Interview mit Mehmet Desde über seine Verurteilung als kurdischer Terrorist in der Türkei

»Ich heiße Mehmet und nicht Marco«

Im Sommer 2002 war der deutsche Staatsbürger Mehmet Desde aus Landshut in die Türkei gefahren, um seinen Vater zu beerdigen und danach ein paar Tage Urlaub in Izmir zu machen. Doch er erhielt Ausreiseverbot und verbrachte sechs Jahre in der Türkei, weil er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Vor drei Wochen wurde er aus der Haft entlassen und konnte wieder nach Deutschland zurückkehren.

Sie wurden während eines Urlaubs in Izmir am 9. Juli 2002 festgenommen, auf das Polizeipräsidium in Bozyaka bei Izmir gebracht und von der Anti-Terror-Abteilung verhört. Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Bei der Festnahme wurde mir kein Grund genannt, obwohl die Polizei dazu rechtlich verpflichtet ist. Weder wurde meine Familie über die Festnahme informiert noch die deutsche Landesvertretung, auch ein Rechtsbeistand wurde mir verweigert, alles entgegen den gesetzlichen Vorschriften. Erst als ich mit verbundenen Augen an einen Tisch im Polizeipräsidium gesetzt wurde, von der linken Seite Luft aus einem Ventilator kam und von rechts heißes Licht auf mein Gesicht schien, sagte man mir, dass ich reden solle. Sie hätten bewaffnete Leute aus den Bergen zum Reden gebracht. Sie wüssten, dass ich Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei Nordkurdistan-Türkei sei, und wenn ich nicht mein Leben lang die Schläge spüren wollen würde, sollte ich reden.

Wer ist die Bolschewistische Partei Nordkurdistan-Türkei?

Das wusste ich auch nicht. Ich hatte von dieser Organisation niemals vorher etwas gehört, und schon gar nicht war ich jemals deren Mitglied gewesen.

Warum ermittelte die Polizei gegen diese Gruppe?

In Izmir waren im Sommer 2002 Flugblätter und Aufkleber von dieser Gruppe verteilt worden. Das hat offenbar ausgereicht, um sie als terroristische Vereinigung einzustufen.

Wie kam die Polizei darauf, dass Sie etwas mit dieser Organisation zu tun hätten?

Wie ich erst später herausfand, hatte jemand Anzeige gegen mich erstattet. Diesen Mann kannte ich flüchtig. Ich hatte ihn in den achtziger Jahren bei einem kleinen Fußballturnier in Coburg kennen gelernt. Er muss dann später in die Türkei zurückgekehrt sein, ich hatte allerdings keinen Kontakt mehr zu ihm.

Wenn diese Anzeige der Vorwand war, welche Ermittlungen hat die Polizei dann eingeleitet?

Ermittlung kann man das wohl nicht nennen. Der Mann, der das Verhör bei der Anti-Terror-Abteilung leitete, sagte mir, dass wir sieben Tage Zeit hätten und ich diese Zeit auf dem Polizeipräsidium verbringen würde. Er fragte mich, ob ich Angst hätte, gefoltert zu werden, und sagte mir mehrfach, dass der deutsche Ausweis, den ich bei mir trug, gefälscht sei.
Da ich zu der Partei nichts sagen konnte, wurde ich heftig geschlagen. Ich habe dann etwas unterschrieben, das ich gar nicht lesen konnte, weil mir immer noch die Augen verbunden waren. Dasselbe hat die Polizei mit sieben weiteren Festgenommenen gemacht, denen ebenfalls unterstellt wurde, terroristische Aktivitäten im Zusammenhang mit dieser Bolschewistischen Partei unternommen zu haben. So wurden vor Gericht unter Folter unterschriebene Aussagen vorgelegt, die unter anderem behaupteten, ich und der Berliner Journalist Mehmet Bakir seien führende Mitglieder und Organisatoren dieser Partei. Alle diese Aussagen wurden von den betreffenden Leuten vor Gericht widerrufen, da sie wie meine unter Folter erpresst worden sind. Doch das hat das Landesgericht Izmir nicht interessiert, und es verurteilte mich zu 30 Monaten Haft.

In der nächsten Instanz plädierte selbst der Generalstaatsanwalt auf Freispruch. Aber die neunte Kammer des Kassationsgerichts bestätigte in Ankara am 25. Dezember 2006 das Urteil. Welches Interesse hatten die Gerichte an Ihrer Verurteilung?

