Proteste gegen die Bildungsreform in Italien

Zurück zur alten Schule

Die italienische Regierung »reformiert« das Bildungssystem. Sie will durch Kürzungen und Privatisierungen Geld sparen und zu einem traditionellen Schulmodell zu­rück­kehren. Der Protest von Studenten, Schülern, Dozenten und Lehrern weitet sich aus: Dutzende von Universitäten und Schulen sind besetzt.

Die Luft ist so mild wie im Frühling: Ein Hauch von Pariser Mai weht durch die Straßen und über die Plätze Italiens. Seit Anfang Oktober protestieren täglich Tausende von Schülern und Studenten gemeinsam mit ihren Lehrern, Professoren und Familien gegen die von der Regierung beschlossenen Etatkürzungen im Bildungsbereich.
Den Rechten dient die gewiss übertriebe Analogie mit der Achtundsechziger-Bewegung zur Diffamierung des Protests. Ministerpräsident Silvio Berlusconi fürchtet eine von einer »extremen Linken« angeführte Revolte. Er drohte an, die besetzten Universitätsgebäude gegebenenfalls mit Polizeigewalt räumen zu lassen. Francesco Cossiga, ehemaliger Staatspräsident und in den siebziger Jahren ein berühmt-berüchtigter Innenminister, verriet in einem Interview, wie er sich der aufrührerischen Studenten zu entledigen wüsste: »Die Ordnungskräfte dürften kein Erbarmen kennen und müssten alle krankenhausreif schlagen.« Die markigen Androhungen sorgten vorige Woche für wütende Empörung, die Proteste weiteten sich aus. Schließlich musste Berlusconi seine Androhung zurücknehmen.
Tatsächlich organisiert sich der Protest nicht im Geist vergangener Revolten, sondern gegen den gegenwärtig drohenden Zerfall des öffentlichen Bildungswesens. 8,7 Milliarden Euro sollen in den kommenden vier Jahren an den Schulen ein­gespart werden, mindestens 1,4 Milliarden an den Universitäten. Dabei werden in Italien bereits bisher nur 0,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Bildung und Forschung aufgewandt. Andererseits begann der Protest an den Grundschulen, wo die vermeintlich notwendigen Einsparungen eine »Reform« der Grundstufe nach sich ziehen. Einige pädagogische Errungenschaften der sechziger Jahre werden damit rückgängig gemacht. Das von der Kultusministerin Maria­stella Gelmini vorgelegte Dekret sieht beispielswei­se vor, dass die Klassen künftig nicht mehr von verschiedenen Lehrkräften, sondern nur noch von einem einzigen Lehrer, dem maestro unico, betreut werden. Dadurch würden mehrere zehntausend Stellen eingespart und gleichzeitig werde die kon­servative Vorstellung vom Lehrer als einer allwissenden Instanz propagiert. Zur autoritären Wende gehören auch die Wiedereinführung der Schulschürze und die Abschaffung der qualifizier­ten Beurteilung zugunsten der alten Schul- und Verhaltensnoten.
Schließlich zeigt sich der reaktionäre Charakter der »Reform« an einem von der rechtspopulistischen Lega Nord zusätzlich eingebrachten An­trag. Demnach sollen Kinder mit Migrationshintergrund künftig einen Sprachtest absolvieren und bei nachweislich mangelhaften Kenntnissen des Italienischen »separat« unterrichtet werden. Sollte dieses Vorhaben tatsächlich realisiert werden, würde die Schule als eine der wenigen staat­lichen Institutionen zur Integration aufgegeben werden. Mehr noch als die Sorge, der eigene Nach­wuchs müsse künftig im alten Fünfziger-Jahre-Muff aufwachsen, treibt die Eltern aller­dings die Befürchtung, durch die Kürzungen könne die bisher garantierte Ganztagsbetreuung ausfallen und die qualifizierte Hausaufgaben- und Nachmittagsbetreuung privatisiert werden.

