Indien hat die Finanzkrise gut verkraftet

Immun, aber kränkelnd

Die staatlich regulierte Finanzbranche Indiens hat die Krise bislang gut überstanden. Dennoch wird das Kapital knapp, das Wirtschaftswachstum geht zurück.

Im Weltraum läuft es gut für Indien. Der erste indische Satellit fliegt auf dem geplanten Kurs zum Mond, im November soll dort die indische Fahne platziert werden. Das Projekt soll nicht zuletzt sym­bolisch den Anspruch untermauern, zu den global players zu gehören, die in irdischen Angelegenheiten ein Wort mitzureden haben.
Auch auf der Erde lief es für Indien besser als für manche andere Staaten. Bislang hat die Finanzkrise nicht zu großen Pleiten unter den nach wie vor größtenteils staatlich kontrollierten Banken geführt. Der Finanzsektor hat ausgerechnet vom hinhaltenden Widerstand der Linksfront gegen die von der Regierung unter Führung der Kongresspartei eigentlich seit Jahren geplante Liberalisierung der Finanzmärkte profitiert, wie Jayati Ghosh, Korrespondent des einflussreichen Wirtschaftsdienstes The Hindu Business Line, leicht süffisant anmerkt.

Auf diese Weise tragen die indischen Kommunisten zur Stärkung des nationalen Kapitalismus bei. Derzeit dürfen indische Banken keine komplizierten Finanzprodukte verkaufen, keine Derivate zum Beispiel, die anderswo zum Kollaps des Systems beigetragen haben. Indien hat zwar sein Bankwesen schrittweise geöffnet, doch drei Viertel aller Bankgeschäfte werden weiterhin über staatliche Kreditinstitute abgewickelt. Deshalb sind Indiens Banken tatsächlich »recht immun«, wie Finanzminister Palaniappan Chidambaram nun unablässig verkündet. Die Regierung fordert ein Mitspracherecht. »Die Hauptverantwortung liegt bei den Industriestaaten, doch Indien und China müssen sich an der Lösung beteiligen«, sagte Ministerpräsident Monmohan Singh.
Doch auch Indien ist von der Krise betroffen. Am Montag voriger Woche senkte die indische Zentralbank erstmals seit vier Jahren die Leitzinsen, um Kredite zu verbilligen und die Abwertung der Rupie zu stoppen. Damit und mit der Absenkung der obligatorischen Mindestreserven der Banken pumpten Regierung und Zentralbank eine Billion Rupien (rund 15 Milliarden Euro) in das Finanzsystem, um den Kreditfluss wieder in Schwung zu bringen. Möglicherweise wird die Regierung bald gezwungen sein, einen Teil ihrer beträchtlichen Devisenreserven in Höhe von gut zwei Billionen Dollar für die Stabilisierung der Wirtschaft einzusetzen. Die indischen Banken sind vorsichtig mit Kreditvergaben geworden, die Kapitalknappheit belastet zunehmend das Wachs­tum. Es könnte im Geschäftsjahr 2008/2009 auf 7,5 Prozent sinken, sagte Singh. Im Vorjahr stieg das Bruttoinlandsprodukt noch um neun Prozent.
Die abwartende Haltung der indischen Geldinstitute senkt auch die Nachfrage der Mittelschicht, denn gut 70 Prozent der privaten Autokäufe etwa waren in den vergangenen Jahren kreditfinanziert. Der Absatz indischer Automarken wie Maruti oder Ambassador brach ein. Auch auf dem Immobilienmarkt zeigen sich die Grenzen des Wachstums. In den letzten Jahren sind in allen großen Metropolen Vororte für die sich nach westlichem Komfort sehnenden Neureichen entstanden, mit bezeichnenden Namen wie etwa »Salt Lake City«. Eben diese Neureichen vermeiden nun größere Ausgaben, Makler bieten bei Wohnimmobilien starke Preisnachlässe.

