Antisemitismus und Multikulturalismus in der Türkei

»Wir sind wie Zierfische«

Das offizielle Bild von der toleranten türkischen Gesellschaft, in der eine jüdische Minderheit stets willkommen war, ist brüchig geworden. Kritische Stimmen mehren sich, die an die multikulturelle Tradition des Landes erinnern, aber auch die Geschichte des antisemitischen Ressentiments nicht unterschlagen wollen.

In deutsch-türkischen Internetforen sorgt Corry Guttstadts Buch, »Die Türkei, die Juden und der Holocaust« (Jungle World 44/08), zurzeit für erhitzte Debatten. Die einen freuen sich, auch die Türken end­lich als »Komplizen des Holocaust« entlarven zu können, die anderen wittern »Türkenbashing« oder einen Verschwörungszusammenhang um die Autorin als angeblich notorische »Feindin der Türkei«. Nicht wenige diskutieren aber auch nüchtern über die Inhalte des Buchs. Die Darstellung analysiert das wechselhafte Schicksal der Juden in der Türkei. Sie kritisiert eine lange übliche Geschichtsverklärung im Land, die allerdings auch in der Türkei bereits seit einiger Zeit Gegenstand der Forschung ist. Gerade im Vorfeld des Festakts von 2010, wenn Istanbul neben Pécs und Essen europäische Kulturhauptstadt sein wird, gibt es Initiativen und Stimmen, die sich für das kulturelle Erbe der Minderheiten einsetzen.
Der Architekt Korhan Gümüs war früher ein unbequemer Vertreter einer kleinen NGO, heute ist er Mitarbeiter des Organisationskomitees für Istanbul 2010. Das ist bislang kein Interessenkonflikt, denn Gümüs wurde dazugeholt, um zu erklären, was die Oppositon denkt. Missmutig stapft er durch den Regen an der Autobahnbrücke des Istanbuler Stadtteils Hasköy. Am Straßenrand gibt es eine kleine Rasenfläche mit alten Grabsteinen. »Hier erinnert noch vieles an den Grafen de Camondo«, erklärt Gümüs, der sich in einer Initiative von Stadtplanern für den Erhalt des Erbes der Familie Camondo einsetzt. Abraham Salomon de Camondo war der Rothschild des Osmanischen Reichs. Ein jüdischer Bankier, der im 19. Jahrhundert sowohl für seinen Reichtum als auch für seine Wohltätigkeit berühmt war. »Er finanzierte z.B. den Aus­bau des Schienensystems und die Einrichtung eines Fährsystems auf dem Bosporus«, erklärt Korhan Gümüs. Die Familie Camondo musste wie so viele andere auch ihre spanische Heimat 1492 verlassen. In Spanien wurden die Juden seit 1391 offiziell verfolgt und mussten zwischen Hinrichtung und Zwangstaufe wählen. Auf Betreiben des Großinquisitors Tomás de Torquemada wurden am 31. März 1492 alle Juden aus Spanien vertrieben. Sie flohen in andere Länder Europas, 100 000 ließen sich auf Einladung des Sultans Beyazid II. (1481 bis 1512) im Reich der Osmanen nieder. »Damals brauchten die Osmanen treue Untertanen, sie herrschten erst 40 Jah­re über das eroberte Konstantinopel«, sagt Korhan Gümüs. Die Familie Camondo zog 1869 nach Paris, weil der Handel mit Europa florierte. Graf Abraham Salomon de Camondo verstarb vier Jahre später.
Die Familie ließ den Leichnam nach Istanbul überführen. Das von der Stadtverwaltung Istan­buls damals für den Bankier errichtete kleine Mau­so­leum ist aus feinstem Marmor und zeugt von der damaligen Bedeutung des Verstorbenen. Im Zweiten Weltkrieg wurden alle Nachfahren der Familie Camondo von Paris nach Auschwitz deportiert und ermordet. Heute ist der jüdische Friedhof von Hasköy nur noch ein Haufen Schutt. »Eine Schande«, findet Korhan Gümüs, der sich gegen die Auslöschung der geschichtlichen Spuren der Minderheiten wehrt. Mit der seit den neunziger Jahren erstarkenden Zivilgesellschaft ist aber auch eine Gegenbewegung entstanden.
