Trans. Vom Überleben in einem namenlosen totalitären System

Ins Dunkel

Vom Überleben in einem namenlosen totalitären System. Pavel Hak wirft einen Blick in die ganz nahe Zukunft.
Von

Ausgehungert, starr vor Entsetzen.
In der Kanalöffnung lauernd.
Niemand, außer den patrouillierenden Soldaten, darf sich auf den leichenübersäten Straßen blicken lassen. Aber sie sind da. Ihre Augen starren auf die Opfer der Kälte. Mitten auf der Straße, ein alter Mann. Etwas weiter hinten, eine Frau vor einem zerstörten Haus. Fast am Ende der Straße zwei Kinder, eng umschlungen an einer Mauer liegend, wohin sie sich für die Nacht geflüchtet haben, in der Hoffnung zu überleben.
Völlige Stille. Hohle Wangen.
Sie warten, wagen nicht, sich zu rühren.
Die Leichen vor ihren Augen sind nur ein paar Dutzend Meter von der Kanalöffnung entfernt. Ein paar Dutzend Meter, in normalen Zeiten von einem gesunden Mann leicht zu überwinden. Aber sie sind entkräftet. Und (ein Umstand zu ihrem Nachteil) der leiseste Schritt, der leiseste Atemzug verbreitet sich in dieser Grabesstille über Hunderte von Metern, genügt, um die auf den Wachtürmen eingenickten Soldaten zu wecken. Also keine Bewegung, kein Laut, man muss die ersten Geräusche der Stadt abwarten … – Geräusche, die laut genug sind, um hastige Schritte zu übertönen. Was wird zuerst kommen? Das Anlaufen der Maschinen in der Waffenfabrik? Das metallische Klacken der Gewehre des Erschießungskommandos? Der Motor des Lastwagens von der Müllabfuhr? Die Alarmsirenen?
Eisige Kälte. Magenkrämpfe.
Geschürzte Lippen. Zähne.
Alle, die auf der Suche nach Essbarem durchs Land irren, wissen, sie können vom einen Tag auf den anderen krepieren. Der Tod lauert auf sie. Die körperliche Erschöpfung untergräbt die Widerstandskraft. Niemand weiß, ob er in einer Stunde noch atmet. Und dieses unvorhersehbare Ende erfüllt sie mit Entsetzen. Allgemeine Bedrohung, die niemanden ausnimmt. Weder die Reichen noch die Würdenträger des Regimes. Doch was geschieht mit den Toten, die von den staatlichen Müllbeseitigungstrupps eingesammelt werden? Man munkelt von Festmählern in den Regierungspalästen. Böswillige Geister fragen sich, warum die Konservenproduktion (seltsamerweise) trotz des Mangels an Rind- und Schweinefleisch nicht zurückgegangen ist. Sollte die durch jahrelange Rationierungen entkräftete Bevölkerung bereit sein, sich von Toten zu ernähren? Das Regime ist dagegen. Wären die Toten Ausländer, hätte das Regime vielleicht nichts dagegen und würde erlauben, dass die einheimische Bevölkerung sich von Eindringlingen ernährt. Dass die Einheimischen sich gegenseitig auffressen, lässt das Regime nicht zu. Aberglaube? Ideologische Gründe?
Tausende Tote. Millionen Verhungernde.
Gnadenloses Überwachungssystem.
Sie spähen auf die Straße. Bereit, das Verbot zu überschreiten. Ihre Augen sezieren die Leichen, die da liegen, wo der Tod sie niedergemäht hat. Die Strecke überwinden, die Beine des Toten packen, ziehen und den Körper vom gefrorenen Boden lösen, zurückeilen, die begehrte Beute zur Kanalöffnung schleifen, in die man eintauchen muss, bevor eine Kugel dem Dieb den Schädel zerschmettert – kaum machbar. Aber der Hunger bringt selbst die Schwächs­ten dazu, das Unmögliche zu wagen. Ohne nach­zudenken, entscheiden sich alle für die Missachtung des Verbots. Wie die Soldaten ablenken? Welche Strategie wählen? Am besten ein verzweifelter Sturmlauf. Die ausgehungerten Männer machen sich bereit, ohne die Kraft dafür zu haben. Es fehlt an Muskelkraft. An geistiger Energie.
