Magnus Mills auf den Spuren von Männern, die auf Entdeckungsfahrt gehen

Gut organisiert

Wenn Männer auf große Entdeckungsfahrt gehen und es dabei nicht nur kein Ziel gibt, sondern auch keinen Sinn, aber trotzdem alles immer weitergeht, muss es sich um den neuen Roman von Magnus Mills handeln.

Zu Beginn eines neuen Jahrhunderts, jedes neuen Jahrhunderts überall auf der Welt, gehen echte Männer auf große Entdeckungsfahrt. Sie schnüren ihr Bündel und brechen auf zu fernen Küsten, sie tragen das Licht der Erkenntnis und der Zivilisation ins Dunkel noch der unbekanntesten Wüsteneien und scheuen dabei weder Gefahr noch Entbehrung. Und sie wagen es, der Realität in die hämisch grinsende Fratze zu blicken und die Dinge beim schrecklichen Namen zu nennen: »Es wird keine Form von Luxus mehr geben«, hört man sie dozieren, die Stimme kalt vor Effizienz, der Blick stählern. »Keine dick mit Butter bestrichenen Toastbrote. Keine Orangenmarme­lade oder Zitronenbrotaufstrich. Und keinen Gute-Nacht-Kakao.«
Der da spricht, hat das Unglück, Protagonist in Magnus Mills’ neuem und jetzt auch auf Deutsch erschienenen Roman »Die Entdecker des Jahrhunderts« zu sein. Als Mitglied einer von zwei um Ruhm und bares Geld im Wettstreit liegenden Expeditionen plagt er sich über viele Seiten hinweg, um ans Ziel zu gelangen. An wel­ches Ziel? Das Ziel eben, jenes, das man erreicht, wenn man immer weiter vorwärts geht, nicht zu viel fragt und möglichst nicht aus der Reihe tanzt. Allerdings sollte man schon bemüht sein, dabei immer fair zu bleiben, fair und menschlich und zivilisiert. Vor allem letzteres. Was man dort will, am Ziel, spielt zunächst keine Rolle.
Falls Sie Schwierigkeiten haben, dieses Konzept zu verstehen, sollten Sie wirklich mehr Romane von Magnus Mills lesen, dann werden Sie einem der Klassiker unter den Kalendersprüchen, »der Weg ist das Ziel«, ganz neue Aspekte abgewinnen. Es wäre nicht richtig, Mills’ Figuren durch die Bank zu unterstellen, sie seien ziellos. Einige von ihnen wissen ganz genau, was sie wollen, nur passiert dann eines dieser Dinge – Sie wissen schon: Eine Frau kommt zu Besuch oder man bekommt einen Job angeboten oder geht erst mal ein Bier trinken –, und dann kommt man wieder zu nichts. Es sind der Alltag und seine Macht über das Leben, die ­Mills faszinieren. Und ganz besonders, immer wieder, in all seinen Büchern, ist es die Arbeit. ­Mills beschreibt Arbeitsvorgänge mit einer manischen Detailversessenheit, man ist geneigt zu unterstellen, jemand müsse die Arbeit lieben, um so über sie zu schreiben. Allerdings ist die Arbeit in Mills’ Romanen kein dankbares Liebesobjekt, den durch sie gewonnenen Trost für den Moment bezahlen die Protagonisten grundsätzlich mit dem Leben. Nicht, indem sie sterben, das wäre nicht grausam genug. Vielmehr löst sich ihr Leben vor ihren Augen auf, wird zersetzt in immer neue und sich doch immer wiederholende Arbeitsschritte, ein Vorgang, der ihnen allerdings, weil sie doch so mit dem Arbeiten beschäftigt sind, meistens verborgen bleibt.
Bei der Lektüre, noch während man über das Geschehen lacht, stellt sich jedoch leises Unbehagen ein, weil man ahnt, dass dieses raffiniert gestrickte Netz nicht nur Mills’ traurige Helden betrifft. Nichts ist Ziel, nirgends ist Sinn, da ist immer nur der steinige, mühsame Weg. Allerdings wäre es albern und unangemessen, sich darüber übermäßig aufzuregen, ändern lässt sich die Situation nun nicht, also bleibt man am besten ruhig und reagiert vernünftig und durchdacht. So wie Tostig und Johns, die Leiter der beiden Expeditionsgruppen, deren Wettstreit zunächst nicht nur entfernt an den historischen zwischen Amundsen und Scott erinnert. Das Ziel ist hier zwar nicht der Pol, aber es gibt ein Ziel, ein gutes Ziel, eines, mit dem die zivilisierte Welt, die alles berechnen kann, auch noch ihre äußerste Grenze definiert hat.
