In Hari Kunzrus Roman »Revolution« scheitert ein ehemaliger Linksmilitanter

Der ewige Revolutionärs-Anwärter

In diesem Leben geht nichts vor und nichts zurück: Hari Kunzru schildert in seinem großartigen Roman »Revolution« das doppelte Scheitern eines ehemaligen Linksmilitanten.
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Das Geheimnis des guten Lebens enthüllt Hari Kunzru gleich am An­fang des Buches: Zelte aufbauen, genauer: Festzelte aufbauen. Weil man sich da nämlich permanent in einer Atmosphäre ansteckender Vorfreude auf Feste, Konzerte, Jubiläen bewegt, also immer in einer Art erregtem Ausnahmezustand ist. Der 50jährige Protagonist von Kunzrus Roman »Revolution« wollte einst einen solchen Ausnahmezustand permanent erleben, und der Wunsch nach dem aufregenden Leben ließ ihn zum Revolutionär werden. Davon aber weiß seine Frau nichts. Sie kennt nicht einmal seinen wahren Namen, so geschickt hat er sich seine neue Existenz aufgebaut, in einer ihm frem­den Zeit, einem ihm fremden Leben.
Seine Frau Miranda ist soft, esoterisch, ökologisch, naiv, in der Jugend war sie ein bisschen Punk, später machte sie in Naturkosmetik. Sie ahnt nichts vom linken Vorleben ihres Gatten, als sie den Mann, den sie als Michael Frame kennt, zu einer großen Party im eigenen Landhaus überredet: An seinem 50. Geburtstag, an dessen Morgen er den Arbeitern wehmütig beim Zeltaufbauen zusieht, außerdem Durchfall hat und sich vor den Plakaten seiner Frau ekelt, die für Kräutermischungen werben, weiß er plötzlich, dass der Moment gekommen ist, an dem sein mühselig verborgenes Vorleben aus seiner, wie er es nennt, »geologischen Vergangenheit« sein gegenwärtiges Dasein zu zerstören droht. Er packt also seine Sachen und haut ab: am Mor­gen des Tages, als Michael Frame 50 wird, fünf Wochen vor dem eigentlichen 50. Geburtstag von Chris Carver, wie Michael Frame eigentlich heißt.
1970 war er in den Untergrund gegangen und hatte sich die Tarnexistenz zugelegt, mit der er genau bis zu diesem Morgen des mittlerweile angebrochenen New-Labour-Zeitalters leben konnte.
Mit diesem Umbruch im Leben eines gescheiterten Revolutionärs-Anwärters eröffnet Hari Kunzru sein brillant erzähltes Buch, dem man gerne verzeiht, dass die Dialoge mitunter sehr plakativ sind, was ja nicht zuletzt an den Charak­teren selbst liegt, die der Autor entworfen hat. Die Personen agieren meist in einer Vergangenheit, in der gerne mit Mao-Zitaten Emotionen wie z.B. Eifersucht weggewischt werden oder Wut rationalisiert wird. Auch die zunächst nahe­zu grotesk wirkenden Zufälle, die das zweite Leben des Ich-Erzählers Chris/Michael schließlich kollabieren lassen, verzeiht man Buch und Autor gern, zumal sich all die Merkwürdigkeiten schließlich als nicht ganz zufällige Begebenheiten entpuppen: Da ist die Begegnung mit dem alten Underground-Kumpel Miles, der tatsächlich der Spitzel war, für den ihn viele – außer Chris/Michael selbst – gehalten haben. Da ist die vermeintliche Entdeckung Annas, einer ehe­ma­ligen Genossin, die zugleich das politische wie amouröse Idol in der bewaffneten Gruppe war, die sich Anfang der siebziger Jahre auf einen sich stets beschleunigenden Todestrip begab.
Chris/Michael und seine Ehefrau Miranda repräsentieren in bisweilen schmerzlicher Deut­lichkeit das Auseinanderdriften der Lebenswelten in den späten Siebzigern: Miranda ist ein an sich hochkonventioneller Charakter mit ihrem trendgerechten ökologischen Lebensentwurf, der schließlich in eine Karriere als Wellness-Unternehmerin mündet. Michael wird dagegen nicht losgelassen vom alten Leben des Chris Carver und der alltagsästhetisch un­wider­steh­lichen Revolte, die ideologisch allerdings früh missraten ist. Er kann seine Vergangenheit nicht abstreifen, eine Vergangenheit, von der gesellschaftlich nichts als politische Fehlurteile geblieben sind und die ihn in ihrer subjektiven Radikalität weiter fasziniert und ihn zu einem Fremden in einer neuen Epoche macht.