Menschen, zum Sterben verdammt.
Freiwild der überbewaffneten Macht.
Ohne das Überwachungssystem zu überlisten, ohne die Barrieren der Unterdrückung zu durchlöchern, haben die Hungernden keine Chance, sich Nahrung zu verschaffen. Und wenn sie sich keine verschaffen, werden die eisigen (diese Nacht noch weiter gesunkenen) Temperaturen sie in gefrorene Fleischklumpen verwandeln, die dort liegenbleiben, wo die Hoffnung sie im Stich gelassen hat. Ohne zu essen, und sei es eine Graswurzel, kann keiner überleben. Die Hungernden wissen das.
Notwendigkeit zu handeln. Ungeduld.
Scharf überwachte Straße.

Zitternde Hände. Blankliegende Nerven.
Zu lange Wartezeit. Angst.
Hätte Wu Tse die Staatsmaschine nicht kennen­gelernt, wüsste auch er nicht, was zu tun ist. Aber einige Monate zuvor hatte der Offizier Deng Zhou ihn durch irgendeinen Zufall aus der Menge der Arbeitsuchenden ausgewählt: die unerwar­tete Gelegenheit, ein paar Schalen Reis zu ergattern. Seit 17 Tagen hatte Wu Tse nichts mehr gegessen. Gleich nach den Haustieren, streunenden Hunden und Ratten war das Gras ver­schwun­den, ausgerissen von knochigen Händen, zerkaut von gierigen Mündern von Skeletten an der Schwelle des Todes. Von Hunger und Verzweiflung angetrieben, war Wu Tse wie fast die ganze von ihrem Los zermürbte Bevölkerung längst bereit, sich von Toten zu ernähren (dem Verbot des Regimes zum Trotz). Aber er wusste nicht, wo sie zu finden waren. Am ersten Arbeitstag unter dem Kommando von Offizier Deng Zhou wurde Wu Tse klar, was zu tun war.
»Zieht die Gummihandschuhe an«, brüllte Offizier Dang Zhou. »Und steigt schleunigst ins Führerhaus eures Müllwagens.«
Wu Tse gehorchte.
Sie waren drei arme Teufel pro Fahrzeug (ein Fahrer, zwei Einsammler). Ein Dutzend Wagen im Hof des Polizeipräsidiums warfen ihre Motoren an. Jeder hatte seinen Bezirk, die Stadt war in zehn Bezirke aufgeteilt. Alles in diesem Staat (die Waffenproduktion, die Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren und das Privatleben der Leute) war mit der gleichen peinlichen Genauigkeit organisiert, die die Bevölkerung seit fast einem Jahrhundert unter dem Joch eines grausamen Regimes hielt (des Regimes, das Wu Tse und seine Komplizen zwingt, bei eisiger Morgenkälte in der Öffnung der Kanalisation auf der Lauer zu liegen). Der Müllwagen setzte sich in Bewegung, verließ den Hof des Polizeiprä­sidiums und bog in die Straße ein, die zu ihrem Bezirk führte, zum Bezirk Qizhou.
»Der Bezirk, in dem ihr euren Job lernen werdet«, verkündete Offizier Deng Zhou.
Die ganze Fahrt vom Polizeipräsidium zum Be­zirk Qizhou starrte Wu Tse auf seine in den Gummihandschuhen steckenden Hände. Würde er nach siebzehn Tagen Fasten die Gelegenheit bekommen, ein Stück Fleisch aus den Flanken einer Leiche zu reißen? Er krepierte vor Hunger, sein Magen wurde von Krämpfen gefol­tert, Sehstörungen trübten seinen Blick … – aber er war kein Idiot: Er wusste, in jedem Team arbeitete mindestens einer für die Polizei, und wenn er Menschenfleisch stehlen wollte, musste er heimlich vorgehen, durfte niemandem trauen.