Bei Mills erinnert dieser Vorgang an einen Hund, der versucht, seinen Schwanz zu fangen, oder an ein Kind, das seinem Schatten hinterherläuft. Nur spielt die zivilisierte Welt natürlich nicht dumm herum, sondern ist sehr viel ernst­hafter, als ein Hund oder ein Kind es ­jemals sein könnten. Die zivilisierte Welt ist näm­lich hochgradig ernsthaft, dabei auch aufrichtig, anständig und sehr gut organisiert. Das ist prima, weil es den Menschen ermöglicht, sich auf die wesentlichen Dinge im Leben zu konzen­trieren: »›In absehbarer Zeit wird man eine ganze Mahlzeit in einem Kubus nicht größer als ein Würfel unterbringen können.‹ ›Das hört sich nach einem unschätzbaren Vorteil an‹, sagte Thegn. ›Sicher ist das ein unschätzbarer Vorteil‹, bestätigte Tostig. ›Und natürlich gibt es auch einen versteckten Nutzen dabei. Es bedeutet, dass es uns erspart bleiben wird, mit Leuten zusammen zu essen, die wir nicht aus­stehen können. Wir können uns einfach unsere Würfel nehmen und alleine essen.‹«
Magnus Mills’ große Stärke zeigt sich auch in diesem Roman an der Art und Weise, in der er seine völlig in Routinen und Hierarchien gefangenen Figuren beschreibt, die so scheinheilig sind wie naiv und in all ihrer hilflosen Zwanghaftigkeit doch liebevoll gezeichnet. Mills schrieb einmal darüber, wie der Alltag beständig das ihn beschäftigende Thema reflektiere, dass Men­schen böse zueinander sein können, ohne es zu wollen. Das hat er verstanden, das zeigt er, er zelebriert es sogar: Jede Hoffnung auf Wahrhaftigkeit, Freundlichkeit oder Mensch­lichkeit wird nur geweckt, um sofort wieder zunichte gemacht zu werden in der großen Maschine, die gebaut ist aus Unvernunft und dem alles beherrschenden Drang nach geistloser Betätigung. Einen »Meister des Banalen« nannte Terry ­Eagleton Mills deswegen, und er hat Recht.
Das Problem des Romans ist allerdings, dass er ähnlich funktioniert wie eine Geburtstags­torte, aus der auf dem Höhepunkt der Feier ein besonders hässlicher und abstoßender Troll springt und irgendetwas brüllt. Weil der Troll so hässlich und abstoßend und überraschend ist, ist er ein guter Troll, und auf gar keinen Fall möchte ich hier zu viel über seine besondere Natur verraten. Das würde schließlich den Lesern die Überraschung verderben, sie wären enttäuscht und niemand hätte etwas gewonnen. Andererseits muss und möchte ich hier doch darauf hinweisen, dass der Troll ein politischer Troll ist, der so etwas wie ein, nun ja, Anliegen hat, und es dieses Anliegen ist, das er herausbrüllt, wenn er aus seiner Torte springt.
Und das ist das Problem, denn wo ­Mills sich explizit mit Politik beschäftigt, geraten ihm die Dinge ein bisschen zu naiv, zu plakativ, zu direkt und zu einfach. Das war bereits die große Schwäche seines letzten Romans, »Ganze Ar­beit«, bei dem man streckenweise das unangenehme Gefühl nicht los wurde, dass der Autor verzweifelt versucht, auf ein etwas diffus bleibendes politisches Ansinnen aufmerksam zu machen, mit Hilfe von großen roten Pfeilen und Leuchtfeuer und dergleichen. Darüber wurde die ganze Geschichte, zumindest für ­Mills’ Verhältnisse, absehbar und konventionell. Diesen Vorwurf kann man dem neuen Roman nicht machen, dennoch verirrt sich das Buch in politischer Hinsicht in die trüben Gewässer des gut Gemeinten und findet dort so recht nicht mehr hinaus. Alles in allem bleibt es jedoch ein feines Buch, aufrichtig, anständig und sehr, sehr gut organisiert.

Magnus Mills: Die Entdecker des Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Katharina Böhmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 195 Seiten, 19,80 Euro