1981 ist das Jahr, in dem Michael Frame nach einer langen Reise bis ans Ende der Dunkelheit wieder in England eintrifft, ohne recht verdauen zu können, was in den Jahren seiner Flucht vor den Konsequenzen des antiimperialistischen Terrors mit dem Land geschehen ist. So zieht er sich in seinem kleinstädtischen Refugium in ein Antiquariat zurück, »wo die ­Bücher zum Sterben hingehen«, wie Kunzru schreibt. Dort holt ihn die Vergangenheit dann endgültig ein, sowohl in Gestalt von Miles als auch beim Graben in den Bücherkisten.
Kunstvoll entspinnt Kunzru aus dieser Situation eine literarische Reise auf zwei parallelen Routen. Die innere Reise führt von 1964 bis in die Gegenwart, seine tatsächliche Reise führt nach Südfrankreich und dauert drei Tage, auf der Flucht vor Miles, vor dem Enttarnt-Werden, vor der späten Rache des Staates und nicht zuletzt vor der Enttäuschung Mirandas. Deutlich erinnert die Erzählweise an Film und Musik, an Antonioni und Acid Rock, wenn sich in assoziativer Montagetechnik die Zeitebenen einer Lebensreise verbinden. Kunzrus Reise nach innen und in die Vergangenheit findet im Gegensatz zu Bernward Vespers deutscher »Reise« allerdings bei klarem Verstand statt, alles spielt sich ab im Kopf eines Menschen, der das überlebte, was Vesper tötete. Vesper wurde irre über den Trips, Chris/Michael ist zumindest vom Heroin losgekommen. Auch das alles andere als zufällig: Während Vesper an der Hassliebe zu seinem Nazi-Vater-Über-Ich zugrunde ging, spielt sich in Chris/Michael ein anderer Konflikt ab: der zwischen dem subversiven Utopismus, der ihn antreibt, und dem todessüchtigen Antiimpe­rialismus, in den die radikale Kommune, in der er seit 1968 lebt, hineintreibt – und die ihn schließ­lich, als seine Gruppe sich dem Netzwerk der PFLP anschließt und man sich anschickt, »Zionisten« in England erschießen zu wollen, aus allem wegtreibt. Er verlässt die Gruppe, das Land, flüchtet in den Verrat und ins Heroin.
Kunzrus Vorlage für die Gruppe ist vordergründig die Angry Brigade, die zwischen 1970 und 1972 insgesamt 25 Bombenanschläge ausführte, die – ganz ähnlich den Aktionen der ame­rikanischen Weathermen – nur auf Sachschaden ausgerichtet waren und bei denen nur ein Mensch leichte Verletzungen erlitt. Die führenden Mitglieder wurden 1972 verhaftet und zu je zehn Jahren Haft verurteilt.
Im Roman steigt der Protagonist genau an dem Punkt aus, als sich die fiktive Brigade endgültig in eine Mischung aus RAF und RZ verwan­delt, als aus radikalisiertem Protest offener Antisemitismus wird. Die fiktive militante Gruppe trägt zum einen Züge des deutschen Terrorismus, was die Politisierung angeht, aber auch Züge der angloamerikanischen Gruppen in Lon­don und Berkeley, was den subkulturellen Exzess angeht. Anna entpuppt sich als Gudrun Ensslin und Sean als Andreas Baader. Gerade durch den in diesen Symbolfiguren angelegten, aber bei den englischen und amerikanischen Stadtgueril­lagruppen in Wirklichkeit nicht vollzogenen Schritt zur Selbstmordsekte gelingt Kunzru die Darstellung der heute kaum mehr nachvollzieh­baren Transformation der vielleicht radikalsten ästhetischen und alltagsrevolutionären Phase des 20. Jahrhunderts in die Ideologie primitiver Volkstümelei und existenzialistischer Gewalt-Verliebtheit moderner Großstadt-Narodniki.
Seinem 68 hält der Verräter Chris/Michael nämlich die Treue, gerade weil er, wie Kunzru schreibt, »das Zischen des Zyklon B« nie ganz weg­analysieren konnte und keineswegs glaubt, in der besten aller möglichen Welten zu wohnen. Die Utopie wühlt weiter in ihm, eine unbestimm­te Vorfreude auf das nicht Alltägliche, die atemlose Erwartung der Unterbrechung des Gewöhn­lichen – das, wovon die Zeltarbeiter täglich einen Vorgeschmack haben, das ist es, was den altern­den Linksradikalen in überwältigender Erinnerung am Leben hält und was ihn zugleich am All­tagsleben hindert. Eine unmögliche Konstellation: Die vollkommen verstellte Utopie und das süße Gift der Rebellion gegen das normierte Leben gehen zusammen mit dem klaren Wissen, dass es vorerst kein Leben außerhalb der Norm geben kann, das nicht unmittelbar der Todessehnsucht verfiele. Das einzugestehen, macht Kunzrus Buch zur bittersüßesten Lektüre des Jah­res.

Hari Kunzru: Revolution. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Blessing, München 2008, 415 Seiten, 19,90 Euro