Tieropfer und Rationalisierung

Der Hirte und der Schlachthof

Das Verhältnis des Menschen zum Tier lässt sich nicht ohne die Geschichte des Opfertiers und seiner kapitalistischen Rationalisierung in der Moderne verstehen.

Zum Ende des 20. Jahrhunderts sind die von der Anthropologie gesetzten Grenzen zwischen Mensch und Tier wesentlich durchbrochen worden. Für Intelligenz, Werkzeuggebrauch, Sozialverhalten und selbst für die Fähigkeit, andere mehr oder weniger klug hereinzulegen, finden sich im Tierreich genügend Beispiele, welche die Trennung zwischen Tier und Mensch aufheben. Selbst der Tod, der nach der begrifflich hoch­gerüsteten abendländischen Metaphysik nur den­jenigen Wesen eigen ist, die den Tod sprachlich reflektieren können, ist mittlerweile dem Tier zu­rückgegeben worden. Seit man im Kino oder Fernsehen Tiere sterben sehen kann, ist ihr Tod im Bild auch ohne Sprache erfahrbar, und auch Tiere können fernsehen. Aber wenn dem so ist, was heißt das nun? Denn Menschen und Tiere sind ja dennoch nach wie vor verschieden.
Zuerst bedeutet es nichts anderes, als dass unsere Unterscheidungen weniger genau waren, als wir gedacht haben. Und zum zweiten weist es darauf hin, dass die Vorstellung des Unterschieds von Mensch und Tier und die Konzepte dieser Unterscheidung von uns hervorgebracht werden. Wobei der letzte Punkt einer kritischen Betrachtung auch deshalb schwer zugänglich ist, weil die Unterscheidung seit jeher im vollen Bewusstsein der überwältigenden Fülle an Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Tieren getroffen worden ist.

Eine Genealogie, wie sie Andreas Speit hier in der vorigen Ausgabe vorgelegt hat (Jungle World 43/08), die den Zusammenhang von Tierschutzbemühungen und handfestem Antisemitismus und Rassismus aufzeigt, lässt sich leicht schreiben, und zwar nicht nur für Deutschland. Für Frankreich kann man das ausgehend von Bri­gitte Bardot bis in die der französischen Revolution verpflichteten wissenschaftlichen Vereinigungen des 19. Jahrhunderts tun. Was dabei aller­dings völlig verloren geht, ist die Tatsache, dass mit der modernen Naturwissenschaft, die, wenn es um Tiere und Pflanzen geht, ihren Ausgangspunkt in der französischen Revolution hat – der Begriff Biologie wird 1800 von Jean Baptiste Lamarck eingeführt –, eine Umdeutung des Bezuges von Mensch und Tier einsetzt. »Der Bezug von Mensch und Tier wird über seine Kasuistik hinaus systematisiert – seine Bühne ist nicht länger das Varieté und der Tierpark, seine Bühne ist die moderne Ordnung des Wissens selbst. Das Tier als evolutionäre Vorform des Menschen wird zur Maßgabe dessen, wohin der Mensch sich allererst noch zu entwickeln hat oder hätte – etwa im Sinne einer Evolution sozialer Einrichtungen und technischer Errungenschaften, von Medien und Apparaturen«, schreiben Benjamin Bühler und Stefan Rieger in ihrem »Vom Übertier« betitelten Bestiarium des Wissens. Bühler und Rieger zeigen darin an exemplarischen Versuchstieren der modernen Biologie wie der Ameise, der Fruchtfliege Drosophila oder der Graugans, wie das Tier zum Modell wird, an dem die Moderne von der Glühbirne bis zur rassistischen Ein- und Aussperrung und Vernichtung ihre Praxis vorbereitet. Das Ziel dieser Wissenschaft ist, sehr knapp zusammengefasst, nicht das Tier, sondern der Mensch.
Man hätte also, wenn man schon eine Genea­lo­gie des Zusammenhangs von Tierliebe und Menschenhass, den es unbestritten gibt, schreiben will, auch zu fragen, unter welchen konkreten ökonomischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konstellationen bei wem genau die Tierliebe mit dem Menschenhass oder Menschenzuchtsvorstellungen zusammenfällt. Es ist ja nicht so, dass er nicht bemerkt worden wäre. J.M Coetzees Romane – und nicht nur »Das Leben der Tiere« – handeln wesentlich vom Verhält­nis zwischen Mensch und Tier auf der Folie des südafrikanischen Apartheidsrassismus. Und dass Coetzee ein Gegner des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Massenverbrauchs von Tieren ist, hängt bei ihm unmittelbar mit seinen Gleichheitsvorstellungen die Menschen betreffend zusammen. Tierrechte werden bei Coetzee, ohne dass er daraus eine tierschützerische Gebärde macht, zum Spiegel des Umgangs der Menschen untereinander. Mit Claude Lévi-Strauss kann man sagen: Solange sie Pferche für Schafe bauen, werden sie auch welche für Menschen bauen. Und darin liegt die entscheidende Wende der Mo­derne: Das Tier wird zum Testfall für das, was Men­schen zut Beherrschung des Menschen ausprobieren wollen. Auch das hat natürlich eine Geschichte.
Seit Claude Lévi-Strauss können wir wissen, dass sich Gesellschaften nicht linear weiterentwickeln, sondern die verschiedensten Entwicklungen nebeneinander und auch unabhängig von­einander durchmachen und gleichzeitig in der Welt sind. Ein Hawaii-Indianer drückt in Lévi-Strauss’ zentralem Werk »Das wilde Denken« das Verhältnis der Indianer zu Tieren so aus: »Wir wissen, was die Tiere tun und was die Biber und die Bären und der Lachs und die anderen Kreaturen brauchen, denn einmal waren unsere Männer mit ihnen verheiratet und erhielten dieses Wissen von Tierfrauen.« Eine Haltung, aus der eine Verbindung zum Tier spricht, die natürlich die Empfindlichkeit der Tiere berücksichtigt. Und daraus spricht eine Haltung zum Tier, die auch in Europa das Verhältnis zum Tier bis zur Aufklärung lebenspraktisch mehr oder weniger bestimmte.

