppositionellen publizistischen Interesses. Sie gehörte Abdülhamid II. (1842–1918), dem Sultan, der mit dem deutschen Kaiser Wilhelm enge Beziehungen pflegte, was schließlich zu dem Bündnis im Ersten Weltkrieg führte. In den Zeiten der Einführung der Verfassungen im Europa des 19. Jahrhunderts vereinte die oppositionellen Intellektuellen Europas und der Türkei das Lachen über die schwindende Macht der Herrschenden. Der nach einer politischen Reformphase 33 Jahre lang autoritär herrschende Sultan Abdülhamid II. ist bis heute in der Türkei ein Synonym für politische Restriktion.
Ganz abgesehen von Kritik an seiner abso­lutistischen Herrschaft, empfand Abdülhamid II. Anspielungen auf seine Gurkennase als in­fame Majestätsbeleidigung. Deren Beschaffenheit wäre sicherlich heute längst in Vergessenheit geraten. Doch in dem Moment, als das Wort Nase – neben den Begriffen Freiheit, Unabhängigkeit und Brüderlichkeit – auf dem Index der Zensur landete, wurde sie zum Symbol für den Mief der Vergangenheit. Die os­ma­nischen Karikaturisten standen mit unübertrof­fenen Variationen des Spottes über den Herrscher an der Spitze der publizistischen Eman­zipa­tions­bewegung. Die Nase des Sultans wurde zu einem Symbol für die Schwäche des autoritä­ren osmanischen Systems und die Zeichenfeder die wirk­samste Waffe der osmanischen Opposition. Die zentrale Rolle der Satire innerhalb des bürgerlichen Emanzipationsprozesses im Osma­nischen Reich machte die Karikaturisten in politischen Umbruchzeiten zu einflussreichen Kri­tikern der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Die fünfziger Jahre etwa kennzeich­nete der Übergang zum Mehrparteiensystem, nachdem die noch von Atatürk gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) unter Atatürks Weggefährten Ismet Inönü das Land durch die dreißiger und vierziger Jahre allein geführt hatte. Die fünfziger Jahre brachten eine Generation neuer Zeichner hervor, die den Stil der klaren Linie, meist ohne jeglichen Text, favorisierten.
Ferruh Dogan beginnt 1953, eine Persiflage auf das Dorfleben zu zeichnen. 1956 werden die Zeichnungen in dem Album »Das sich modernisierende Dorf« veröffentlicht. Sie kritisieren die starken Entwicklungsunterschiede zwischen Stadt und Land, indem die sich moder­nisierenden städtischen Lebensbedingungen des neuen Zeitalters in einen ländlichen Kontext gestellt werden. Ein modernisierter Ochsen­karren etwa wird als Taxi benutzt, die Dorffrau unterzieht sich einer Schönheitsoperation, sieht mit ihrem Ganzkörperschleier aber danach genauso aus wie vorher. Das Album wird kurz nach Erscheinen durch die Adnan-Men­deres-Regierung zunächst vom Markt genommen, darf aber nach einem Jahr auf Gerichts­beschluss erscheinen.
Die Erstausgabe der die siebziger und achtziger Jahre prägenden legendären Satirezeitschrift Gırgır (Spaß) kommt im August 1972 heraus, also in einer Zeit, als die nach dem Militärputsch vom 12. März 1971 parteilose Übergangsregierung eingesetzt war. Die den Staatsstreichen eigenen totalitären Maßnahmen sind größtenteils abgeschlossen: Vereine, Gewerkschaften und Parteien bleiben bis auf Weiteres verboten, die Bürgerrechte sowie die Organisations- und Pressefreiheit sind eingeschränkt, kritische Gegner sitzen hinter Gittern, und die Opposi­tionsführer sind von Militärgerichten bereits hingerichtet worden. Die Zeitschrift Gırgır erreicht auf Anhieb eine Auflage in Rekordhöhe. Unterschiedliche Faktoren begünstigen ihren Erfolg. Das Offset-Druckverfahren ermöglicht eine rapide Steigerung der Druckauflage und einen schnellen landesweiten Vertrieb. Die angesichts der Landflucht um ein Vielfaches gewachsene Stadtbevölkerung bildet eine große Leserschaft. Diese Absatzpotenziale veranlassen die Großinvestoren, die Produktpalette zu erweitern und sich der Satire zuzuwenden. Es wird ein Redakteur zur Entwicklung eines Blattes gesucht, das ein neues Satire- und Karikaturenverständnis transportieren und gleichzeitig auf dem Markt konkurrenzfähig sein soll. Die Wahl fällt auf den Karikaturisten Oguz Aral.
