Reihe über Gentrifizierung in der Hauptstadt: Nord-Neukölln

Gebiete knacken

Reihe über Gentrifizierung in der Hauptstadt. Nicht der Zuzug der Studenten ist das Problem, sondern die Aufwertung der Wohnungen. So weit die Theorie. Aus der Nord-Neuköllner Praxis berichtet Jürgen Kiontke

Sie sind Mitte, Ende 20, und sie haben Badelatschen an den Füßen. Sie kommen aus Düsseldorf, Wiesbaden und Hamburg. Sie sagen Sätze wie: »Was, 1 000 Euro für ’ne 60-Quadratmeter-Wohnung? Ist ja voll billig!« Und sie machen kleine Internetfirmen auf.
Unser Stadtteil ist ganz voll von diesen Leuten. Vorher hatten wir gar keinen Stadtteil. Da waren wir Nord-Neukölln, das war eher ein Gebiet. Ein zivilisationsresistentes.
Jetzt haben hier alle Menschen Angst. Kommen jetzt die reichen Leute? Reichtum zieht ja auch immer Kriminelle an.
Werden wir gentrifiziert? Kommen die Heuschrecken? Passiert derselbe Scheiß wie in Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg – sieht es bald überall aus wie in Düsseldorf, wie der kämpferische taz-Redakteur Gereon Asmuth angesichts der Mediaspree-Bedrohung geschrieben hat?
Fachwelt und Anwohner sind sich uneinig. Der Wohlstand kam mit dem Zwischennutzungskonzept. Leerstehende Ladenlokale wurden umgenutzt in Ateliers und bunte Geschäfte. Das hat vielen gefallen, auch weil vorher nichts war. Mit der Rütli-Schule kam der deutschlandweite Ruhm. Dann machte eine Kneipe namens »Freies Neukölln« auf. Es wurde festgestellt, dass viele Studenten in Nord-Neukölln wohnen. Die saßen jetzt jeden Abend im »Freien Neukölln« und löteten sich einen. Dann machte das »Ä« auf und auch noch das »Kusch­lowski«. All dies befindet sich in der Weserstraße, die als neue Partymeile Berlins gefeiert wird. Die war vorher vor allem dafür bekannt, dass an ihrem einen Ende die Werkstatt vom Herrn Fuhrmann, Berlins berühmtester Motor­radhandel, liegt. Ein Stückchen vorher, Ecke Thie­mannstraße, gibt’s auch noch eine Top-Adresse: das Finanzamt. Früher hießen die Knei­pen hier »Die Klapse« oder auch: »Die Kneipe«.
Seitdem es in der Weserstraße fünf Kneipen gibt, fahren um vier Uhr morgens die Taxis vor. Um die Säuferleichen wieder zurück in den Prenzlauer Berg zu fahren. Der ganze Ruhm beruht also auf ein paar wenigen Adressen. Man mag mal am Sonntag nach Friedrichshain gehen, zur Vergleichsadresse Simon-Dach-Straße. Bei gutem Wetter sitzen dort auf zwei Quadratkilometern um die 10 000 Menschen. Davon ist Nord-Neukölln weit entfernt.
Das ist aber kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. So warnte schon Ende vorigen Jahres der Gentrifizierungsexperte Neil Smith von der City University of New York die Berliner im Mieterecho, der Zeitschrift der Berliner Mie­ter­gemeinschaft, vor allem vor einer besonders problematischen Bevölkerungsgruppe: Studenten. Ob Universitätsviertel oder andere Quartiere, Studenten seien Teil des Prozesses, Gebiete »zu knacken«, deren »Kolonisierung etablierte Akademiker« scheuten.
Die Frage, ob ein bestimmtes Quartier gentrifiziert wird oder nicht, hängt demgemäß einerseits von der Größe der »Ertragslücke« – der Differenz zwischen Investition und Gewinn – und den Besonderheiten der lokalen Politik ab. Andererseits aber auch von den örtlichen Gegebenheiten.
Wenn die Ertragslücke erst mal groß genug ist, dann ist kein Quartier »zu schlecht« für die Gentrifizierung. Ein Beispiel: der New Yorker Be­zirk Harlem. Ein Gebiet, das mit vielen sozialen Problemen viele Jahrzehnte lang am Abgrund stand. Sogar dort haben sich die Verhältnisse stark verändert. Smith: »Wenn selbst Harlem gen­trifiziert werden kann, so ist kein Gebiet sicher.«
Was ist überhaupt Gentrifizierung? Der Definition nach handelt es sich bei Gentrifizierung um einen komplexen Aufwertungsprozess einer meist vernachlässigten und wohnungswirtschaftlich unterbewerteten Nachbarschaft, in deren Folge sich die Sozialstruktur in dem entsprechenden Gebiet zugunsten von einkommensstärkeren und statushöheren Bevöl­ke­rungs­­gruppen verändert. »Mit diesem Prozess geht eine entsprechende Veränderung des Gebiets­charakters einher. Gentrifizierung muss also entlang solcher ökonomischer, sozialer und kul­tureller Dimensionen untersucht werden«, schreibt das Mieterecho.
Der wohnungswirtschaftliche Kern von Gentrifizierung ist »die ökonomische Aufwertung bisher preiswerter Grundstücke, Gewerberäume und Wohnungen. In der Regel werden solche Wertsteigerungen durch Investitionen ausgelöst, die die Vermietung oder den Verkauf von Wohnungen zu deutlich höheren Preisen ermöglichen«.
Der ökonomische Anreiz für die Eigentümer liegt nun in Gewinnaussichten, die die Investitionen übertreffen: »Wohnungswirtschaftler sprechen dabei von der Realisierung der höchst möglichen Rendite.«
Im Fall einer Gentrifizierung müssen bauliche Maßnahmen zur Aufwertung der Wohn- und Gebäudesubstanz ebenso zu beobachten sein wie steigende Grundstückspreise und höhere Mieten. Auch die Zunahme von Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen kann als deutliches Indiz für eine Aufwertung betrachtet werden.
Nun weist Smith aber darauf hin, dass Gebiete auf sehr unterschiedliche Weise gentrifiziert werden könnten. Einige Strategien hätten verhängnisvolle Folgen, insbesondere wenn der Staat oder große Institutionen beteiligt seien, während andere Strategien langsamere Gentrifizierungen nach sich zögen. Einige wirkten hochgradig exklusiv und ausschließend, während andere Quartiere unter Umständen länger stärker gemischte Szene-Kieze blieben.
Welche Entwicklung der Norden Neuköllns nimmt, das ist noch nicht entschieden. Die Berliner Mieter­gemeinschaft kommt zu dem Ergebnis, die Situation in Nord-Neukölln könne als eine »Gentrifizierung im Wartestand« bezeichnet werden. Sowohl ökonomisch als auch sozial und hinsichtlich des Nachbarschaftscharakters könnten aber Anzeichen einer Aufwertung beobachtet werden.
Ob sich eine tatsächliche Gentrifizierung mit ihren Verdrängungseffekten durchsetzen werde, sei vor allem davon abhängig, ob es in Zukunft gelinge, die sozialen und kulturellen Veränderungen in der Nachbarschaft von der wohnungs­wirtschaftlich gewünschten Aufwertung zu entkoppeln: »Denn letztlich entscheiden die Miet­preise für Wohnungen und Gewerberäume, ob sich die bisherigen Bewohnergruppen im Ge­biet werden halten können.«
Also, liebe Anwohner, Vorsicht vor Flipflops mit Portemonnaie. Also: Vorsicht vor euch selbst.