»Da ist unser Bezirk«, sagte der Fahrer Lee. »Los, Leute, aufräumen! Es gibt ’ne Menge zu tun, die Nacht war arschkalt!«
Wu Tse stieg nach seinem Kollegen Lao Zu aus dem Wagen. Seine gummibehandschuhten Hände zitterten, seine Gedanken waren wirr, sein Blick verschwamm, aber Wu Tse wusste im­mer noch nicht, was ihn erwartete. Ihre erste Leiche war ein Mann reifen Alters, erfroren unter einem Haufen Pappkartons, so wie er sich schlafen gelegt hatte. Wu Tse bückte sich, berührte die Beine des Mannes. Sie waren unerwartet steif. Diese Starrheit verwirrte ihn. Aber Lao Zu zog bereits an den Armen des Toten und ermunterte Wu Tse, seinem Beispiel zu folgen.
»Mach schnell!«
Sie hoben die Leiche hoch. Es war, wie eine Mumie aus Eis hochzuheben! Während sie zur Ladeklappe gingen, konnte Wu Tse seinen Blick nicht vom Mund des Mannes lösen. Stumm schien er immer noch seinen Hunger und seine Wut hinauszuschreien. Gleichzeitig zeugten sein zahnloses Zahnfleisch und seine starre Zunge vom schrecklichen Scheitern eines Lebens.
»Eins, zwei, drei«, schrie Lao Zu und schwang die Leiche hin und her. Der Mann flog in den Müllwagen. Der eingefrorene Körper fiel auf den Stahlboden. Ein scheußliches Geräusch, verstärkt durch die Seitenwände des Fahrzeugs, er­tönte in den Tiefen des Müllwagens: Wu Tse wurde regelrecht von Entsetzen geschüttelt.
»Auf was wartest du?« schrie Lao Zu.
Wu Tse bemerkte, dass der Wagen wieder anfuhr. Es mussten noch viele Leichen eingesammelt werden, die Zeit drängte, die Mission war hart, der Wettstreit erbittert … – und er durfte seine Gefühle nicht zeigen: Es konnte sein, dass Lao Zu der Spitzel der Gruppe war und dass die Leichen (indem sie post mortem irgendeinen Vertrag erfüllten) für das Regime arbeiteten, Agenten aus dem Jenseits!
»Es ist das erste Mal, dass ich ’nen Toten anfasse«, log Wu Tse.
»Und das geht dir zu Herzen?« lachte Lao Zu. »Du wirst dich dran gewöhnen, keine Sorge, Kumpel. Wir haben einen guten Job erwischt, besser als am Band in der Waffenfabrik.«
Am Fuße eines Denkmals zu Ehren des Regimes sammelten sie einen Mann unbestimmten Alters ein, in einem Treppenhaus einen zusammengekrümmten Jugendlichen, dann weitere Männer und Frauen, die hier und da herumlagen, alle erfroren, alle in der Haltung erstarrt, die von ihrem letzten Kampf zeugte. Bei der zweiten Leiche hätte Wu Tse am liebsten gekotzt (ein seltsamer Drang, schließlich war sein Magen seit siebzehn Tagen leer). Bei der dritten Leiche war sein Ekel noch um eine Stufe gestiegen. Aber die körperliche Anstrengung vertrieb sehr bald die Übelkeit erregenden Gedanken, die Arbeit unterdrückte den Brechreiz, und Wu Tse bemerkte, dass der Wagen voll war und zurückkehren musste. Wu Tse und Lao Zu stiegen wieder ins Führerhaus, der Fahrer Lee gab Gas, der Motor dröhnte und die Karre fuhr Richtung Leichenhaus.
