Der Business-Journalist Christian Rickens sieht das Comeback des linken Lebensgefühls

Plötzlich sind alle links

Während die Linke seit Jahren davon überzeugt ist, dass Gesellschaft, Politik und ­Diskurse immer rechter werden, sieht der Business-Journalist Christian Rickens die Welt mit anderen Augen. Linke Werte stünden überall hoch im Kurs, und noch nie sei die CDU so links gewesen wie unter Angela Merkel.

Linke und Globalisierung – die zwei hassen sich wie die Pest. Kaum tritt die Weltwirtschaft irgendwo in Erscheinung, kommen auch schon ihre radikalen Gegner und schimpfen farbenfroh auf den Neoliberalismus, ihren Kern. Wo er auftaucht, müssen nackte Männer Öltanker zerlegen und kleine Kinder Fußbälle nähen. Dagegen wehrt sich der bewusst politisch aktive Mensch – er veranstaltet Kongresse, blockiert Weltwirtschaftsgipfel, wie er es im Theaterworkshop von globalisierungskritischen Organisationen gelernt hat, und liest im Übrigen die Schriften von Karl Marx zum Aufwachen. Also, wer die zwei, die Linke und den Neoliberalismus, zusammenbringen will: viel Vergnügen.
Das mach’ ich, hat sich Christian Rickens gedacht. »Links! Comeback eines Lebensgefühls« hat er auf den Deckel dieses Versuchs geschrieben, und das erst zwei Jahre, nachdem er über die Rückkehr des Neokonservativen einen Bestseller verfasst hat (»Die neuen Spießer«).
Nun sind alle links. Linker Stil zeigt sich überall, eben nicht nur bei der Linkspartei. Nein, auch bei der SPD, der CDU, den Grünen, in ganz Lateinamerika, in der FDP und bei den Arbeitgebern. Selbst die Nazis sind links. Denn ohne soziale Themen, die sie national umbiegen, starten sie in keinen Wahlkampf.
Links als Stil – wie jeder gute Autor fängt Rickens, als Jugendlicher Juso-sozialisiert, aber heutzutage bei der Spezial-Gazette für linke Dinger, dem Manager-Magazin, beheimatet, mit der Spurensuche bei sich selber an: »Bin ich ­eigentlich links? Heute würde mir die Antwort auf diese Frage wieder leichtfallen. Ich würde antworten: Ja. Aber nicht weil ich an mehr Staat und weniger Markt glaube – eher im Gegenteil. Sondern weil ich nach wie vor an die klassischen linken Ziele glaube: soziale Gerechtigkeit, internationale Solidarität, Demokratisie­rung, Nachhaltigkeit.« Think global, act local.
Für die These von Rickens sprechen Meinungs­umfragen, deren Ergebnisse er ausführlich zitiert. Links, das fühlen sich viele, wenn man sie anonym am Telefon befragt. Aber keine Angst: »Natürlich werden morgen keine roten Flaggen über der Wall Street wehen«, schreibt er, »und Siemens wird auch nicht verstaatlicht.« Ein Glück. Über der Wall Street hängt derzeit bloß die rote Laterne. Man kann ganz ruhig weiter am Latte macchiato schlürfen. Ein Aufruf zum Umsturz, und sei es nur des Tisches im Stra­ßencafé, ist Rickens’ Buch wohl nicht.
Dafür aber verständlich zu lesen. Es gehe um marginale Veränderungen, die sich system­im­ma­nent abspielten. Zum Beispiel sei der Blick der Menschen auf die Globalisierung kri­tischer als früher. Der Markt als Steuerungs­element stehe schwer in der Kritik. »Als guter Linker könnte man es auch so formulieren: Wir erleben den Anfang vom Ende des neoliberalen Zeitalters.«
Wie können diese Veränderungen aussehen? Utopie ist schon okay, man muss an das Unmögliche denken, wenn man das Mögliche will. Das heißt: Die Zukunft kann besser als jetzt sein. Aber bitte nicht mit der Linkspartei: Die ist linksorthodox. Denn das heißt: Man fordert mehr Staat und mehr Planung von oben. Hatten wir alles schon, wollen wir nicht. Rickens’ Schlagwort heißt daher: »Linksliberalismus«. Und zwar die Version 2.0.
Damit es nicht die Beta-Variante bleibt – Endschliff besorgt Kunde –, wäre es denkbar, im Wirtschaftssystem wieder Keynes statt Friedman zu favorisieren. Keynesianische Po­litik, das bedeutet: Geht es der Wirtschaft schlecht, inves­tiert der Staat. Dabei kann aber die Staatsverschuldung unkontrollierbar werden.
