Auf den Spuren Ramón Llulls

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Der mallorquinische Gelehrte Ramón Llull entwickelte im Mittelalter eine logische Maschine, brachte Bewegung in die Schöpfung und erfand den Weltsicherheits­rat. Eine Pilgerreise zu seinen Wirkungsstätten.

Viele Prominente lassen sich auf Mallorca nieder, doch hervorgebracht hat die Insel nur wenige. Genau genommen nur einen einzigen: Ramón Llull. Deshalb ist es kein Wunder, dass jeder Mallorquiner den berühmtesten Sohn der Insel kennt, der seit knapp 700 Jahren in der Kirche Sant Francesc in Palma ruht. Was aber macht diesen Philosophen, Dichter, Mystiker und Wissen­schaftler, der es sogar zu einem Ismus, dem Llullismus gebracht hat, derart unvergesslich? »Lei­chen ziehen immer«, erklärt Albert Vigoleis Thelen die Popularität von Ramón Llull in »Die Insel des zweiten Gesichts«, einer autobiografischen Erzählung über seinen Aufenthalt in Mallorca in den dreißiger Jahren. Auch Thelen selbst erlag dem Charme Llulls und verliebte sich in dessen Werk, so wie er sich in die Ensaimada, das mallorquinische Schmalzgebäck, verliebte.
Auch wir sind in den Bann der llullischen Magie gezogen und begeben uns auf den Pfad der Erleuchtung.

In der Stiftung der größten Sparkasse Kataloniens, dem Caixa-Forum im ehemaligen Gran Hotel von Palma, herrscht am 30. September großer Andrang. Die Auftaktveranstaltung zu einem Vor­trags­zyklus und einer Ausstellung über Geschichte, Gedanken und Legenden von Ramón Llull beginnt. Vor den geschlossenen Türen des Konferenz­raums stehen Leute und warten auf Einlass. Doch sie haben keine Chance, der Raum ist überfüllt.
Drinnen doziert ein Historiker auf Katalanisch über den berühmtesten Mallorquiner. Ein paar Besucher sind empört und verlassen die Veranstal­tung. »Llull war doch kein Katalane«, sagt einer von ihnen. »Das ist ein Mann von welthistorischer Bedeutung. Es ist nicht in Ordnung, so eine Veranstaltung auf Katalanisch zu machen.« Das sehen die Veranstalter anders. »Llull war ein großer Katalane«, erzählt eine Mitarbeiterin des Caixa-Forums. »Er hat die ersten katalanischen Texte und Gedichte geschrieben.« Tatsächlich gilt Llull als Vater des Katalanischen, da er viele seiner Werke in dieser Sprache schrieb und somit den Weg zur katalanischen Literatursprache eröffnete.
Nach dem Vortrag drängen sich noch mehr Leute in der Empfangshalle. Ein paar junge Akademiker und viele ältere Mallorquiner mit Goldarmbändchen oder Rucksack warten auf die feierliche Eröffnung der Ausstellung. Die Ansprache wird zunächst auf Katalanisch, dann auch auf Spa­nisch gehalten. Vielleicht hat der Protest gewirkt, wahrscheinlicher ist, dass der Sparkassenvertreter die Gelegenheit einfach nutzt, um neue Kunden zu gewinnen. Die Besucher stört das nicht. Sie wollen endlich die alten Gemälde, Zeichnungen und Originalhandschriften von Ramón Llull sehen.
Für die Mallorquiner ist Llull, was Goethe für die Deutschen ist. Allerorten sind Straßen nach ihm benannt, aber was der Mann eigentlich geschrieben hat, weiß kaum jemand. Auch unter den Ausstellungsbesuchern findet sich niemand, der die großen llullischen Werke wie die »Ars magna generalis et ultima« oder den »Arbor philosophiae desideratae« gelesen hat. Man kennt ein paar Biografien und einige Gedichte aus der Schulzeit. Schließlich, so lautet die Standard­antwort, seien die llullischen Werke auch äußerst kompliziert und selbst für Experten schwer zu entschlüsseln.