»Unser Bezirk, der Bezirk Qizhou, ist ein guter Bezirk«, versicherte Lao Zu. »Das Leichenhaus ist nicht weit weg, wir sind bald wieder zurück. Und wenn wir, wie ich voraussehe, die Norm schlagen, kriegen wir eine Extraschale Reis.«
Wu Tse wagte nicht, Lao Zus Begeisterung zu dämpfen. Er dachte an die Frau, die sie am Ende ihrer Runde eingesammelt hatten. Sie war noch jung. Ihr schlanker Körper wirkte äußerst zerbrechlich. Mit einem harten Schlag, den er machte, ohne dass Lao Zu es mitkriegte, hatte er einen Finger von ihrer linken Hand abgebrochen. Und jetzt, da der Wagen mit voller Geschwindigkeit zum Leichenhaus fuhr, hielt Wu Tse diesen Finger in seinem Gummihandschuh verborgen und wartete auf die erste Gelegenheit, ihn zu verschlingen. Diese Gelegenheit kam, als Lao Zu die Augen schloss und rief: »Ah, diese verdammte Norm, wir werden sie schlagen!« Wu Tse biss in den gestohlenen Finger. Zuerst schmeck­te er fade, nach gefrorenem Fleisch. Kurz danach verbreitete sich in seinem Mund Geschmack von Menschenfleisch (und der unnach­ahmliche Geruch weiblicher Geschlechtsteile). Wu Tse hatte wieder den Schritt der Frau vor Au­gen. Die Ratten (es musste noch welche geben) hatten ihre Schamlippen gefressen. Doch die Schen­kel waren unversehrt. Einige Sekunden lang war Wu Tse versucht gewesen, diese Frau zu vögeln, trotz ihrer Verstümmelung. Die sexuelle Begierde war indessen dem Hunger gewichen, und Wu Tse hatte sich einen Ruck gegeben und den Finger abgebrochen, den er jetzt im Mund hatte. Er musste sich eingestehen, dass der Trieb, etwas zu verschlingen, sein psychisches Leben beherrschte und dass sein sexuelles Leben erloschen war. Er fühlte sich dadurch gedemütigt. Auch diese Entdeckung musste er vor Lao Zu (Lao Zu, dem Spitzel?) verbergen. Und Wu Tse stellte fest, dass jedes lebende und empfindungsfähige Wesen grenzenlos einsam war.
»Los, beeilen wir uns«, brüllte Lao Zu, als er sah, dass ihr Wagen als erster zurück war. »Wir schlagen die Norm, da bin ich mir sicher!«
Beim Leichenhaus musste dieselbe Arbeit gemacht werden, nur in umgekehrter Reihenfolge: den Wagen entladen, die mit Leichen gefüllte Ladefläche leeren. Übereinander gestapelt häuf­ten sich die Toten auf den Betongestellen (wie riesige Fleischkonserven). Gefroren ließen sie sich leichter stapeln (bemerkte Wu Tse). Die eisigen Temperaturen halfen zweifellos dem Regime, die Kälte nahm sich der Verstorbenen an, es gab kein Konservierungsproblem, keine Seuchengefahr, die Leichensammler brauchten die Kadaver nur auf die Gestelle zu legen, alles war funktional, das System lief bestens (voraus­gesetzt, die Kühlkette wurde nicht unterbrochen).
Das Regime hat eine solidere Basis, als die Bevölkerung sich vorstellen kann, dachte Wu Tse (entsetzt über diese Entdeckung).
Die Robustheit unmenschlicher Regimes.
Entmutigung. Moral auf dem Nullpunkt.

Eisige Kälte. Maschinengewehre.
Schatten an der Kanalöffnung.
Wu Tse spitzt die Ohren. Heute, nachdem er begriffen hat, wie das Einsammeln der Toten und das Überwachungssystem funktionieren, braucht er nur das Geräusch abzuwarten, damit er (wenn nicht eine unvorhergesehene Poli­zeistreife am Horizont auftaucht) zu der Leiche laufen kann, die ein paar Dutzend Meter von der Kanalöffnung entfernt liegt. Aber die Stadt bleibt still. Zermürbt durch diesen Belagerungs­zustand, denkt Wu Tse an die Maschinen in der Waffenfabrik, versucht sie durch seinen Willen in Gang zu setzen, bevor die Leichenwagen kommen. Der Eindruck, die Hydraulikpressen zu hören, wird stärker. Aber das vermeintliche Geräusch ist reine Einbildung. Tang Cheng (einer der beiden Gefährten, die mit ihm in der Kanalöffnung hocken) bestätigt ihm das mit einer unmerklichen Kopfbewegung: Nein, das ist nicht das erhoffte Geräusch, die Stille bleibt total, es herrscht Ausgangssperre, sie dürfen sich immer noch nicht rühren. Was Wu Tse gehört hat, war das Geräusch der Leichen in der Leichenhalle, das Geräusch seiner Erinnerungen (das den Lärm der Waffenfabrik vielleicht vorwegnimmt, aber nicht materialisiert). Doch nichts schließt aus (und den Verreckten ist es egal), dass die Leichenwagen vor dem erhofften Geräusch kommen und Wu Tse mit seinen Komplizen dazu verurteilen, halb erfroren in ihrem Loch hocken zu bleiben.
