Die Nationalhymne in französischen Stadien

Fußball und Hymnenpathos

Nach einer Intervention von Präsident Sarkozy führen in Frankreich Pfiffe bei der französischen Hymne zum Abbruch von Spielen der Nationalelf.

Kaum sind die letzten Klänge der Nationalhymne und die sie begleitenden Pfiffe verklungen, überschlagen sich die Ereignisse in dem riesigen Stadion. Der Abpfiff erklingt, noch bevor das mit quasi elektrischer Spannung erwartete Fußballmatch beginnen konnte. Per Lautsprecher werden die rund 40 000 Menschen im Stadion aufgefordert, sich unverzüglich zu den Ausgängen zu begeben.
Es kommt zu tumultartigen Szenen. Die Polizei muss eingreifen, um der Lage Herr zu werden, und entsendet Tausende von uniformierten Beamten in und rund um das Stadion. Die Fernsehkameras senden spektakuläre Bilder, als die erste Tränengasgranate in der Nähe einer dicht gedrängten und ihrem Unmut lautstark Luft machenden Menge explodiert.
Werden die Fernsehzuschauer bei Spielen, an denen die französische Fußballnationalmannschaft teilnimmt, in naher Zukunft Zeugen solch dramatischer Ereignisse werden?
Das wird sich bald zeigen Die Voraussetzungen dafür scheinen jedenfalls geschaffen, denn Präsident Nicolas Sarkozy höchstpersönlich hat es angeordnet: Jedes Spiel, bei dem die fran­zö­sische Nationalhymne, die Marseillaise, ausgepfiffen wird, muss abgebrochen werden. Sar­ko­zy reagierte damit auf die jüngsten Ereignisse am Rande des Freundschaftsspiels Frankreich – Tune­sien, das am 14. Oktober im Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis stattfand.
Es war nicht das erste Mal in der jüngeren Ge­schichte, dass ein Fußball-Länderspiel unter Beteiligung der Bleus damit beginnt, dass die Marseillaise Pfiffe erntet. Schon vor Jahren wurden solche Zwischenfälle bei internationalen Turnieren in Portugal, Italien und Israel registriert. Auch bei innerfranzösischen Spielen kam es zu ähnlichen Ereignissen: Im Mai 2002 pfiff ein Teil des Publikums beim Finale der fran­­zösischen Liga, bei denen sich die Clubs aus dem bretonischen Lorient und aus dem korsischen Bastia gegenüber standen. Vor allem Anhänger einer Autonomie Korsikas dürften damals am Pfeifen auf die Hymne beteiligt gewesen sein.
In den Köpfen hängen geblieben sind beim Publikum indessen vorwiegend Zwischenfälle, die am Rande von Länderspielen zwischen Frank­reich und nordafrikanischen Staaten stattgefunden haben. So beim Freundschaftsspiel Frank­reich – Algerien im Oktober 2001, ebenfalls in Saint-Denis. Spektakulär war damals vor allem, dass das Spiel abgebrochen wurde, nachdem übermäßig euphorische Fans auf den Rasen gesprungen waren. Das Ganze hatte damals jedoch mehr von einer überbordenden Feststimmung, als dass es von einer Gewaltatmosphäre geprägt war. Aber 9/11 lag damals erst drei Wochen zurück, und ein Gutteil des französischen Publikums reagierte entsetzt und verängstigt auf diesen »Beweis unzureichender Loyalität« junger Staatsangehöriger zur Nation: Waren sie nicht doch die »fünfte Kolonne« des internationalen Terrorismus?
Ähnlich fallen die Reaktionen nun nach den neuesten Pfiffen aus, auch wenn heute in der Öf­fentlichkeit kein vermeintlicher Zusammenhang zu al-Qaida hergestellt wird. Im Vorfeld des Matchs Frankreich – Tunesien hatte die fran­zö­sische Polizei mit »Zwischenfällen« gerechnet. Nach den Pfiffen gegen die Marseillaise von 2001, aber auch am Rande eines französisch-marokka­nischen Freundschaftsspiels im Novem­ber vorigen Jahres schien klar, dass auch dieses Mal mit Ähnlichem zu rechnen war. Denn die jungen Franzosen tunesischer Herkunft wollten es offen­bar nicht auf sich sitzen lassen, weniger spektakuläre Aktionen hinzubekommen als jene algerischer oder marokkanischer Abstammung. Es kam also, wie es beinahe kom­men musste.