Das kann ich nicht beantworten. Auch wenn es in der Türkei einige Reformen gab, hat sich in den Köpfen der Richter kaum etwas geändert. Türkische Richter urteilen immer noch nach ihren Vorurteilen. Ich bin in Tunceli geboren, einer linken kurdischen Hochburg, da ist man sowieso schon abgestempelt. Außerdem lebe ich in Deutschland, das macht dann alles noch viel schlimmer, weil dann vermutet wird, dass man vom Ausland aus Aktivitäten organisiert.

Man konnte Sie aber nicht wegen terroristischer Aktivitäten verurteilen, da nicht nachgewiesen werden konnte, dass diese Partei bewaffnete Aktionen ausgeführt hat. Wie hat die Anklage argumentiert, dass es sich trotzdem um eine terroristische Vereinigung handele?

Gar nicht. Da es dem Gericht in Izmir nicht gelang zu beweisen, dass ich Gewalt für politische Zwecke angewendet habe, haben sie den Begriff der »ideellen Gewalt« erfunden. Ich bin also verurteilt worden, weil ich an den Sozialismus glaube, und nicht, weil ich dafür zur Waffe gegriffen hätte.

Was ist aus dem Verfahren gegen die vier Polizisten der Anti-Terror-Abteilung in Izmir geworden, gegen die Sie Klage wegen Folter erhoben haben?

Die sind freigesprochen worden.

Haben Sie in der Türkei Unterstützung vom deutschen Staat bekommen?

Die deutschen Konsulate in Ankara und Izmir haben mit den türkischen Diplomaten geredet, mehr aber nicht. Sie haben mir nicht mal dabei geholfen, einen Arzt zu bezahlen oder Medikamente, geschweige denn das Rückflugticket nach Deutsch­land zu bekommen. Das hat Amnesty international bezahlt. Mein Fall hat die deutschen Behörden nicht interessiert. Anders als im Fall von Marco W., der wegen angeblichen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen monatelang in türkischer U-Haft saß. Da haben deutsche Politiker Presseerklärungen abgegeben und sich eingemischt, Druck ausgeübt. Ich bin für die deutschen Medien kein Star, und für die deutschen Politiker noch weniger. Ich habe 24 Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet. Seit 2001 bin ich deutscher Staatsbürger. Trotzdem werde ich wohl als Papierdeutscher betrachtet. Ich heiße eben Mehmet und nicht Marco.

Hat sich jemand Offizielles nach Ihrer Rückkehr bei Ihnen gemeldet?

Nein, niemand außer Amnesty international und ein paar Journalisten.

Welche Folgen hatte die Verurteilung für Ihr Leben in Deutschland?

Ich habe sechs Jahre verloren. Wer gibt mir diese Zeit wieder zurück? Mein Leben wurde in der Türkei zerstört. Ich habe meinen Job und meine Wohnung verloren. Meine Familie und Bekannten haben sich wegen mir verschuldet, um den Anwalt und die Prozesskosten bezahlen zu können. In der Presse wurde ich jahrelang als Verbrecher dargestellt. Ich habe außerdem schwere gesundheitliche Probleme und werde in den nächsten Tagen nach Berlin ins Zentrum für Folteropfer gehen.

In der vergangenen Zeit häufen sich wieder Berichte von Folter seitens türkischer Polizisten. Mitte Oktober starb Engin Ceber an einer Gehirnblutung, zu der es infolge schwerer Schlä­ge auf der Polizeiwache gekommen war. Immerhin hat die türkische Regierung sich zum ersten Mal bei den Angehörigen entschuldigt. Wird das etwas an dem Verhalten der Polizei ändern?

Die Türkei ist ein Folterland, es gibt dort keine Demokratie. Nach wie vor spielt das Gesetz in der Türkei keine große Rolle. Ich bin nicht der Einzige, dem eine solche Ungerechtigkeit widerfahren ist, es gibt etliche Fälle wie mich. Aber ich will meine Geschichte trotzdem in der Öffentlichkeit erzählen, denn die Ungerechtigkeit hört nicht auf. Die europäischen Länder müssen auf jeden Fall mehr Druck aufbauen.

Werden Sie wieder in die Türkei reisen?

Selbstverständlich. Ich habe immer gegen die Ungerechtigkeit gekämpft, und das werde ich auch in Zukunft weiterhin tun.