Rıfat N. Bali etwa studierte an der Sorbonne in Paris und forscht seit Jahren über Antisemitismus und die Geschichte der Juden in der Türkei. Er publizierte bislang in türkischen Verlagen sechs Bücher zu dem Thema und ist Autor zahlreicher Zeitungsartikel. Nach den Anschlägen eines türkischen Zweigs von al-Qaida auf zwei Synagogen in Istanbul 2003, bei denen 27 Menschen getötet wurden, schrieb der Wissenschaftler einen Artikel mit dem sarkastischen Titel, »Mutter, Vater, verstummt nicht, erzählt uns bitte weiter die schönen Märchen von Prinzen und Feen«. Darin heißt es: »Mit Erstarken des türkischen Nationalismus wurden die Minderheiten die Prügelknaben des blinden Patriotismus. (…) Hitlers ›Mein Kampf‹ wurde bald nach seinem Erscheinen auch die Bibel der Panturkisten (…), die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ wurden zwischen 1934 und 2003 97mal gedruckt. ›Mein Kampf‹ erreichte in diesem von Antisemitismus freien Land zwischen 1940 und 2003 33 Auflagen.«
Bali greift seit Jahren den Geschichtsmythos von der von Antisemitismus freien Türkei an. Diesen Mythos demontiert auch die deutsch-türkische Forscherin Hatice Bayraktar in ihrer 2006 in Berlin erschienenen Forschungsarbeit, »Salomon und Rabeka. Judenstereotypen in Karikaturen der türkischen Zeitschriften Akbaba (Der Geier), Karikatür und Milli Inkilap (Nationaler Umsturz) 1933 – 1945«. Die Untersuchung ver­knüpft die Analyse der damaligen ge­sell­schafts­politischen Lage der Minderheiten inner­halb der Entwicklung des türkischen Nationalismus mit der Entstehung der politischen Karikatur als Stilmittel. Es zeichnet sich ein deutlicher Du­alismus ab: Während die türkische Regierung einerseits immer wieder auch Schritte gegen anti­semitische Hetze und Ausschreitungen unternahm und vor den Nationalsozialisten flüchtende Dissidenten aus Deutschland aufnahm, spie­geln sich andererseits deutliche Elemente antijüdischer Stereotype in den einflussreichen Publikationen jener Zeit. So wurde die zu den Nationalsozialisten Verbindung pflegende Zeitschrift Milli Inkilap 1934 nach den antijüdischen Ausschreitungen in Thrakien verboten. Bayraktars Erhebung entdeckt vor dem Verbot wichtige Zusammenhänge nationalsozialistischer und panturkistischer Propaganda. Die finanzielle Un­ter­stützung der türkischen Antisemiten durch Nazi-Deutschland ist bekannt, die Entdeckung von sieben Zeichnungen des Zeichners Phillip Ruprecht von 1934 in Milli Inkilap ist neu.
Ruprecht fertigte 20 Jahre lang Zeichnungen für das nationalsozialistische Wochenblatt Der Stürmer. Milli Inkilap übernahm einzelne Karikaturen und ganze Titelblätter antisemitischen Inhalts. Die Karikaturen wurden lediglich kulturell angepasst. In einem Stürmer-Titel vom 1. Juli 1934 heißt es kurz und in Versform, »Mit offenen Augen ins Verderben rennt / ein Volk, das nicht die Rassenfrage kennt«. Offensichtlich bedurfte es bei der Untertitelung der gleichen Zeichnung als Titelblatt von Milli Inkilap eines ausführlicher erläuternden Textes. Die Zeichnung zeigt ein in einen schwarzen Umhang gehülltes, Geige spielendes Skelett, das einen hakennasigen, hässlichen dunkelhaarigen Mann bei der Strangulation einer schönen, blonden Frau zeigt. Tatwaffe ist die Perlenkette des Opfers. Dem türkischen Leser muss im Gegensatz zu dem im faschistischen Deutschland lebenden Rezipienten der antisemitische Kontext ausführlicher geschildert werden, es heißt: »Die Juden haben Jahrhunderte lang die Menschheit eingeschläfert und ziehen uns am Perlenhalfter ins Unglück. Die Liebe zur Rasse und zum Nationalismus sind wichtige Heilmittel gegen diese Gefahr.«