Auch die ausländischen Direktinvestitionen sind deutlich zurückgegangen. Hart getroffen etwa wur­de Mumbais Börse. In den vergangenen neun Monaten flossen über zehn Milliarden Dollar ab. Der Leitindex Sensex ist seit Jahresbeginn um die Hälfte geschrumpft, nachdem er fünf Jahre lang fast ständig gewachsen war. Dieser Kapitalabfluss belastet auch die Industrialisierungsvorhaben.
Der weltweite Abschwung setzt auch der IT-Branche zu. Vorbei sind die Zeiten, als junge Softwarefachleute sich die Stellen aussuchen konnten und für eine höhere Bezahlung mehrmals im Jahr die Firma wechselten. Die Mitarbeiterfluktuation sinkt, bei Infosys Technologies, einer der größten Technologiefirmen Indiens, betrug sie im vorigen Quartal nur noch acht Prozent. Ein Jahr zuvor hatten im gleichen Zeitraum noch 13 Prozent der An­gestellten das Unternehmen gewechselt.
Auch der Arbeitsmarkt in den neuen Dienstleistungsindustrien bietet kaum noch Einstellungs­chancen. Die Callcenter-Branche etwa, die in den vergangenen Jahren vom Outsourcing profitierte, baut Jobs ab. Neueinstellungen im Bank- und Finanzsektor gibt es praktisch keine mehr. »Wir fürchten, dass dieser Trend auf andere Bereiche übergreift«, sagt B. S. Murthy, Chef der Beraterfirma Human Capital in Bangalore. In der Textil­industrie etwa wird mit einem Exportrückgang um fünf bis zehn Prozent gerechnet.
Es erweist sich nun, dass die kapitalistische Mo­dernisierung Indiens zu beträchtlichen Teilen auf den Investitionen und Produktionsverlagerungen internationaler Unternehmen basierte, die nun sehr vorsichtig sind und zum Teil bereits begonnen haben, Kapital abzuziehen und Produk­tionsstätten dichtzumachen. Indiens Wirtschaft sei wegen der Investitionen so schnell gewachsen, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Arun Kumar vom Indian Institute of Technology. »Und die gehen zurück. Der ganze Investitionsgüterbereich ist eingebrochen. Die Theorie, dass Indiens Wirtschaft von der Entwicklung im restlichen Asien, in Europa und den USA abgekoppelt sei, ist widerlegt.« Er hält den indischen Traum vom jahrelangen Wachstum für ausgeträumt. »Indien ist sehr schwach, politisch und finanziell. Wir wer­den nicht demnächst Nummer drei in der Welt sein oder so etwas. Das erzählen wir uns nur selbst, um uns aufzubauen. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun.« Die hohen Wachstumsraten Indiens von acht und mehr Prozent seien die Ausnahme gewesen.

Dass etablierte indische Großkonzerne allerdings noch liquide genug sind, um eine Zeit lang auch ohne fremdes Kapital ihre Expansionspläne zu finanzieren, stellte der Automobilkonzern Tata Motors im März unter Beweis. Das Unternehmen kaufte Ford Motors die beiden Marken Land Rover und Jaguar für 2,3 Milliarden Dollar ab – und bezahlte den Gesamtbetrag sofort.
Eine eventuelle allgemeine Krise der bisherigen Wachstumsbranchen muss auch keine gravie­ren­den Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft haben. Von Indiens Aufschwung profitierte bislang eine urbane Minderheit von kaum mehr als 20 Prozent der Bevölkerung, und der Kreis jener, die der Gefahr des Absturzes in die Armut dauerhaft entronnen sein dürften, überschreitet kaum eine Million Menschen. Allzu leicht wurde von den Propheten der »neuen Weltmacht« übersehen, was für gewaltige Probleme ungelöst blieben. Um die Betriebe im industriellen Gürtel zwischen Mumbai und Surat mit Energie zu versorgen, wird einem Großteil der Bevölkerung des gan­zen Gebietes seit Jahren planmäßig bis 16 Stunden am Tag der Strom abgestellt. Dasselbe Bild bietet sich in nahezu jeder größeren Stadt, die Straßen sind in chronisch schlechtem Zustand, das Schienennetz ist teilweise marode.
Noch immer fußt Indiens Wirtschaft auf Mil­lio­nen von Kleinstbetrieben, die für den lokalen Markt produzieren. Neun von zehn Arbeitern sind im informellen Sektor tätig, sie arbeiten ohne Versicherungsschutz, ohne staatliche Auflagen, ohne Mindestlöhne oder Kündigungsschutz. Für sie bedeutete die kapitalistische Modernisierung eine Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen. Wenn die Wachstumsbranchen in die Krise geraten und die Mittelschicht wieder ver­armen sollte, ändert sich für diese Menschen nichts.