Ein Gesellschaftskritiker muss auch Tieranwalt sein

Anwalt der Tiere

Die Forderung, Tieren gewisse Rechte einzuräumen, ist keine Absage an die Menschenrechte – im Gegenteil. Eine Antwort auf die Beiträge von Ivo Bozic und Jan Gerber.

Manche Linke gerieren sich bekanntlich gerne als die letzten Verteidiger von Zivilisation und Fortschritt. Folgerichtig kennen sie auch keine größere Bedrohung für Zivilisation und Fortschritt als andere Linke, die vom Pfad der Erkenntnis abgewichen sind und reaktionäres Gedankengut in die eigenen Reihen tragen. Das gilt für manche Tierrechtler, deren von Jan Gerber (Jungle World 39/08) zitierter Furor gegen »Aasfresser« in keinem rationalen Verhältnis zu seinem Anlass steht. Es gilt aber nicht minder für Gerber selbst, der es offenbar nicht verkraften kann, dass auch Andersdenkende Horkheimer und Adorno zitieren, und angesichts dieser Blasphemie jeden Realitäts- und Sachbezug verliert: »Nicht mehr die Menschen sollten aus dem harten Griff der Verhältnisse befreit werden, sondern die Tiere aus ihren Käfigen, die Natur sogar von der menschlichen Zivilisation.« Wer kennt sie nicht, Gruppen wie »Freiheit den Tieren – Unterdrückung den Menschen« oder »VeganerInnen für intensivierte Ausbeutung des Proletariats«.
»Die Menschen«, behauptet Gerber, würden von den Tierrechtlern »auf ihre bloße Kreatürlichkeit, auf Schlafen, Trinken, Essen und Fortpflanzungssex reduziert«. Wie kommt er auf diese haltlose Behauptung? Ist es etwa der Verzehr von Fleisch, Eiern und Milchprodukten, der den Menschen über seine »bloße Kreatürlichkeit« erhebt? Und ist »Fortpflanzungssex« nicht eigentlich die un­kreatürlichste, weil rein zweckorientierte Variante genitaler Aktivität, im Gegensatz zum vermeintlich triebgesteuerten »Lustsex«, der eigentlich gemeint sein müsste?

Das Engagement für Tierrechte hält Gerber für derart reaktionär und böse, dass es ganz unvermeidlich mit den ärgsten Formen von Menschenverachtung und Regression einhergeht. Bei aller Plattheit des Ressentiments entwickelt das Gerbersche Pamphlet am Ende doch einen gewissen Unterhaltungswert, wenn es nach den ebenso unsäglichen wie unvermeidlichen Nazivergleichen ins offen Wahnhafte abgleitet: Im Verzehr von Sojaprodukten erkennt Gerber eine verschärfte Form von »Geißelung und Entsagung« und schließt haarscharf, vegane Tierrechtler seien potenzielle Massenmörder, die nur darauf warteten, alle Aasfresser eigenhändig in Kleinteile zu zerlegen. Gerber hat wirklich große Angst vor Veganern, so viel ist klar. Für das eigentliche Thema, für die Frage der Tierrechte und das reale Problem der Tierquälerei in der modernen Gesellschaft hat er freilich nicht eine einzige Silbe übrig. Diese Debatte sollen Nazis und solche, die es werden wollen, wohl unter sich führen.
Im Vergleich dazu fällt Ivo Bozics Kritik (37/08) geradezu moderat aus. Freilich destruiert auch er ein frei erfundenes Zerrbild »der« Tierrechtsbewegung, die angeblich ohne jede Differenzierung die Ausdehnung der Menschenrechte auf Tiere fordert – wenn auch nur auf solche »mit großen Augen, die einen traurig oder süß angucken können«. So uninteressant wie das Phantom, gegen das Bozic anschreibt, so wohlfeil sind denn auch seine Argumente. Immerhin anerkennt er im Gegensatz zu Gerber, dass das den Tieren zugefügte unnötige Leid tatsächlich zu verurteilen ist, und er stellt die richtige Frage: Mit welchen Gründen lassen sich bestimmte Rechte Menschen zu-, Tieren aber absprechen? Bozics Antwort ist erstaunlich: »Die Tatsache, dass wir«, nämlich die Tierrechte ablehnenden Verfechter universeller Menschenrechte, »ausgerechnet zwischen Menschen und den restlichen Tieren trennen, ist nicht biologisch oder ethisch zu begründen. Jede andere Grenzziehung aber auch nicht.« Seltsamerweise versteht Bozic dies als Argument dafür, die von ihm präferierte Grenzziehung zwischen allen Menschen auf der einen, allen Tieren auf der anderen Seite für sakrosankt zu erklären und »jede andere« ebenso unbegründete Grenzziehung für höchst gefährlich, weil die Menschenrechte relativierend.
Den Ansatz, Rechte aufgrund von Fähigkeiten zuzusprechen – etwa der Fähigkeit zu leiden, zur Selbstreflexion, zur Entwicklung von auf die eigene Zukunft bezogenen Absichten etc. –, lehnt Bozic scharf ab, weil diese Fähigkeiten ja auch manchen Menschen abgingen. Dabei offenbart er allerdings eine völlige Unkenntnis der von ihm aufgegriffenen philosophischen Debatte. So argumentiert Bozic, die Fähigkeit zur Selbstreflexion scheide als Kriterium aus, weil sonst schlafende und bewusstlose Menschen keine Menschenrechte hätten – hanebüchener Unsinn, denn natürlich bezieht sich der Fähigkeitenansatz auf den Besitz und nicht die Ausübung einer Fähigkeit. Es gibt im Übrigen zahlreiche argumentative Möglichkeiten, innerhalb des Fähigkeitenansatzes Menschenrechte auch auf jene auszudehnen, welche die entsprechenden Fähigkeiten zwar nicht haben, aber in der Zukunft entwickeln können (Babys), in der Vergangenheit besaßen (z. B. Demenzkranke) oder unter anderen Umständen hätten entwickeln können (geistig Behinderte). Das Problem der willkürlichen Grenzziehung lässt sich mit Bozics dogmatischer Etablierung des Tier-Mensch-Dualismus ohnehin nicht umgehen, wie sich an der Frage zeigt, ab wann einem werdenden oder heranwachsenden Menschen bestimmte Rechte zugesprochen werden sollen.