Verbitterte Mienen. Ungewissheit.
Die Blicke auf die Leichen gerichtet.
Wu Tse spürt die eisige Kälte in den Knochen. Ist er etwa schon tot? Die in der verlassenen Straße herrschende Stille spricht nicht dagegen. Und so wie Tang Cheng und Wang Fu aussehen (wie Wiedergänger, die seit Jahrtausenden tot sind), widerlegen sie diese Möglichkeit auch nicht, die für Wu Tse nur allzu real ist (und im Grunde für Tausende von menschlichen Wesen, die heute auf dieser Erde weilen (wobei die beiden Entitäten (Erde & menschliches Wesen) alles in allem so verletzlich sind, dass die kleinste (natürliche oder technologische) Katastrophe sie in wenigen Sekunden aus dem Universum aus­tilgen kann, in dem sie (seit wie viel Milliarden Jahren?) einen rätselhaften Platz einnehmen (so rätselhaft, dass schon der bloße Gedanke an dieses Problem Wu Tse in eine Träumerei versetzt, die es ihm trotz des Hungers und der weit unter Null liegenden Temperaturen ermög­licht, eine Minute länger zu überleben, ohne sich zu rühren und ohne zu sehr darunter zu leiden).
Überlebensstrategie. Unlösbare Rätsel.
In Widersprüchen verwickeltes Denken.
Wu Tse grübelt über die Zerrissenheit des menschlichen Daseins … – als der Lärm der Maschinen in der Waffenfabrik aufdröhnt wie eine explodierende Granate. Ohne eine Sekunde zu verlieren, stürzt Wu Tse vorwärts, hetzt mit gesenktem Kopf zu den Leichen (während Tang Cheng und Wang Fu durch die Gefahr wie gelähmt bleiben). Wu Tse rennt, so schnell er kann, der Leichenwagen ist noch nicht da und der Krach der Waffenfabrik gibt dem, der von ihm profitieren kann, die Möglichkeit zu handeln. Wu Tse erreicht die erste Leiche, greift mit einem geschickten Handgriff (unter dem Kommando von Offizier Deng Zhou gelernt) nach den Knöcheln des Toten, reißt ihn vom gefrorenen Boden los und zerrt ihn, knurrend wie ein tollwütiger Hund, zur Kanalöffnung, wo Tang Cheng und Wang Fu (völlig baff über Wu Tses Kühnheit) auf der Lauer liegen. Sie haben nicht schnell genug reagiert, also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auf ihn zu warten und zu hoffen, dass es ihm gelingt, zur Kanalöffnung zurückzukehren, bevor die Soldaten ihn entdecken. Vorwärtsschnellend, springend, ohne auf dem gefrorenen Boden auszurutschen, überwindet Wu Tse die letzten zehn Meter, wirft die Leiche in die Eingeweide des unterirdischen Netzes und ohne sich zu vergewissern, ob die Soldaten ihn gesehen haben, stürzt er sich seinerseits hinein und verschwindet genau in dem Moment unter der Erde, da am anderen Ende der Straße mit Höchstgeschwindigkeit der Leichenwagen aufkreuzt.
»Wir schlagen die Norm: Der Bezirk Qizhou ist der Bezirk von Lao Zu, dem König der Leichen­sammler«, glaubt Wu Tse zu hören. Aber diese Schreie sind wahrscheinlich nur Wahnvorstellungen (und Wu Tse bricht zusammen, als er spürt, dass die Dunkelheit der Kanalisation ihn den Blicken der Soldaten entzieht).
Mission erfüllt. Ohnmacht.
Sturz ins Dunkel.

Gestank der Kanalisation. Schmerz.
Hektische Bewegungen in der Finsternis.
»Ist das dunkel«, stöhnt Wu Tse. »Man sieht nichts.«
»Klar, wir sind in der Kanalisation. Los, iss das!«
Tang Cheng hält Wu Tse ein Stück blutiges Fleisch hin.
Wu Tse traut seinen Augen nicht.
»Was ist das? Wieso kann ich das blutige Fleisch sehen, so finster wie es ist?«
»Wir haben Feuer gemacht«, flüstert Wang Fu. »Beruhig dich, hör auf, an die Decke zu starren, und iss!«
»Essen, was denn?« stöhnt Wu Tse.