Die Geschichte der Juden in der Türkei hat ihre dunklen Stellen. So erließ zum Beispiel der Sultan Murad III. (1546 bis 1595) ein Gesetz, nach dem sämtliche Juden im Reich getötet werden sollten. Dieses Gesetz trat allerdings nicht in Kraft. Ein Gesetz aus dem Jahre 1702, das es Juden beispielsweise gebot, gelbe Pantoffeln zu tragen, war offensichtlich schikanös. Im Jahr 1728 mussten die Juden, die neben der Valide-Moschee lebten, ihre Häuser an Muslime verkaufen. Erst im 19. Jahrhundert wurden die Juden den Muslimen rechtlich gleichgestellt. Die nationalpolitischen Konflikte im Übergang von dem osmanischen Vielvölkerreich zum Nationalstaat Türkei (1914 – 23) zogen natürlich auch die jüdischen Gemeinden in Mitleidenschaft, wenn ihnen auch das Schicksal der gewaltsamen Vertreibung wie im Falle der Armenier und Griechen zunächst erspart blieb. Als jedoch die kemalistische Nationsbildung in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre den Weg einer ethnischen Homogenisierung einschlug, sahen sich viele Juden mit der Gefahr einer forcierten Assimilation oder Auswanderung konfrontiert. Den­noch war seit der Einwanderung der spanischen Juden das Osmanische Reich und später auch die Republik Türkei ein Ort für europäische Juden, in dem sie im Gegensatz zum Abend­land in relativer Sicherheit und Freiheit leben konnten. Zwar verbot die türkische Republik vor dem Zweiten Weltkrieg, ausländischen Juden Visa zu erteilen, doch wurde dieses Dekret von manchen türkischen Diplomaten umgangen, in­dem sie vielen Juden die türkische Staatsbürgerschaft verliehen und sie so vor den Konzentrationslagern retteten. So hat zum Beispiel die zentrale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel den damaligen türkischen Konsul in Rhodos, Selahattin Ülkümen, mit dem Ehrentitel »Ge­rechter unter den Völkern« ausgezeichnet, weil er den Juden der griechischen Insel Rhodos unter Einsatz seines Lebens zur Flucht verholfen hatte. Ab Ende 1942 war Istanbul der Sitz der Or­ganisation »Vaad Ha-Hatzalah« der Jewish Agency, die die Aufgabe hatte, auf legalen und halblegalen Wegen möglichst vielen Juden aus Europa zur Flucht nach Palästina zu verhelfen. Viele schafften es dennoch nicht. Wegen des generellen Einreiseverbots sowie auf britischen Druck wurde Anfang 1942 dem Schiff »Struma« mit 769 jüdischen Flüchtigen aus Rumänien das Anlegen in der Türkei verwehrt. Es sank kurz darauf im Schwarzen Meer, vermutlich nach Tor­pedobeschuss durch ein sowjetisches U-Boot, es gab nur wenige Überlebende. Im Jahre 1942 kam es zur Einführung einer Vermögenssteuer (Varlık Vergisi), die gegenüber Nicht-Muslimen äußerst rigoros angewendet wurde und manche der Betroffenen in die Armut trieb. Als Folge dieser Repressalie, vor allem aber nach der Gründung des Staates Israel 1948, wanderten bis zu 30 000 Juden aus. Lebten im Osmanischen Reich noch 120 000 Juden, so sind es in der Türkei heute nur noch etwa 25 000.
