Die politischen Enttäuschungen des spanischen Autors Rafael Chirbes

Heißes Fleisch und faule Früchte

Im neuen Roman von Rafael Chirbes sieht nicht nur der spanische Massentourismus alt aus.

Rafael Chirbes gilt als einer der wich­tigsten und besten Gegenwartsautoren Spaniens. Zu Recht, denn nachdem er die Romane »Der lange Marsch« (in Deutschland 1998 erschienen) und »Der Fall von Madrid« (2000 erschienen) vorgelegt hatte, war ein breites Lesepublikum von seinen ­Fähigkeiten überzeugt. Chirbes gilt als Meister des inneren Monologs – die Handlung setzt sich aus Gedankenfetzen und Äußerungen meh­rerer Protagonisten zusammen –, und immer ging es ihm bisher um die Franco-Diktatur, mit der er sich aus einer linken Position beschäftigte.
Dass im Laufe der Jahre aus ihm ein melancholischer und angesichts der Korruption der sozialdemokratischen PSOE, die das Franco-Regime nach dessen Tod 1975 abgelöst hat, auch ein erschütterter Linker geworden ist, wurde bereits an dem 2003 erschienenen Roman »Alte Freunde« offenbar. Und dass sich der Blick alternder Männer auf die Gesellschaft, insbesondere aber auf Frauen, von dem jüngerer Autoren unterscheidet, merkt man dem aktuellen Werk von Rafael Chirbes, »Krematorium«, an, dessen deutsche Übersetzung in diesen Tagen im Kunstmann-Verlag erscheint und das erstmals nicht den Franquismus, sondern dessen Folgeerscheinungen in der spanischen Gegenwart zum Thema hat.
Der Schauplatz des Romans ist die fiktive Stadt Misent, ein verschandelter Ferienort an der spanischen Mittelmeerküste, wo die Pro­tagonisten ihren Lebensmittelpunkt haben. Im Zentrum steht Rubén Bertomeu, ein korrupter Bauunternehmer, der maßgeblichen Anteil an dieser Verschandelung hat, damit reich ­geworden ist und seinen Aufstieg mit demo­kratischen Plattitüden rechtfertigt. Um ihn ­herum gruppieren sich seine Tochter Silvia und ihr Mann Juan, seine zweite Ehefrau Mó­nica, ­ei­nige Handlanger fürs Grobe, insbeson­dere Ra­món Collado, und der jüngere Bruder Matías. Doch in diesem Fall kann man von ­Lebensmittelpunkt nicht sprechen, denn Matías ist tot und liegt in einem Kühlregal im Kre­matorium, was allen Anlass bietet, sich über Matías und über das eigene Leben Gedanken zu machen.
Wie immer in den Romanen von Chirbes sind nahezu alle Protagonisten einst mit großen Hof­fnungen, die immer auch politische Hoffnun­gen waren, ins Erwachsenenleben gestartet. Wie immer sind sie gescheitert und ­haben sich als käuflich erwiesen. Mit Ausnahme vielleicht von Matías, der als linksradikaler Terrorsympathisant begann und als alkohol­kranker Ökobauer mit krebszerfressener Leber endete. Und wie immer reiht Chirbes die ge­danklichen Mono­loge seiner Protagonisten aneinander mit dem Ziel, ein Panorama der spani­schen Gesellschaft zu schaffen, diesmal das der Gegenwart. Doch was ihm in »Alte Freunde« – dort geht es um ein Panorama, das den Verfall der spanischen Linken aufzeigt, die einst ge­gen den Franquismus gekämpft hatte – gelungen ist, läuft in »Krematorium« aus dem Ruder.
Nicht, dass der Roman nicht glänzend konzipiert wäre. Das Problem ist der Inhalt. Warum eigentlich müssen männliche Schriftsteller ab einem gewissen Alter immer sexistisch werden? Warum fällt ihnen keine andere Metapher ein als die Frau? »Solange Rubén sich noch unter der Obhut seiner ersten Frau Amparo (und Amparo bedeutet Schutz) befand, uferten seine ›Geschäfte‹ noch nicht ins Kriminelle aus wie mit der zweiten, sehr viel jüngeren Ehefrau Mónica. Monica ist ein ›Kulturprodukt‹, das wir kennen lernen, als es sich mit Hingabe seiner täglichen Gesichtsmassage widmet. Mónica ist gleichermaßen überkandidelt und ich-bezogen wie Silvia, die ihren Ehe- und Arbeitsalltag mit gelegentlichen sexuellen Treffs mit einem jungen Liebhaber aufpeppt. Die spanischen Frauen, denkt Rubén derweil, sind wie Amphoren, während die nordischen eher Stuten sind.«
