Die ontologische Grundkonstellation des 20. Jahrhunderts wird von Michael Wildenhain im »Träumer des Absoluten« zu Grabe getragen

Die Gleichung, die nicht aufgeht

Michael Wildenhain ist ein Chronist der Berliner Hausbesetzerszene. Mit seinem neuen Roman »Träumer des Absoluten« ist ihm ein großartiges Generationentableau geglückt.

Es ergibt keinen Sinn, Bocksprung zu trainieren. Es ist nicht vernünftig.« Als Tariq Kemal Gabriel al-­Fatoum Anfang der siebziger Jahre im Sport­unterricht an einer West-Berliner Schule seinen Lehrer mit dieser Aussage düpiert, hat er sich die Aufmerk­samkeit aller Beteiligten gesichert. Tariq, der mit seiner Mutter aus dem Libanon nach West-Berlin gekommen ist, ist im besten Sinn begabt. Früh an mathematischen Problemen inter­essiert, ist er für seinen Freund Jochen auf eine Weise vertraut und zugleich anders, die Distanz dem Fremden gegenüber bedeutet, aber auch Nähe zulässt. Tariq ist kein Außenseiter, aber es ist nur ein sehr dünner Faden, der ihn mit den Anderen und der Welt verbindet. Tariq ist eine der Hauptfiguren von Michael Wildenhains neuem Roman »Träumer des Absoluten«. Er ist über verschiedene Stationen seines Lebens im Roman der Freund des Ich-Erzählers Jochen. Er ist für Jochen ein Freund im Sinne einer alten philosophischen Konzeption. Er ist für Jochen der Andere, den er als Bruder empfindet und dabei aber immer merkt, dass ein gewisser Abstand bleibt. Ein Abstand, den Jochen nicht fassen kann und der die Freundschaft in einer Spannung hält, die jederzeit die Möglichkeit offen lässt, dass Tariq Jochen in Frage stellt. Der Faden der Freundschaft kann jederzeit reißen und damit auch das Band zur Welt. Das Verhältnis zur Welt ist für Tariq sowieso gespannt.
Ohne Vater, den, wie er einmal kurz sagt, »die Juden getötet haben«, ist er in einem doppelten Sinn vaterlos. Er lebt in einer spirituellen Welt, die von »keinem guten Gott« beherrscht wird. »Das ist kein guter Gott, von dem Sie spre­chen«, sagt er einmal zur Lehrerin für »Christen­lehre«, als er sich aus Versehen in den Religionsunterricht verirrt, von dem er ansonsten be­freit ist. Es sind kurze Statements, wie die hier zitierten Sätze, mit denen Wildenhain Tariq zu einer Figur werden lässt, wie man sie zurzeit sonst in der Literatur nicht findet. Die Sollbruch­stellen in Tariqs Haltung zur Welt lässt Wildenhain immer nur ganz kurz, aber so intensiv aufscheinen, dass es einem beim Lesen einen Schreck einjagt. Und weil diese Brüche von Jochen geschildert werden, wirken sie ganz besonders drastisch. Jochen ist in dieser Freundschaftskonstellation derjenige, der seinen Weg macht. Jochen teilt von Anfang an Tariqs Begeis­terung für die Axiome und Fragen der Mathematik. Für beide folgt daraus ein strenger Blick auf die unvernünftige Organisation der Welt. Das politisiert sie, und es treibt beide nach dem Abitur in die politischen Kämpfe der achtziger Jahre.
Bei dem 1958 geborenen Wildenhain führen alle Wege immer wieder in die Hausbesetzer­szene West-Berlins, die der Autor aus eigener Er­fahrung kennt. Das ist die Kontinuität in seinem Werk, in die sich der neue Roman einerseits einfügt, mit der er aber auch entscheidend bricht. »Träumer des Absoluten« ist sein bisher bestes Buch, und es macht auf eine anschau­liche Weise deutlich, dass es für einen Autor bis­weilen gut sein kann, hartnäckig bei seinem Thema zu bleiben. Wildenhain war schon immer an Geschichte interessiert, und Geschichte hat für ihn bis heute mit dem Versuch zu tun, die überkommene Ordnung zu sprengen.
