Ein Fazit des Bildungsgipfels

Erst Doppelstunde, dann Pause

Warum in Deutschland in kürzester Zeit ­alles Nötige zur Bildungspolitik gesagt werden kann. Ein Fazit des »Bildungs­gipfels«

Zwei Verlierer ereilte kurz hintereinander dasselbe Pech. Sowohl der Sonderparteitag der SPD als auch der »Bildungsgipfel« der Kanzlerin fanden nicht die Aufmerksamkeit, die ihre Initiatoren sich erhofft hatten. Beide Ereignisse gingen in den Börsennachrichten unter. Im Fall des »Bildungsgipfels« besteht sogar ein Zusammenhang mit dem ökonomischen Geschehen.

Zunächst ist zu fragen, weshalb er überhaupt ver­anstaltet wurde. Schließlich gibt es die Kultusministerkonferenz, zu der sich die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker treffen. Was die Kanz­lerin in Dresden wollte, ist insofern unerfindlich, als die Föderalismusreform den vorher schon geringen Befugnissen des Bundes in der Bildungs­politik fast völlig den Garaus gemacht hat.
Die Show hinterließ kein Resultat, aber ein »Signal«: Für die Bildung müsse mehr getan werden. Das war aber schon vorher immer wieder gesagt worden.
Die mit der Bildung Befassten, Lehrerinnen und Lehrer und das Hochschulpersonal, sind es gewohnt, an die Öffentlichkeit zu treten. Deshalb ist von ihren Problemen häufiger zu hören als von denen anderer Gruppen der Bevölkerung. Das ist ähnlich wie mit den Medienschaffenden. Auch deren Freud und Leid ist sichtbarer und deutlicher wahrnehmbar als anderes.
Manchmal wird über die Sonderinteressen hinaus auch ein allgemeines artikuliert, das, wie es dann heißt, »alle angeht«. Derzeit will man die Defekte des Bildungswesens beheben, die ja tatsächlich nicht nur das bezahlte Personal in Schulen und Hochschulen zu spüren bekommt.
Zum Beispiel Pisa: Deutsche Schülerinnen und Schüler können schlechter rechnen, lesen und schreiben als die Kinder in vielen anderen Ländern. Das ist nicht gut fürs nationale Prestige – aber sonst? Aus der schlechten Ausbildung resultiere, so heißt es, ein Mangel an Humankapital. Gebrauchen wir ruhig den bedenklichen ökonomischen Ausdruck, denn so wissen wir, was gemeint ist.
Schlechte Schulen bedeuten wenig Human­kapital? Das muss nicht sein. In den USA sieht es mit den niederen Bildungsanstalten auch nicht gut aus. Aber sie profitieren vom Brain Gain. Gut ausgebildete Leute wandern aus anderen Ländern zu. In der Bundesrepublik gibt es das lediglich in einzelnen Bereichen. So kommt etwa qualifiziertes Pflegepersonal aus Osteuropa. Man kann zwar nicht behaupten, dass an deutschen Universitäten zu wenige Ärztinnen und Ärzte aus­gebildet würden. Aber sie können oft nicht gehalten werden, sondern gehen dorthin, wo sie bes­ser bezahlt werden: in die Schweiz, nach Österreich oder nach Großbritannien. Hier liegt der De­fekt nicht im Bildungswesen, sondern auf der Ausgabenseite des Gesundheitssystems. Aber ein ernsthafter Ärztemangel besteht noch nicht. Das ist die Reklamenummer eines Berufsstandes.