Der alte Totemismus bleibt in Resten konstitutiv für das Verhältnis des Menschen zum Tier. »Kein anderes Stück der Religionsgeschichte ist so durchsichtig geworden wie die Einsetzung des Monotheismus im Judentum und dessen Fortsetzung im Christentum, wenn wir die ähnlich lückenlos verständliche Entwicklung vom tie­ri­schen Totem zum menschlichen Gott mit seinem regelmäßigen Begleiter beiseite lassen. (Noch jeder der vier christlichen Evangelisten hat sein Lieblingstier)«, schreibt Sigmund Freud in »Der Mann Moses und die monotheistischen Religionen«.
Und die Tiere der Evangelisten sind dabei sehr real. Man kann es im Johannes-Evangelium nach­lesen, und es geht wie bei Lévi-Strauss um Schafe: »Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht … . Der Mietling flieht; denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht.« (10, 11-13) Man versteht die totemistischen Schlacken, die Johannes hier, wie die anderen Evangelisten auch, mitschleppt, nicht, wenn man diese Stelle nur als Gleichnis liest. Sie bezieht sich auch auf das echte Schaf, und dem schuldet der Hirte Achtung.
Das war zu Johannes’ Zeiten noch ein ganz gängiges Tierbild, das eine lange Geschichte hinter sich hatte. Wahrscheinlich diente für die erste Metapher ein Tier, war die erste Farbe Tierblut und zeigten die ersten von Menschen gemachten Bilder Tiere. Daraus folgt, dass die allein dem Menschen zugeschriebenen Fähigkeiten der Spra­che, des symbolischen Denkens und der Produktion von Kunst aus der Beziehung zu Tieren gebo­ren wurden. Diese Anfänge lagen natürlich vor den revolutionären Umwälzungen, die der Ackerbau, die Viehzucht und die moderne rationale Wissenschaft im Verhältnis von Mensch und Tier auslösten. Und doch ziehen sie sich weiter durch die Geschichte. Um noch einmal Freud zu zitieren: »Wir haben schon gesagt, dass die christliche Zeremonie der heiligen Kommunion, in der der Gläubige Blut und Fleisch des Heilands sich einverleibt, den Inhalt der alten Totemmahlzeit wie­derholt, freilich nur in zärtlichem, die Verehrung ausdrückendem, nicht in aggressivem Sinn.« So weit Freud, der damit die Totemismus-Theorie von William Robertson Smith wiedergibt, die die­ser 1889 in einer Studie unter dem Titel »The Religion of the Semites« veröffentlichte.

Das Opfertier wird in der Moderne rationalisiert. Wobei ich den Begriff Rationalisierung im Sinne Max Webers benutze. Weber hat den Ter­minus ein­geführt, um die kapitalistische Wirt­schafts­tätig­keit zu charakterisieren. Rationali­sierung heißt bei Weber: Ausdehnung jener ge­sellschaft­lichen Bereiche, die rationaler Entscheidung zugänglich werden. Ziel der Rationa­lisierung ist es, effektive Mittel und Wege zu finden, um mensch­liche Zwecke zu verwirklichen, insbesondere das »Optimum des Erfolges im Vergleich mit den aufzu­wen­denden Mitteln«. Das findet sich in der ganzen Breite dargestellt in »Wirtschaft und Gesellschaft« und ihre Wirklichkeit in den Chicagoer Großschlachthöfen am Ende des 19. Jahrhunderts. In den Schlachthöfen Chicagos wird das Fließband erfunden und, weil sich die Rindermassen schlecht kontrollieren ließen, das Schlachten mit vorangehender Betäubung eingeführt.
Eine konkrete Kritik des unhistorischen Tierschutzes hätte hier anzusetzen. Die Betäubung von Schlachttieren ist keine Errungenschaft tierschützerischer Kämpfe, sondern die Folge produktionstechnischer Notwendigkeiten. Notwendigkeiten, die heute auch unter Formeln wie »art­gerechte Tierhaltung« oder einer allgemeinen Rhetorik des Verzichts, auf Fleischessen etwa, ge­führt werden. Es wäre aber notwendig, um die in dieser Disko-Serie in Frage stehende Gegenüber­stellung von Tier- und Menschenrechten auf­zulösen, zuerst eine allgemeine Kritik des Opfers zu formulieren, um dann zu einer Analyse der Mensch-Tier-Spaltung überzugehen, die die prakti­sche und politische Trennung erforscht, anstatt sie zu perpetuieren. Und die falsche Gegenüberstellung von Fleisch- und Pflanzenessern macht ja nichts anderes, als einen Biologismus zu wieder­holen, den schon die fleischfressenden Pflanzen durcheinander gebracht haben.