Er richtet sich auf, schwankt, stößt mit dem Kopf gegen die zu niedrige Decke, fällt hin, flucht und beschließt, dem Rat von Wang Fu zu folgen. Er greift nach dem Fleisch, das Tang Cheng ihm hinhält, beißt hinein, würgt es hinunter.
»Menschenfleisch«, schreit Wu Tse auf, als er es verschlungen hat.
»Menschenfleisch, Rindfleisch, ist doch völlig egal«, sagt Tang Cheng.
»Iss«, beharrt Wang Fu. »Du hast es nötig!«
Wu Tse kaut das Fleisch und starrt auf die Leiche des alten Mannes. Er ist zweifellos an Hun­ger und Erschöpfung gestorben. Aber von seinem Fleisch kann man leben. Wenn man das Fleisch eines Verhungerten isst, kann man den eigenen Hunger stillen. Wu Tse bricht in ein Gelächter aus, das seine Komplizen erschreckt.
»Was ist los?« fragt Tang Cheng.
»Wenn er seinen eigenen Arm gegessen hätte, wäre er nicht gestorben«, sagt Wu Tse. »Er hätte bis Ende des Winters überlebt.«
Tang Cheng und Wang Fu vergessen zu kauen. Was soll das irre Gelächter bedeuten? Das Menschenfleisch, das sie essen, ist nicht richtig durchgebraten, einige Stücke sind noch ganz roh, aber es gibt ihnen Kraft, es rettet ihnen das Leben. Und Tang Cheng und Wang Fu verstehen Wu Tses Hirngespinste nicht. Was meint er eigentlich? Was regt ihn so auf? Schließlich war es doch Wu Tses Idee, dem Staat eine Leiche zu stehlen (da er wusste, dass niemand das eisige Wasser des Grenzflusses durchqueren kann, ohne Fleisch gegessen zu haben). Aber was er jetzt sagt, nachdem er den Rumpf des Alten inspiziert hat, dessen Arme und Schenkel bereits weitgehend verzehrt sind, kommt ihnen völlig idiotisch vor und widerspricht ihrem ursprünglichen Plan.
Woher kommt Wu Tses Wahn? Von der körper­lichen Erschöpfung? Ist er durchgedreht?
»Iss«, knurrt Wang Fu. »Fleisch macht stark.«
»Dieser Lauf hat dich erschöpft«, sagt Tang Cheng. »Dieser Schwächling, dem ist es nicht ein­gefallen, seinen Arm aufzuessen. Zu alt, zu erledigt, um auf diese Idee zu kommen. Außerdem, solche Spekulationen … «
» … schädliche Spinnereien«, sagt Wang Fu abschließend. »Essen wir!«
Wu Tse schlägt die Zähne ins blutige Fleisch, reißt ein Stück heraus, kaut und schaut auf das Feuer, das in der unterirdischen Kanalisation brennt.
»Und der Rauch?«
»Wir haben alle Löcher verstopft«, sagt Tang Cheng. »Daran haben wir gedacht.«
»Das musste sein«, sagt Wang Fu. »Rauch und der Geruch von gebratenem Fleisch haben die unerfreuliche Neigung, an die Oberfläche zu stei­gen, wo Soldaten und Polizisten auf die kleinste Unregelmäßigkeit lauern.«
Wu Tse verschlingt die letzten Fleischstücke. Seine Magenkrämpfe haben sich beruhigt, seine Sehstörungen sind verschwunden. Er starrt auf die Betonmauer. Hatten die Führer des Landes nicht erklärt, dass jeder, der zu fliehen versucht, mit dem Tode bestraft wird? Jeder, den man erwischt, wird an der Hinrichtungsmauer erschossen! Es stehen einem drei Kugeln zu: eine Kugel, um den Körper zu töten, eine Kugel, um die Seele auszulöschen, und eine Kugel, um die Erinnerung an einen zu tilgen. Vom größ­ten Verräter bleibt keine Erinnerung. Nur die Schande wird ewig sein. Was bedeutet, dass die­jenigen, die unseren Staat verraten wollen, schon nicht mehr existieren. Unsere Armee und unsere Polizei wachen darüber.
Aber Wu Tse existiert. Und die Mauer, vor der er sich befindet, ist nicht die Hinrichtungsmauer.