Neu war aber, dass dieses Mal die Politik sofort die Initiative übernahm und sich auf die Ereignisse stürzte. Präsident Sarkozy bestellte den Chef des Fußballverbands FFF – Jean-Marie Escalettes – in den Elyséepalast ein. Dort wurde dem Verbandsfunktionär verordnet, künftig müsse jedes Spiel sofort abgebrochen werden, falls »Symbole der Nation« wie die Hymne ver­unglimpft würden.
Der FFF-Vorsitzende wandte zaghaft ein, dies könne einige praktische Probleme mit sich brin­gen, falls eine unzufriedene Menge evakuiert werden müsse. Sarkozy antwortete ihm daraufhin: »Der Staat übernimmt die Verantwortung.« Am Abend wurde bekannt, dass die Staatsanwalt­schaft ein Ermittlungsverfahren wegen der Straftat »Verunglimpfung von Nationalsymbolen« eingeleitet habe.
Der Staatssekretär für Sport, Bernard Laporte, verbreitete unterdessen in den Medien seine eigenen Ideen. »Wir haben keine Lust mehr, das zu erleben. Keine Spiele mehr gegen Algerien, Marokko, Tunesien im Stade de France. So wird dieses Publikum seiner Mannschaft beraubt sein.« Stattdessen schlug der Mann vor: »Spiele bei ihnen zu Hause, oder in der Provinz, in kleineren Stadien. (…) Wenn solch ein Match in Car­cassonne oder Biarritz stattfindet, dann werden die 30 000 Tunesier aus dem Raum Paris das Spiel nicht sehen. Dann haben wir ein gesundes Publikum (un public sain).«
Der jungsozialistische Politiker Razzye Hamade, der selbst die Pfiffe kritisiert hatte, warf Laporte daraufhin eine »rassistische und xe­nophobe Reaktion« vor. Worauf der Sprecher der Regierungspartei UMP, Frédéric Lefebvre, antwortete, die Opposition führe »einen Hexenpro­zess« gegen Laporte. Möglicherweise war die Intention, die Bernard Laporte verfolgte, nicht bewusst rassistisch. Die Wirkung war es jedoch, zumal zur selben Zeit eine Kampagne durch die Leserbriefseiten von Zeitungen und die Internetforen tobte, deren Tenor großenteils lautete: »Na, wenn es euch hier nicht gefällt, dann geht doch nach drüben. ›Rüber über das Mittelmeer … «
Das böse Spiel zu beruhigen versuchte Michel Platini, der frühere Trainer der französischen Fußballnationalmannschaft, jetzt Präsident des Europäischen Fußballverbands Uefa. In einem Interview mit Le Monde erklärte er die aufgeregten Reaktionen für Quatsch: »Vor 30 Jahren, als ich selbst in der Nationalmannschaft spielte, wurde die Marseillaise auf allen Spielfeldern ausgepfiffen. Aber damals interessierten sich die Politiker nicht für Fußball, und es schockierte niemanden.«
Platini verwahrte sich gegen die Einmischung der Politik, die darin bestehe, den Sportverbänden vorzuschreiben, wann sie ein Spiel abzubre­chen hätten: Darüber entscheide immer noch der zuständige Verband oder der Schiedsrichter. Er fügte hinzu, er selbst habe die Marseillaise – obwohl er sie für »die schönste Hymne der Welt« halte – noch nie vor einem Spiel gesungen: »Ich habe mich nie dazu entschließen können, denn es ist ein kriegerischer Gesang. Und Fußball ist ein Spiel, kein Krieg. Aux armes, citoyens! (Zu den Waffen, Bürger!): Ich schaffte es nicht, diese Worte vor einer Begegnung zu singen.«
80 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen erklärten sich nach einer Umfrage für die Boulevardzeitung Le Parisien »schockiert« über die Pfiffe. Allerdings sind die Ansichten demnach, vertraut man den Ergebnissen, je nach Altersgruppen unterschiedlich verteilt. Ei­ne Aufschlüsselung belegt demnach, dass »nur« 62 Prozent der Generation unter 30 Jahren, aber 86 Prozent der über 50jährigen allergisch auf die Pfiffe reagieren.