Tatsächlich ist das Werk des mittelalterlichen Gelehrten recht unübersichtlich. Er verfasste mehr als 265 Schriften, insgesamt über 27 000 Seiten. Ursprünglich wollte er das gar nicht. 1232 als Sohn eines katalanischen Ritters geboren, war Llull zu­nächst ein Troubadour, der Liebesgedichte ver­fasste, die nicht seiner Ehefrau gewidmet waren. Eines Tages stellte er einer Edeldame so hart­näckig nach, dass sie sich in die Kathe­drale von Palma flüchtete. Llull folgte ihr hoch zu Ross. »Ihr hofft vergeblich, mein Liebhaber ist der Tod«, rief die Dame, riss ihr Kleid auf und zeigte ihren von Lepra zerfressenen Körper. Fortan entsagte Llull allen weltlichen Versuchungen.

Die Geschichte ist leider erfunden. Llull selbst schildert seinen Sinneswandel etwas anders. Als er einmal mehr ein Liebesgedicht verfasste, »da erblickte er unseren gekreuzigten Herrn Jesus Christus. Die Vision erfüllte ihn mit Angst.« Llull, der, wie es damals üblich war, in der dritten Person über sich schrieb, gab nicht gleich auf, doch die Vision wiederholte sich jedes Mal, wenn er versuchte, sein Gedicht zu vollenden. Bei der fünf­ten Vision kam er zu dem Schluss, dass Gott ihn in seinen Dienst stellen wollte. Sein Auftrag: Ein Buch schreiben, das geeignet ist, die Ungläubigen zu bekehren.
Das war kein leichter Job. Die »Ungläubigen«, mit denen Llull es zu tun hatte, waren Juden und Muslime, die keinen Grund hatten, das Christentum als überlegene Religion anzuerkennen. Die jüdische und die muslimische Wissenschaft waren weiter entwickelt, auch christliche Gelehrte be­dienten sich ihrer Methoden und Erkenntnisse. Llull war sich darüber klar, dass er mehr bieten musste als Märtyrerlegenden und Wunder­ge­schich­ten: »Jetzt ist die Zeit gekommen, in der die Menschen notwendige Erklärungen lieben, denn sie sind in den hohen Wissenschaften der Philosophie und der Theologie unterrichtet.« Seinem Vorhaben kam zugute, dass auf Mallorca damals noch eine relativ große Toleranz herr­sch­te und ein Austausch mit Juden und Muslimen möglich war.
Llull wollte die christliche Religion jedoch nicht nur rational begründen, als Mystiker wollte er Gott auch erfahren. Er lebte einige Zeit auf dem Berg Puig de Randa. Erkundigt man sich im Kloster Santuari Mare de Déu de Cura, das in 543 Metern Höhe auf der Spitze des Berges liegt, beim Franziskanerpater nach Ramón Llull, kommt man zunächst in den Genuss einer Schnapsprobe und eines Vortrags über die große Kunst des Schnapsbrennens. Das Rezept des »Randa-Likörs«, der inzwischen in einer Fabrik hergestellt wird, sei immer noch die Originalmischung der Franziskanermönche, erzählt der Pater.
Die Franziskaner verwalten das Kloster allerdings erst seit 1913. Zu Zeiten von Ramón Llull lebten auf diesem Berg Einsiedler. Deren in den Fels gehauene Schlaflöcher sind teilweise heute noch zu sehen. Ausgerechnet hier oben in dieser rauen Gegend hatte Llull seine Erleuchtung und außerdem sein Buch »Vita Coetanea« verfasst.
Rund um den Berg bläst zwar heute noch ein starker Wind, doch der llullische Geist weht hier schon lange nicht mehr. Das war früher anders. 1449 erhielt Pere Joan Llobet den königlichen Auf­trag, die llullische Wissenschaft zu institutionalisieren. Er wurde zum Meister des Berges ernannt. Bis Ende des 15. Jahrhunderts konnte man auf dem Puig de Randa Llullismus studieren, dann wurde der Lehrstuhl in die Universität von Palma verlegt.