Wir leben aber ohnehin schon eine ganze Weile das Gegenteil: Der Markt wird es schon richten. Dafür steht der Ökonom Milton Friedman. Von sich aus, hält Rickens dagegen, richtet der Markt überhaupt nichts. Und immer nur Schulden machen bringt es auch nicht. Er hätte gern etwas anderes: die Verhaltensöko­nomie. Die denkt Freiheit und Sicherheit zusam­men. Der Staat solle nicht glücklich machen, könne aber viel für das Glück tun, z.B. durch Volks­befragungen. Dann ist Politik nah bei den Menschen, und das gefällt ihnen.
Überhaupt: »Sozial« und »Demokratie« denkt der Autor gern zusammen. Denn was nützt die beste soziale Absicherung, wenn sie einen unfrei macht. Und was nützt die Freiheit, wenn sie nur darin besteht, seine Armut auszugestalten? Keiner schlachte das so sehr aus wie Oskar Lafontaine, Anführer der Steinzeitlinken. Man den­ke nur daran, wie Lafontaine dem kleinen Mann in seiner Chemnitzer Rede Angst vor dem »Fremd­arbeiter«, der ihm Haus und Hof wegnähme, einimpfte.
Statt hinter Lafontaine klemmt sich Rickens hinter das Grundeinkommen-Modell des DM-Markt-Gründers Götz Werner. Auf 800 Euro pro Nase monatlich berechnet er den Bedarf, 200 Euro gehen an die Kranken- und Pflegeversicherung.
Bei Rickens gibt es noch mehr Zahlen: So enthält sein Buch konkrete Angaben zur Stromversorgung (»Unüberlegte Privatisierung führt zu Kundenfeindlichkeit«), zur inneren Sicherheit (»Was eine Bundeswehr, die schon heute an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ist, im Innern zur Terrorismusbekämpfung beitragen kann, wird auf ewig das Geheimnis von Wolfgang Schäuble sein«) und zur Migration: gut ausgebildete Ausländer rein, arme nicht. Jobkonkurrenz solle es lieber oben geben statt unten. Denn hochqualifizierte Zuwanderer schaffen Arbeitsplätze und nehmen sie den Deutschen nicht weg. Arme schon.
Zuwanderung will gesteuert sein. Da hat es in der Vergangenheit jede Menge Fehler gegeben. Rickens: »Kein Wunder, dass man dem normalen deutschen Arbeitslosen mit linkem Gerede von internationaler Solidarität nicht mehr kom­men kann.«
Und nicht nur dem. Mit diesen Thesen dürfte er viele Freunde finden. Ein bisschen wundert es aber schon, warum sich Rickens bei diesem Thema dermaßen von Lafontaine abgrenzt. Der doch genau das Gleiche gesagt hat.
Nun, vielleicht ergibt sich so etwas, wenn man wie Rickens viele Deckel für alle Töpfe hat. Sicherlich möchte sich der smarte Autor nicht auf den Punkt Migration allein festgenagelt wis­sen. So erfahren wir auch, warum es mehr Po­lizei geben muss und wieso die Welt besser ohne Mindestlöhne zurechtkommt. (Weil die Arbeitnehmer-Organisationen dann besser dastehen.) Und auch, warum unabhän­gige Gewerkschaften in den Schwellenländern Unterstützung ver­dienen und Schutzzölle und Subventionen, etwa, wenn die EU ihre Produkte in den afrikanischen Markt drückt, abgebaut gehören. Das bedeutet mehr Marktwirtschaft, nicht weniger. Und ist trotzdem richtig links.
Viel Potenzial sei da für die Lösung globaler Probleme – zumal in Deutschland, dieser wichtigen Wirtschaftsnation: »Die ganze Welt«, schreibt der Wirtschaftsexperte, »scheint verrückt zu sein nach deutschen Autos und deutschen Einbauküchen.«
Ob der Exportartikel Linksliberalismus ein ähn­licher Erfolg wird? Für die Hiergebliebenen macht Rickens seine Ambitionen jedenfalls nochmal deutlich. Die letzten Seiten seines flotten Buches sind reserviert für seinen Epilog »Wie sich 2013 die Regierungserklärung anhören könnte.« Dort heißt es: »Mehr Demokratie wagen.«

Christian Rickens: Links! Comeback eines Lebensgefühls, Ullstein, Berlin 2008, 253 S., 16,90 Euro