Im Hochschulbereich zielen die Einsparungen ex­plizit auf eine verstärkte Privatisierung von For­schung und Lehre. Nur noch jede fünfte vakant werdende Professorenstelle soll ersetzt werden, Tausende von bisher prekär beschäftigten Dozenten verlieren jede Aussicht auf eine Anstellung. Dass wegen der Etatkürzungen einzelne Fakultäten und ganze Universitäten werden schließen müs­sen, wird billigend in Kauf genommen. Dafür wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das die Umwandlung öffentlicher Athenäen in private Stiftungen erleichtert. Allerdings basiert die italienische Wirtschaft überwiegend auf kleinen, mittelständischen Manufakturbetrieben, die weder das Kapital noch das Interesse haben, in Forschung und Entwicklung zu investieren.
Seit Oktober hat sich der Protest deshalb von den Schulen auf die Universitäten ausgebreitet. Der Rektor der Universität Pisa, Marco Pasquali, kündigte als erster an, den üblichen Festakt zur Eröffnung des neuen akademischen Jahres ausfallen zu lassen. Auch andere Rektoren solidarisierten sich mit dem Protest der Studierenden, mehrere Fakultätspräsidenten wollen für einen Tag die Lehrveranstaltungen aussetzen, und unzählige Professoren beteiligen sich mittlerweile an den in ganz Italien stattfindenden öffentlichen Vorlesungen.
Die Proteste werden nicht von einer bestimmten Partei des politischen Spektrums unterstützt. Zwar konnte die Demokratische Partei am Samstag von der allgemeinen Stimmung im Land profitieren, sodass zu ihrer seit langem angekündigten nationalen Demonstration nach eigenen Angaben über zwei Millionen Menschen zusammenkamen, dennoch ist der Protest par­teien­übergreifend und ohne spezifische politische Richtung. Die simple Parole, die jede Demons­tration begleitet, dröhnt auch eher wie ein Stadiongesang: »Eure Krise zahlen wir nicht!« Als ob der Pro­zess, der das öffentliche Bildungswesen demoliert, erst mit der internationalen Finanzkrise in diesem Sommer eingesetzt hätte und nicht einer seit langem auch in anderen europäischen Ländern stattfindenden Transformation der Schul- und Universitätspolitik entspricht. Die Forderung nach der Rücknahme des Regierungsdekrets und der Aufnahme von Verhandlungen ist zudem ziemlich moderat. Doch immerhin regt sich endlich einmal Widerstand gegen das au­­toritäre Vorgehen der rechten Regierung. Dass sich der Protest ausgerechnet anlässlich der Bildungs- und Kulturpolitik manifestiert, hat vie­le überrascht, schließlich schien Berlusconi diesen Bereich am sichersten zu beherrschen.
Die radikaleren autonomen Studentengruppen hoffen, dass aus der Protestbewegung, die sich aus heterogenen Gruppen zusammensetzt, ein neues Subjekt entsteht, das sich in spontanen Aktionen zu beweisen weiß. Schließlich träumen sie von französischen Verhältnissen. Ähnlich wie beim erfolgreichen Protest gegen den Erst­ein­stel­lungs­ver­trag (CPE) im Frühjahr 2006 in Frank­­reich setzen sie auf die manif sauvage, einen wilden, unvorhersehbaren Protest, der nicht auf den Universitätscampus beschränkt bleibt, sondern in die Mitte der Universitätsmetropolen getragen wird. In Rom gelang es einer Gruppe von Studenten, kurzfristig den roten Teppich des Internationalen Filmfestivals zu besetzen, in Bologna wurden zeitweilig drei Bahngleise blockiert. In Mailand kam es beim Versuch, den Regionalbahnhof Cardona zu besetzen, zu gewalt­tätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Bis weit in den November hinein sind im Verein mit den Gewerkschaften weitere Streiks und Demonstrationen geplant. Der Protest könnte außerdem noch eine neue Qualität bekommen, wenn sich ihm die Arbeiter aus der Auto­mo­bil­in­dus­trie anschließen, die in den nächsten Wochen in die Kurzarbeit entlassen werden.