Als gänzlich hinfällig erweist sich Bozics Posi­tion im letzten Absatz seines Textes, wo im völligen Widerspruch zu allen vorherigen Äußerungen plötzlich doch die Sonderstellung des Menschen begründet wird, und zwar mit dem bis dahin so eifrig bekämpften Fähigkeitenansatz: Das Besondere sei nämlich, »dass der Mensch … sich entscheiden kann … Genau diese Fähigkeit ist es jedoch, die den Menschen von allen anderen Spezies unterscheidet und auf der jede Kultur und Zivilisation gründet – und zugleich ist sie das offensichtlichste Argument gegen Antispezies­ismus.« Menschenrechte gibt es bei Bozic nur als Gesamtpaket, und entsprechend meint er nun auch, sie an eine einzige Fähigkeit knüpfen zu können. Freilich entspricht es nicht den Tatsachen, dass sämtliche Tiere zu jeder Art von Entscheidung und Kultur unfähig wären. Außerdem erscheint es keineswegs plausibel, dass z. B. physische Qualen nur dann von Übel sind, wenn das gequälte Wesen (oder die Spezies, der es angehört) über eine ausreichend entwickelte Kulturfähigkeit verfügt.
Die Berufung auf die Menschenrechte hat ihre Berechtigung, sofern sie ethische und politische Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnet, hinter die sich als progressiv verstehende Kritik nicht zurückfallen darf. Es ist aber weder klar, wie die Menschenrechte zu begründen sind, noch welche Rechte dieser Begriff im Einzelnen umfasst und ebenso wenig, welche systematische Rolle er spielen soll. Handelt es sich bei den Menschenrechten um eine normative Tatsache, die anzuerkennen ist, wie in der traditionellen Naturrechtstheorie? Oder handelt es sich letzten Endes doch um eine von Menschen geschaffene, historischem Wandel unterworfene Institution?
Traditionell gelten Menschenrechte als überpositive Rechtsstandards, an denen das positive Recht jedes Staates zu messen ist. In den Bereich der Moral wurde der Begriff erst im Nachhinein importiert, als die Menschenrechtstheorie sich als vorherrschende Legitimation der bürgerlichen Gesellschaftsordnung etablierte. Die Unterscheidung zwischen moralischen und politischen Forderungen ist essenziell. Nur wenige Tier­rechtler fordern eine Kriminalisierung jeglichen Fleischkonsums. Damit bleibt die Entscheidung für oder gegen eine vegetarische oder vegane Ernährung dem Gewissen jedes einzelnen Menschen anheimgestellt. Es gibt ernstzunehmende Gründe dafür, menschliches Leid wesentlich schwerer zu gewichten als das einer Kuh, eines Hundes oder eines Huhns. Wenn aber das von Menschen verursachte Leid der Tiere schlechthin für keiner Rechtfertigung bedürftig erklärt wird, rückt dies auch die Forderung, menschliches Leid zu verhindern, in ein zweifelhaftes Licht.

In der überwältigenden Mehrheit der Fälle steht dem Tieren zugefügten Leid kein substanzieller Nutzen für die Menschen gegenüber, sondern nur die Aufrechterhaltung einer irrationalen, hypertrophen Agrarindustrie und eines keineswegs hedonistischen, sondern nur maßlosen und unvernünftigen Lebensstils. Daher halte ich es für richtig, dass eine am Wohl der Menschen orientierte Gesellschaftskritik sich auch zum Anwalt der Tiere zu machen hat. Wie weit diese Forderung auszulegen ist und welche Priorität ihr in der politischen Agenda der Linken zukommen soll, dies sind schwierige Fragen.
Pauschalisierende Polemik kann eine eigene Positionierung zu den konkreten Sachfragen nicht ersetzen. Auch den Tierrechtlern geht es selbstverständlich nicht um Wahlrecht für Wühlmäuse und Meinungsfreiheit für Mistkäfer. Die meisten von ihnen treten nicht für eine Nivellierung der Unterschiede zwischen Mensch und Tier oder die rückschrittliche Parole »Zurück zur Natur« ein, sondern für den Schutz von Tieren vor unnötigen Qualen und sinnloser Ausrottung. Es ist absolut nicht ersichtlich, wieso dieses Anliegen zur Unterhöhlung und nicht etwa zur Stärkung der Menschenrechte beitragen sollte.