Für eine Erleuchtung reicht das Gläschen Kräuterschnaps nicht, aber es schmeckt. »Ora et labora, gut und schön«, verrät der Mönch, der nicht die Aura eines strengen Asketen verströmt, »aber hin und wieder muss man auch mal einen Schluck nehmen.« Schon ein wenig eingelullt gesteht der heimliche Hedonist: »Wir sind keine Llullisten.« Er und seine Brüder hätten schon ein paar Sachen gelesen, aber nicht wirklich verstanden. Trotzdem sorgen die Franziskaner auf Mallorca dafür, dass Llull nicht nur als schräger Wissenschaftler und Katalane wahrgenommen wird. Im Norden der Insel unterhalten sie eine eigene Schule, die Beat Ramón Llull, und sie bemühen sich seit Jahren vergeblich um die Heiligsprechung.
Die päpstliche Bürokratie bemängelt, so der Pater, dass Llull seine Frau und seine beiden Kinder im Stich ließ. Während er im Jahr 1275 auf dem Berg Randa der Erleuchtung teilhaftig wurde, musste seine Frau beim König eine Rente beantragen. Das war kein netter Zug von Llull, doch an­gesichts der Tatsache, dass Jesus seine Mutter auch nicht gerade freundlich behandelt hat (»Weib, was habe ich mit dir zu schaffen«), erscheint die päpstliche Strenge ein wenig herzlos.
Vielleicht ist die offizielle Begründung auch nur ein Vorwand. Llull galt der Amtskirche immer als verdächtig, lange Zeit standen seine Werke auf dem Index. Er gehörte nicht wirklich zum Club. Zeitlebens blieb er Laie, das war ungewöhnlich für einen mittelalterlichen Gelehrten und dürfte das Misstrauen der etablierten Kollegen erregt haben. Überdies schöpfte Llull aus verdächtigen Quellen. »Die Sache mit den Arabern«, grinst der Pater im Kloster Cura und schüttelt den Kopf, »gefällt dem Papst auch nicht.«
Llull wollte Bildungsinstitutionen gründen, um einen Dialog zwischen Christen, Juden und Mus­limen zu ermöglichen. Diese Idee präsentierte er in seinem Roman »Blanquerna«, der Geschichte eines fiktiven Papstes, der auch ein Friedensministerium gründet, dessen Abgesandte in aller Welt Konflikte schlichten sollen. Die Amts­kirche, die zur Zeit der Geburt Llulls eine zentrale päpstliche Inquisitionsbehörde schuf, hatte wenig Verständnis für die Ideen eines Multikulti-Softies, der zur Toleranz aufrief.
Mehr Anklang fand Llulls Vorschlag, Sprachschulen zu gründen, denn auch dem borniertesten Geistlichen musste der Gedanke einleuchten, dass man Araber nicht in lateinischer Sprache mis­sionieren konnte. Llull wählte für seine Sprachschule ein hübsches Plätzchen an der Westküste Mallorcas. Angesichts der malerischen Landschaft übersieht man leicht die Einfahrt zum ehe­maligen Kloster Miramar. Versteckt hinter Olivenhainen und Pinienbäumen führt eine kleine Straße die Steilküste hinunter auf ein kleines Plateau. So wie die griechischen Tempelbauer hat­te offenbar auch Llull ein Auge für die reizvollsten Flecken am Mittelmeer.

Anders als der raue Berg von Randa, wo man sich wahrlich nur länger aufhalten kann, wenn man um jeden Preis erleuchtet werden will, ist Miramar sanft und schön. Der Blick auf das tiefblaue Meer und die rechts und links in rotes Sonnenlicht getauchten Steilfelsen, die Rosenranken und die Schafe und Ziegen mit den kleinen Bimmelglöckchen sorgen für den leichten Sound, mit dem sich die meditative Stimmung ganz von selbst einstellt. Hier gründete Llull eine Sprach­schule für Missionare, eine Bulle Papst Johannes XXI. aus dem Jahr 1276 unterstützte das Projekt, Franziskaner Arabisch lernen zu lassen.