»Wir müssen noch was essen«, sagt Tang Cheng.
Wang Fu bricht den Schädel des Alten auf.
Sie tauchen ihre Hände in die knöcherne Scha­le, holen die graue Masse heraus, schlingen sie hinunter, bedienen sich erneut, kratzen den Boden der Schädeldecke aus. Das Hirn unterscheidet sich deutlich vom roten Fleisch. Fast im­materiell im Vergleich zum faserigen Gewebe, das die Knochen umgibt, hat es einen weniger kräftigen Geschmack, nicht so würzig, aber es ist sehr viel beunruhigender.
»Willst du nichts mehr?«
Wu Tse sieht auf seine blutbeschmierten Hände.
»Nein. Ich hab genug. Nach all den Fastentagen ist das besser. Aber wenn ihr noch Hunger habt, esst das Fleisch, das an den Kniescheiben hängt. Ich will nichts davon.«
Tang Cheng wirft die Hirnschale auf einen Haufen Knochen. Die Schulterblätter glänzen im Licht der Flammen wie die Flügel eines prähistorischen Vogels. Wang Fu schnappt sich ein Schienbein.
»Wir müssen essen«, bestätigt Tang Cheng und sucht nach einem weiteren Knochen. »Das Wasser des Flusses ist diese Nacht gestiegen, es ist viel reißender als gestern. Kälter geworden ist es auch. Ohne Fleisch gegen den Hunger gegessen zu haben, kann niemand einen eisigen Strom durchqueren.«
Wu Tse presst die blutigen Handflächen gegen sein Gesicht. Wie Tausende andere hat er nichts mehr zu suchen in diesem Land (dem Land, in dem er geboren wurde und in dem er lange genug gelebt hat, um für immer von ihm gezeichnet zu sein). Ist es seine Schuld, wenn es ihm unmöglich ist, hier zu bleiben? Er stellt sich diese Frage nicht. Wie die meisten derer, die fliehen, steht er zu seiner Entscheidung (die als Hoch­verrat gilt). Er weiß, überall sonst wird er als Eindringling gelten … – aber kann ihn das daran hindern fortzugehen? Tausende von verzweifelten Einsamen wollen nur eines: weg. Kühnes Unterfangen, schwer zu realisierender Wunsch. Aber die Ausgehungerten setzen all ihre Kräfte daran, gehen jedes Risiko ein.
Denn sie haben nichts zu verlieren.
Wu Tse nimmt die Hände vom Gesicht.
»Man kann nie genug essen«, stöhnt Tang Cheng.
»Stimmt«, pflichtet Wang Fu bei. »Was machen wir?«
Ein Messer (das, mit dem die Leiche zerlegt wurde?) beschreibt hinter Wu Tses Rücken eine Kurve. Wird auf das Herz gezielt? Den Bauch? Im Licht der Flammen blitzt der Stahl für den Bruchteil einer Sekunde auf (was Wu Tse an die glänzende Straße erinnert, an der sie heute morgen auf eine günstige Gelegenheit gewartet haben, um dem Staat die Leiche zu stehlen, die ihr Leben retten sollte).
»Was sagt ihr?« fragt Wu Tse.
Komplott. Verrat.
Wilder Kampf.

Mondlose Nacht. Grenzgebiet.
Schatten, Ungeduld, nach drüben zu kommen.
Das Hochwasser des Flusses strömt durch das felsige Bett, zwischen von tosenden Fluten zerklüfteten Bergen, führt Baumstämme Steine Tierkadaver mit sich, zermalmt in der eisigen Wassermasse, die unaufhörlich ihre Zerstörungskraft bekundet. Eine Stunde nach Sonnenuntergang trübt Dunkelheit den Horizont. Zwei Stunden später fällt unwirklich das Licht der Sterne auf den Fluss und das Ufer, bewacht von Soldaten, bereit zum Töten.
Tödliche Herausforderung. Flüchtlingsaugen. Steif vor Kälte.
Ungreifbare (doch reale) Dimension der Zukunft.