Izel Rozental zeichnet für die Wochenzeitung Salom, auf seiner Webseite fungiert ein Aquarium mit virtuellen Fischen als Menü. »Wir Juden sind doch in der Türkei die Zierfische«, spottet er. »Wir sitzen in unserem Aquarium, hübsch und stumm.« Rozental gehört eigentlich nicht zu den Stummen, er thematisiert immer wieder das Problem von Rassismus und Antisemitismus. In seiner Galerie »Schneidertempel«, einer ehemaligen Synagoge, wurde nach den An­schlägen von 2003 eine internationale Karikaturenausstellung gezeigt, die das Thema »die Welt­religionen« hatte. Rozental wollte demonstrieren, dass es sich bei den Anschlägen nicht um Auswirkungen eines religiösen, sondern eines politischen Konflikts handelt. Der ist allerdings mittlerweile immer deutlicher spürbar. Bedenklich ist das Ausmaß der Propaganda in der Unterhaltungsindustrie. Als der türkische Film »Tal der Wölfe« im Januar 2006 in Deutsch­land in die Kinos kam, sorgte vor allem sein unverhohlen antisemitischer Subtext für Irritationen. In der Nebenfigur des jüdischen Arztes, der irakischen Opfern die Nieren entnimmt, um sie an Kunden in New York, London und Tel Aviv zu verkaufen, zeichnete er eine solch plumpe Ka­rikatur des raffgierigen Juden, der über Leichen geht, wie man sie vielleicht in einem Nazi-Propagandafilm, aber kaum in einem türkischen Mainstream-Kassenschlager erwartet hätte.
In den vergangenen Jahren aber haben antisemitische Publikationen in der Türkei in gewissen Kreisen eine unheimliche Konjunktur be­kommen. Der neueste Renner sind Bücher, die vor einer Unterwanderung der Türkei durch die so genannten Dönme warnen. Als »Dönme« werden die Anhänger des ehemaligen Rabbiners von Izmir, Sabbatai Zwi, und deren Nachfah­ren bezeichnet. Dieser hatte sich vor über 300 Jahren zum neuen Messias erklärt und damit Juden aus ganz Europa angelockt. Doch als er im Jahre 1666 verhaftet und vom Sultan zum Tode verurteilt wurde, traten er und seine Gefolgsleute zum Islam über. In die jüdische Ge­schich­te ging Sabbatai Zwi als »falscher Messias« ein. Die Nachfahren seiner Anhänger aber wurden noch in der modernen Türkei als »Krypto­juden« misstrauisch beäugt und angefeindet, weil sie bestimmte jüdische Rituale und Gewohn­heiten beibehalten haben sollen. Tatsächlich waren Nachfahren dieser Dönme unter en­ga­gier­ten Publizisten, liberalen Politikern und linken Journalisten stark vertreten. Von ihren Gegnern wurde ihnen deshalb immer wieder unter­stellt, sie hätten eine geheime Agenda, trügen Verschwörungsabsichten oder stünden im Diens­te des israelischen Staats. Selbst der Republikgründer Atatürk, dessen Geburtsstadt Saloniki einst eine Hochburg der Dönme gewesen sein soll, bleibt von solchen Anwürfen nicht verschont. Ein Klüngel aus Freimaurern und Konvertiten habe ihn geleitet, als er das Kalifat abgeschafft und die moderne, säkulare Türkei gegründet habe, behaupten radikale Islamisten.
Der Boom entsprechender Publikationen hat dazu geführt, dass deren krude Thesen in den Mainstream einsickern. Von einer neuen Qualität kündete etwa die iranische Fernsehserie »Zehras blaue Augen«, die im Sommer 2005 im Abendprogramm des islamistischen Fernseh­senders TV 5 ausgestrahlt wurde. Die siebenteilige Reihe spielt im israelisch besetzten West­jordanland und erzählt die fiktive Geschichte des israelischen Generals Yitzhak Cohen, der für seinen an den Rollstuhl gefesselten und erblindeten Sohn Theodor dringend ein neues Augenpaar benötigt. Israelische Soldaten, die sich als UN-Mitarbeiter verkleidet haben, besuchen daraufhin eine palästinensische Schule. Unter dem Vorwand, die Kinder auf Augenkrankheiten zu untersuchen, wird die kleine Zehra in der letzten Folge ihrem Großvater entrissen und ins Krankenhaus gebracht, wo ihr die Augen entnommen und dem kranken Theodor eingepflanzt werden. Als ihr Bruder von dem grausamen Organraub erfährt, beschließt er, ein Selbstmordattentat zu verüben. Im Mai 2006 wurde bekannt, dass die DVD in Berlin-Kreuzberg auf einem Buchbasar der islamistischen Organisation Milli Görüs verkauft wurde. Der Film wurde dann sofort aus dem Sortiment genommen, es gibt ihn aber in Deutschland auf der Online-Filmdatenbank noch im Internet zu kaufen. Genrebezeichnung: Kinder-, Horror- und Familienfilm.