In Zeiten guter Konjunktur wird über den Mangel an Facharbeitern geklagt. Das dreigliedrige Schul­system sieht derlei gut ausgebildete Spe­zialisten irgendwie nicht vor. Wer einen Hauptschulabschluss hat, findet oft keine Lehrstelle, da die dort vermittelten Kenntnisse und Fertig­keiten angeblich oder tatsächlich nicht ausreichen. Abiturientinnen und Abiturienten wollen meist studieren. Selbst wenn sie eine Lehre machen, bleiben sie kaum auf Dauer im Ausbil­dungs­beruf. Die verbliebenen Realschulabsolventinnen und -absolventen, so könnte man annehmen, sind zu wenige, um den Bedarf an Facharbeitern zu decken. So kommt es zum Nebeneinander von einerseits unbesetzten, andererseits fehlenden Lehrstellen. Die Bildungspolitik auf diesem Gebiet beschränkt sich auf das (immer wieder miss­lingende) Justieren von Angebot und Nachfrage.
Kommen wir zur ewigen Krise der deutschen Universitäten, die in Wirklichkeit nur in den geisteswissenschaftlichen Fächern herrscht. Unter Kaiser Wilhelm waren die Geisteswissenschaften einst gut ausgestattet, weil sie zur Sinnstiftung und zur Legitimation der Nation beitragen sollten. Später leisteten Gesellschaftswissenschaftler denselben Liebesdienst an der so genannten Zi­vil­gesellschaft. Heute erledigen das die Medien. Da sind zwar ebenfalls Geisteswissenschaftler tätig, aber die Universität hat zu ihrer Ausbildung wenig beizutragen. Heutzutage muss ein Bachelor-Studiengang von sechs Semestern ausreichen. Für den darüber hinausgehenden Wissenschaftsaufwand gilt: Je weniger es davon gibt, desto kostengünstiger. Werden die verbleibenden Mittel auf ein paar Projekte konzentriert, dann heißt das Exzellenz. Wer mehr will, muss bei Sponsoren betteln gehen oder auf eine Public Private Partner­ship hoffen.
Geistes- und Sozialwissenschaftler sind im Um­gang mit der Öffentlichkeit noch geübter als Lehrer. Deshalb werden ihre Klagen über die Krise ih­rer Fachbereiche der Universität weithin ver­nom­men, wenngleich selten erhört. Naturwis­sen­schaft­ler und Ingenieure sind stiller. Ihre Fakultäten be­kommen allerdings auch, was sie brauchen – teils vom Staat, vor allem aber von den Unternehmen für die Auftragsforschung. Der Out­put an Absolventinnen und Absolventen könnte etwas höher sein. Die Schulen vermitteln da vielleicht wirklich zu wenig grundlegendes Wissen. Neuerdings sorgen die Studiengebühren für einen Rückgang an Immatrikulationen, das trifft auch die Ingenieur- und Naturwissenschaften. Anders als bei einfacher Handarbeit und Pflegekräften gibt es auch nicht allzu viel Brain Gain. Die Inder statt Kinder gehen lieber in Länder, in denen man Englisch spricht. Auch werden sie dort wohl besser bezahlt.
Zwischenfazit: Sehen wir uns die Bildungs­situa­tion rein materialistisch an, dann ist das ­Ergebnis eher mittelmäßig – keine durchgängi­ge Misere, aber etwas mehr Humankapital wäre schon recht nett.

Jetzt können wir uns zur Abwechslung einmal dumm stellen und idealistisch vorgehen. Fragen wir also nicht nach den Bedürfnissen des Ka­pitals, sondern – es sei erlaubt – der Menschen. Recht autoritär-normativ schreiben wir ihnen au­ßerdem noch zu, was gut für sie sein könnte, etwa ihre Begabungen zu entdecken und optimal zu entwickeln. Das dürfte nicht erst in der Schule beginnen. In Skandinavien und in Finnland gibt es Ganztagskindergärten so ziemlich für alle. Erzieherinnen und Erzieher haben eine Fachhochschulausbildung und werden ordentlich bezahlt. Die Einkommen einer Erzieherin und einer Profes­sorin klaffen nicht so weit auseinander wie hierzulande. Das Schulsystem ist nicht dreigliedrig, es gibt die Einheitsschule, und die Pisa-Ergebnisse sind glänzend.
Können wir das in Deutschland auch haben? Nein. Warum? Es ist zu teuer.
Ein Bildungssystem wie in den skandinavischen Ländern oder Finnland kostet natürlich einiges. Gerade die Vielverdiener zahlen dort auch einiges an Steuern, was einer vorzüglichen Infrastruktur zugute kommt. Die in wirtschaftlich besseren Zei­ten bereitgestellte großzügige Summe für die Bildung muss lediglich nach Maßgabe der Inflationsrate und des Wirtschaftswachstums aufgestockt werden, um das Niveau zu halten. In Deutsch­land müsste das Steuersystem erst mal komplett verändert werden, und das will fast niemand. Somit ist auch klar, weshalb der deutsche Bildungsgipfel nur zwei Stunden dauerte: Es gab nichts zu bereden.