Oguz Aral hält Distanz zu der von der Zeitschrift Akbaba vertretenen Ästhetik der Fünf­ziger-Jahre-Generation, die zum Markenzeichen der türkischen Satire avanciert ist. Der tro­ckene und steife Salon-Witz und die künstle­rischen Bedenken der urbanen Elite-Karikaturisten kümmern ihn reichlich wenig. Er fühlt sich mehr von den einfachen Leuten, der vul­gären Gossensprache, dem Alltagsleben der Unter- und Mittelschichten angezogen und bemüht sich in seinen Zeichnungen um eine in ­ihrer Schlichtheit allgemein verständliche Linie. Das Übergangsregime lässt zu Beginn des Erscheinens von Gırgır keine Parteien zu. Gırgır erlangt in kurzer Zeit den Ruf einer unabhän­gigen Satirezeitschrift, die Leser mit unterschied­lichsten politischen Auffassungen unter einem Dach vereint. Gleichzeitig erfordert der grandio­se Erfolg der Zeitschrift auch eine innovative Massenproduktion von Karikaturen. Aral eröffnet jungen Zeichnern Chancen und bildet sie aus. Viele der heute bei den federführenden Zeitschrif­ten LeMan und Penguen arbeitenden Zeichner stammen aus der so genannten »Gırgır-Ecole«.
Ramize Erer kritzelt im trendigen Café Cihangir ein breitbeinig sitzendes, böses Mädchen. Die Figur entwickelt sie seit Ende der achtziger Jahre immer weiter. Als Studentin an der Is­tanbuler Kunsthochschule Mimar Sinan mischt sie sich jeden Montag kurz vor Redaktionsschluss unter die etwa 40 Nachwuchszeichner, um Chefredakteur »Oguz Abi« Aral (gro­ßer Bruder Oguz) ihre Zeichnungen zu präsentieren. Es wurden nur immer einige wenige auf der Seite für Amateur-Zeichner publiziert. Die 17jährige Ramize trifft es hart, als Oguz Abi sie eines Tages anbrummt, aus ihr werde nie eine Karikaturistin, dafür liebe sie ihren Mädchenkitsch viel zu sehr. Zwei Wochen heult und schmollt sie, bis sie das erste böse Mädchen zeichnet: Es zeigt seinem stolz auf seine neuen Schuhe hinweisenden Bruder provokativ den nackten Busen. Ramize bekommt eine eigene Kolumne. Ihr Stil setzt sich durch. Er trifft den Nerv der Zeit, in den Achtzigern hat die türkische Frauenbewegung ihre Hochphase. Lange zeichnet Ramize für die feministische Zeit­schrift Pazartesi (Montag) eine Hausfrau, die in den Gasmann verliebt ist und permanent kocht und putzt, um endlich wieder Flaschengas bestellen zu können. Heute zeichnet sie für die linksintellektuelle Tageszeitung Radikal täglich eine Kolumne über die Abenteuer des »bösen Mädchens« oder das Beziehungsleben der Städter unter dem Titel »Gefährliche Be­ziehungen«.
Feyhan Güver lebt in einer der vielen künstlich entstandenen Trabantenstädte außerhalb Istanbuls. Adrette, in Pastellfarben getönte Mehrfamilienhäuser säumen geometrisch geordnete Straßen. Eine perfekte Infrastruktur mit eigener Universität, künstlichem See und Einkaufszentrum, genannt »Bahcesehir«, Gartenstadt. Auf den ersten Blick scheinen Feyhans Karikaturen so gar nicht zu ihrem Leben zu passen. Eine adrette, minimalistisch eingerichtete Wohnung, der sechsjährige Sohn schaut pädagogische Zeichentrickfilme am Kinderfernseher.
Die Heldinnen aus Feyhans Kolumne »Wilde Rose« jedoch sind Mädchen und Frauen aus einem türkischen Dorf. Sie verkörpern die geheime Macht der Frauen in einer Männergesellschaft. Das in der soziologischen Literatur viel beschworene Frauenkollektiv der dörflichen, orientalischen Gesellschaft wird hier liebevoll ironisch zugespitzt: Die Schwiegertochter seufzt: »Ich stelle mir mein Eheleben in leuchtenden Farben vor.« Die Schwiegermutter zeigt ihr daraufhin ein Regal mit vielen bunten Einmachgläsern. Trotz dieses lakonischen Realismus ist die dörfliche Gesellschaft das Reich der »Wilden Rosen«, Ehrenmorde lassen sie in ihrer Welt nicht zu, sondern importieren städtische Angebote wie Kampfsport für Frauen in das Dorf. Feyhans Zeichnungen stechen aus der sonst eher die urbane Türkei thematisierenden Karikaturen-Szene hervor.