Nun ist es nicht zulässig, die Gedankengänge der Protagonisten mit denen des Autors zu verwechseln, und auch Chirbes darf, was er bisher nur sehr verhalten getan hat, auch mal deftig über Sex schreiben. Das Problem jedoch ist die feine Unterscheidung zwischen allem »Natürlichen« und dem vorgeblich Unnatürlichen. Mónica, für die Sex mit jungem heißem Fleisch natürlich wäre, statt an der Seite eines verfallenden 70jährigen zu leben, fällt gleichermaßen in die Kategorie des Unnatürlichen wie all die Korruption, das über Spanien hereinbrechende Ausland und die Moderne, gegen die der Altlinke Chirbes plötzlich anschreibt.
Um Rubén herum wimmelt es von Frauen, die schon lange nicht mehr Amparo heißen, von Frauen, die sich ständig schminken, viel Geld kosten und, das denken seine Handlanger, im Grunde alle Nutten sind. Im Roman wimmelt es auch von kriminellen Russen und anderen Osteuropäern, denen eine noch animalischere Sexualität zugeschrieben wird: Da wären der Zuhälter Trajan und seine Nutte Irina, die gleich­zeitig von ihrem Aufpasser Juri gefickt wird, was gefährlich ist, dieser aber nicht lassen kann. Auch Callado ist Irina verfallen und träumt davon, mit ihr nach Mexiko zu gehen, aber er fällt einem Brandanschlag zum Opfer, was wiederum durch die kriminellen Machenschaften ausgelöst worden ist, ohne die ein Bau­unternehmer in Spanien offenbar nicht auskommt.
Rubéns Tochter Silvia, die Restauratorin, grübelt derweil über das barocke Stilleben, über »Früchte in voller Reife, kurz bevor die Fäulnis einsetzt«, und man weiß sofort: Auch das ist eine Metapher, auch das wieder soll Spanien sein: korrupt und voll verbrannter Erde, die Rubén dann erschließen und mit Ferienanlagen zukleistern kann, die später von Nord­europäern heimgesucht werden. Sie haben der Region Geld gebracht, aber auch die Entfremdung vom natürlichen Leben, das Matías zum Schluss auf dem Grund der Flasche suchte, Collado im Bordell und Rubén bei einer viel zu jungen Frau.
Der Traum von Mexiko, von einem ursprünglicheren, natürlicheren Leben, spielt eine gewisse Rolle, Matías’ Sohn hat sich dorthin aufgemacht und kann nicht zur Beerdigung zurück­geholt werden, und wie in »Alte Freunde« arbeitet Chir­bes auch in »Krematorium« mit der Krebsme­tapher. Matías’ toter Körper ist von Metastasen durchdrungen, wie die spanische Gesellschaft durch Korruption zersetzt ist. Die Frauen prostituieren sich, Männer ficken und greifen zwischendurch zum Handy, um ihre Geschäfte zu tätigen, dazwischen genießt man einen kühlen Weißwein, und wer sich, wie Ma­tías, aus allem zurückzieht, hat auch keine Chance.
Mit »Alte Freunde« bereits hatte Chirbes seinen Ruf gefestigt, der große Pessimist unter den spanischen Schriftstellern zu sein. Mit »Kre­matorium« dürfte er diesen Ruf endgültig fest­geschrieben haben. Denn »Keiner kommt hier lebend raus!« oder »Für Spanien gibt es keine Hoffnung!« – das ist das Grundgefühl, das nach der Lektüre bleibt. Auch dass der alternde Chirbes mittlerweile eher einer konservativen Strömung zugerechnet werden muss, ist eine Vermutung, die sich zwangsläufig aufdrängt. Vielleicht ist das so, vielleicht wollen wir alle, wenn wir älter werden, bewahren, was uns einst etwas bedeutet hat. Das allerdings hätte Chirbes nicht an käuflichen Frauen und triebhaften Russen auf­zeigen müssen. Was wiederum, weil er ein so großartiger Schriftsteller ist, nur schwer zu verzeihen ist.

Rafael Chirbes: Krematorium. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann, München 2008, 432 Seiten, 22 Euro