Llull lernte unterdessen von den Arabern. Er be­diente sich als Mystiker einer islamischen Methode, der Kontemplation über die Namen Gottes, die zugleich seine Eigenschaften repräsentieren. Er wählte neun Begriffe, die er als »Würden« oder »Axiome« bezeichnete. Güte, Größe, Ewigkeit, Macht, Weisheit, Liebe, Tugend, Wahrheit und Ruhm. Dieses System erweiterte er und über­trug es auf andere Gebiete. Die von ihm konstruierte »logische Maschine« besteht aus um ein Zen­trum drehbaren Scheiben, die jeweils neun Begriffe oder Buchstaben enthalten. Werden die Schei­ben gedreht, ergeben sich Verknüpfungen. Llull, der davon ausging, dass es auf allen Wissensgebieten allgemein anerkannte Grundbegriffe gebe, betrachtete dies als Methode der Erkenntnis.
Die Reduktion eines Wissensgebiets auf wenige Begriffe, deren Auswahl uns weniger selbstverständlich erscheint als Llull, genügt modernen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht mehr. Die von seinen katalanischen Fans gerne gebrauchte Bezeichnung »Llullscher Computer« trifft die Sache nicht ganz, doch Llull hat eine neue Methode der Wissenserlangung entwickelt, eine ars combinatoria, die unter anderem Leibniz inspirierte. Er brachte Ideen in Umlauf, die geeignet waren, die Überwindung des statischen mittelalterlichen Weltbilds zu fördern und es den Menschen zu ermöglichen, die Gesellschaft als veränderbar zu sehen und Fortschritt für denkbar zu halten. Die meisten Menschen glaubten damals, dass die Sündhaftigkeit der Menschen ständig zunehme und dies Gott dazu bewege, diesem Treiben ein Ende zu setzen und mit dem Jüngsten Gericht den Vorhang fallen zu lassen.

Llull macht nicht viel Aufhebens von der Sündhaftigkeit, und das Ende der Welt spielt in seinem Denken keine Rolle. Die Amtskirche bestand darauf, dass in der hierarchischen Ordnung des Universums, einer Art Puppenstube Gottes, alles seinen ein für allemal festgelegten Platz hat. Llull brachte Bewegung in die Schöpfung. Sein Gott tut nicht nur gelegentlich Wunder, um die Leute zu beeindrucken. Im llullischen Universum ist die Schöp­fung mit der Fähigkeit ausgestattet, sich weiterzuentwickeln.
Dass sie diese Fähigkeit nur selten nutzt, ist nicht Llulls Schuld. Im Jahr 1315 gelang es ihm bei einer Diskussionsrunde in Bejaia im heutigen Algerien offenbar nicht, seine Zuhörer zu überzeugen. Er wurde, dies jedenfalls besagt die Überlieferung, gesteinigt, war allerdings noch fit genug, um sich wieder nach Mallorca einzuschiffen. Im folgenden Jahr starb er, die Kirche kam zu dem Schluss, er sei zu einem Opfer des Jihad geworden und daher ein Märtyrer.
Es dauerte eine Weile, bis wenigstens einige Men­schen seine Ideen wieder aufnahmen. Zu ihnen gehörte der berühmte Ketzer Giordano Bruno, mit dem Llull das Schicksal teilt, bis heute nicht ganz verstanden worden zu sein. Es gibt heute ei­nige we­nige Lullisten, die sich vor allem in den Ramón-Llull-Instituten in der Universität Barcelo­na und an der Universität in Freiburg aufhalten. An den Pilgerstätten auf Mallorca findet sich jeden­falls kein Experte, der die Kombination aus Mystik, Computer, Kreisen und Schnaps entschlüsseln könnte.
Heutzutage sind Llulls Kreise eher ein ästhetisches Modell. Im schicken Port d’Andratx an der südlichen Westküste Mallorcas findet man ein bizarres weißes Gebäude. Eine schiefe Rückwand, eine bauchige Front, eine runde Mauer, die den Eingang versperrt und überall große Löcher in der Fassade. Der Architekt Daniel Libeskind, der dieses Gebäude als Atelier für die amerikanische Künst­lerin Barbara Weil entwarf, hat sich von Ra­món Llull inspirieren lassen.
Am Ende unserer Suche nach der Erleuchtung stehen wir vor der in Beton gegossenen ars combinatoria. Llullischer Schnaps und llullische Kreise sind geiles Zeug, wir sind schon llull und llall.