Feyhans frühe Kindheit spielte sich in der Idylle eines Dorfes in Thrakien nahe der bulgarischen Grenze ab. Der Vater war Dorflehrer, die Mutter eine die Kinder umsorgende Hausfrau. Als der Vater in Berlin eine Stelle als Lehrer für Migrantenkinder annahm, wurde Feyhan im Grundschulalter in ein Internat nach Istanbul geschickt. Das verleidete ihr die Schule für immer, krank vor Heimweh nach den Eltern und der Dorfidylle begann sie zu zeichnen. Als die Eltern endlich aus Berlin zurückkehrten, eilte sie mit 17 in das Dorf zurück, um ihre Kindheit noch einmal um zehn Jahre zu verlängern. Da ihr Vater regelmäßig die Zeitschrift Gırgır mit nach Hause brachte, begann Feyhan ­eines Tages mit ersten Entwürfen zu den Wilden Rosen. Etwas anderes zu zeichnen, ist ihr bis heute nicht in den Sinn gekommen. Im Som­mer verbringt sie nach wie vor die Wochenenden bei den Eltern im Dorf. Ihr Mann, ein Kurde aus Diyarbakır im Südosten der Türkei, arbeitet als Lehrer im Nachbardorf. Feyhans Bahcesehir liegt auf halbem Weg zwischen der Lang­samkeit des Lebens im Dorf und der Schnelllebigkeit der Metropole Istanbul.
Ganz anders Asli Yazicioglu. Ihre Cartoon-Heldin Barbarella lehnt sich an Jean-Claude Forests Comic-Figur Barbarella aus den sech­ziger Jahren an. Die französische Barbarella war eine willige Science-Fiction-Sexpuppe, deren Abenteuer 1968 mit Jane Fonda in der Hauptrolle verfilmt wurden. Asli verbindet in ihrer Adaption unterschiedliche Elemente westlicher Figuren – wie auch die Barbarin Zeyna – zu ­einer sehr eigenen Science-Fiction-Gestalt, die die Gewalt an Frauen in der türkischen Ge­sellschaft thematisiert: mit einer Umkehrung der Rollenbilder.
Aslis Barbarella streicht durch eine utopische Dschungellandschaft und findet Gefallen an einem hübschen Jäger. Der überlässt sie jedoch drei dunklen, widerwärtigen Gestalten, die Barbarella kurzerhand mit dem Schwert in Stücke haut. Dann zwingt sie den Jüngling mit dem Schwert zum Sex. Barbarella treibt ihr Unwesen in Atom, einer Zeitschrift für die Zielgruppe zwischen 15 und 25.
Asli wohnt im Viertel Galata, das inzwischen immer mehr in Mode kommt. Aber immer noch leben dort überwiegend konserva­tive Migranten, die seit zehn Jahren islamistische Parteien in die Stadtverwaltung wählen. Es ist relativ anstrengend, als Frau allein durch dieses Stadtviertel zu gehen, zumal die Istanbuler Bordell-Straße in der Nachbarschaft liegt. »Ich habe einfach meinen Gang und auch meine Stimmlage vermännlicht«, erklärt Asli. Wenn jemand sie auf der Straße anmacht, brüllt sie ihn an. In ihren Zeichnungen kompensiert die 29jährige die Brüche des Alltags mit viel Phan­tasie.
Atom versteht sich als Plattform für experimen­telles Zeichnen. Auch Chefredakteur Bahadır Boysal zeichnet eine Cartoon-Serie über eine starke Frau. »Sanal Simge« ist Cyber-Luder, eine Istanbulerin, die sich nichts gefallen lässt und alle moralischen Tabus verachtet. Das Cyber-Luder jagt Männer im Chat-Room und lässt sie am Ende des Zeichenabenteuers immer als blamierte Idioten zurück. Der 32jährige Boysal stammt aus einer konservativen Familie und wuchs im Süden, in der Provinzhauptstadt Ada­na auf. Mit 17 zog er nach Istanbul, studierte Kunst an der Kunstakademie Mimar Sinan und avancierte zum wichtigsten Nachwuchstalent der Gruppe um die Zeitschrift LeMan.
Der Teegarten an der Firuzaga-Moschee erinnert ihn ein wenig an Adana. Das Leben im Istanbuler Trendviertel Beyoglu ist für die meisten der Zeichner momentan der Ort der Inspiration, denn hier spiegeln sich alle Brüche der Gesellschaft. Boysal zeichnet Ministerpräsident Erdogan als blasiert aussehendes Kamel mit Oberlippenbärtchen. Die anderen Zeichner lachen zustimmend. Vielleicht das nächste skandalträchtige Titelbild.

Unsere Autorin ist Kuratorin der Ausstellung »Die Nase des Sultans« sowie Herausgeberin des gleichnamigen Buches über die Karikatur in der Türkei. Die Ausstellung ist im Museum der Weltkulturen in Frankfurt/Main noch bis zum 16. November zu besichtigen und gehört zum offiziellen Sonderprogramm der Buchmesse. Sie wird anschließend in Wien gezeigt. Das Buch zur Ausstellung ist im Verlag Dagyeli erschienen.