Nur kommt an der Geschichte eben auch der nicht vorbei, der ihren Verlauf ändern will. Und das macht den »Träumer des Absoluten« etwa im Unterschied zu Christian Krachts ak­tuellen Sprachspielen über eine phantasierte leninis­tische Dikatur in der Schweiz (»Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«) zu einem Gedankenspiel der Jetztzeit. Wildenhains neuer Roman ist nämlich auch deshalb besser als sein 1991 erschienener Hausbesetzer-Roman »Die kalte Haut der Stadt«, weil das 20. Jahrhundert nunmal vorüber ist und Wildenhain darauf reagiert. »Das Jahrhundert ist vorbei«, sagt Tariq einmal, »und wir haben es vergeigt, daraus etwas anderes zu machen als den Quatsch, der gerade in den letzten Winkeln der Welt neue Autocenter oder Wal-Marts aufstellt, ohne die Leute zu fragen oder sich darum zu kümmern, ob der Mist überhaupt in die Landschaft passt.«
Als Tariq das sagt, ist er allerdings schon durch die Kämpfe der Zeit hindurchgegangen, ist als Kronzeuge in einem Prozess gegen die Revolutionären Zellen aufgetreten, hat sein Gesicht umoperieren lassen und arbeitet unter einem neuen Namen mit einer neuen Existenz ausgestattet als Skilehrer am Mont Blanc.
Jochen ist zu dieser Zeit bereits Mathematikprofessor und Vater zweier Kinder und so im pragmatischen Ideal des 21. Jahrhunderts angekommen. Seine Devise lautet: »Geld, Familie, Wahlen«. Als sich die beiden Freunde zum letzten Mal in einer Skihütte am Mont Blanc treffen, hat sich Tariq aus dem Westen verabschiedet. Es gibt nur ein Bild von einem bärtigen Mann, den der Leser ruhig für einen islamistischen Prediger halten darf, denn Tariq betet bei diesen Treffen öfter, als es die Wächter des Islam erlauben. Mit dem Treffen endet nicht nur der Roman, sonder auch ein Leben. Wer von den beiden aus dem Leben tritt, kann man, wenn man es nicht schon ahnt, selbst nach­lesen. Wichtiger aber als die nie langweilige Nach­zeichnung des Weges von Tariq, Jochen und Judith Fischer, der weiblichen Hauptperson, die mit beiden Männern befreundet ist, Verhältnisse hat, Tariq zuerst im linksradi­kalen politischen Kampf begleitet und später nach der Kampfzeit den Mathematikprofessor heiratet, ist an Wildenhains Buch etwas anderes.
Wildenhain schafft es tatsächlich, mit seiner Geschichte die ontologische Grundkonstella­tion des 20. Jahrhunderts zu zeigen und zu Grabe zu tragen. Das Gesetz des 20. Jahrhunderts, sagt der in der Linken plötzlich wieder populäre französische Philosoph Alain Badiou, ist die totale Figur der Zwei. Das 20. Jahrhundert hat ein unglaubliches Vermögen hervorgebracht, Zweien zu erfinden, die keine Synthese, keine Überwindung des inneren Widerspruchs erwarten lassen. In diesem Sinn ist das Ende des Kalten Krieges, des Kampfes zwischen amerikanischem Imperialismus und sozialistischem Lager, das Ende der letzten totalen Figur der Zwei und damit auch das Ende des Jahrhunderts. Die Zwei ist damit an ihr Ende gekommen und in eine Eins übergegangen, die schreck­licher werden könnte als alles, was alle Zweien des 20. Jahrhunderts je zustande gebracht haben. Das ist der trübe Zustand des siegreichen Kapitalismus als alternativlose Veranstaltung.
Aber das ist nur eine unvollständige Eins, eine halbierte Eins, wie man mit Jürgen Habermas sagen könnte. Bei Wildenhain gibt es am Ende die kurze Überlegung zur Eins als natür­licher Zahl und zum Rechnen mit reellen Zahlen, der Vereinigungsmenge von rationalen und irrationalen Zahlen. Demnach folgen alle Singularitäten aus der Eins, nicht aus der Zwei. Das klingt abstrakt, ist es aber nicht mehr, wenn man die Singularitäten, die aus der Eins folgen, als bedürftige Menschen setzt, die allein nie vollständig werden, weil sie immer einen anderen brauchen, um zur Liebe zu kommen. Liebe heißt, ich habe ein Bedürfnis, ich brauche einen anderen, Liebe ist das Zugeständnis einer Schwäche. Sie hat ihr Zentrum nicht bei mir, sondern immer nur mit anderen. Oder mit den Worten des Philosophen der Eins, Gottfried Wilhelm Leibniz: Liebe ist Freude am Glück eines anderen.

Michael Wildenhain: Träumer des Absoluten. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 334 Seiten, 19,90 Euro