Nichts ist so entmutigend (oder so stark) wie dieser Augenblick (wer einmal im Grenzgebiet umherirrte und nach einem Übergang gesucht hat, weiß das). Was sich vor einem Menschen erhebt, der sich in diese Gefahr begibt, ist der absurde Wille anderer Lebewesen (besessen von Religionen Ideologien Herkunft Besitz), Mauern zu errichten, wo immer sie können. Und der Flüchtling (dieser machtlose Schatten) starrt mit blutunterlaufenen Augen auf den Fluss, den er überqueren will: Er muss sich alle Felsen Steine zwischen Granitblöcken hängenden Baumstämme einprägen, an denen er sich festklammern kann, die seinem von der Strömung hin- und hergeworfenen Körper Halt bieten, wo er Atem schöpfen kann, um weiterzuschwimmen. Außerdem muss er die Stellen aus­machen, wo die Wasserstrudel nicht so stark sind, alle Äste registrieren, die am anderen Ufer über den Fluss hängen.
»Wer sind Sie?« fragt Zhou Tsinhung, der Schlepper, als Wu Tse ins Grenzgebiet kommt.
»Wu Tse«, antwortet Wu Tse. »Ich bin Wu Tse.«
(Ins Grenzgebiet einzudringen, ohne den Schleppern aufzufallen – und ohne die Summe zu bezahlen, die sie von denen verlangen, die die Polizei zu täuschen versuchen –, ist unmöglich. Sollte die mafiöse Organisation stärker sein als der Staat? Besser organisiert, besser be­waffnet? Oder hat der Staat die mafiösen Organisationen unterwandert und lässt sie letzten Endes für sich arbeiten?)
Zhou Tsinhung, der Schlepper, tritt an Wu Tse heran, sieht ihm aufmerksam ins Gesicht.
»Sie ähneln Tang Cheng.«
»Gewiss«, sagt Wu Tse. »Wir sind aus derselben Gegend.«
»Und Wang Fu? Ich hab eben mit ihm gesprochen«, fügt Zhou Tsinhung mit gesenkter Stimme hinzu. »Er hat mir die Summe gezahlt, die jeder zahlen muss, der unser Land verraten will.«
»Wang Fu ist auch einer von meinen Gefährten. Er hat bezahlt, was bezahlt werden muss? Ich habe die gleiche Summe für Sie. Aber wenn ich weniger bezahlen und einen Teil meiner Ersparnisse behalten könnte, wäre ich Ihnen dank­bar. Ich habe nicht viel Geld. Wenn ich es schaffe rüberzukommen, wird der Betrag mir helfen, auf der anderen Seite neu anzufangen.«
»Was auf der anderen Seite passiert, interessiert uns nicht. Die Summe, die bezahlt werden muss, ist dir bekannt. Sie ist ganz klar festgelegt. Wenn du nicht genug Geld hast, geh wieder nach Hause. Oder ich leg dich um. Du bist ja bloß ein Verräter.«
Wu Tse wühlt in seinen Taschen.
»Kommt Tang Cheng?« fragt Zhou Tsinhung, während er auf die geforderte Summe wartet.
»Ich weiß nicht«, antwortet Wu Tse. »Ich hab ihn lange nicht mehr gesehen.«
»Wang Fu hat mir dasselbe gesagt.«
»Ich habe Wang Fu seit Monaten nicht gesehen. Ich bin allein hier, ich bin bereit, alles zu verraten, was ich verraten kann. Mein Land, meine Freunde, den Verbrecherstaat, das Polizeiregime, die Geschichte, die verlogene Moral. Nur so gelingt mir vielleicht die Rettung.«
Zhou Tsinhung verzieht ungeduldig das Gesicht.
»Und das Geld? Hast du das Geld, Verräter?«
Wu Tse zieht das Bündel Geldscheine hervor.
»Hier ist es. Ich gebe Ihnen alles, was ich habe.«
»Die Lüge ist der erste Verrat«, erinnert Zhou Tsinhung. »Aber das ist deine Sache, du räudiger Hund.«
»Welchen Weg soll ich nehmen?«
»Folge diesem Pfad, geh flussaufwärts bis zum ersten Wasserfall. Heute abend wird es mehr Kontrollen geben als üblich, es wird eine mond­lose Nacht. Flussabwärts, wo das Wasser nicht so tief ist, werden die Patrouillen besonders wach­sam sein. Sieh dich vor.«
»Warum dieser Rat?«
Wu Tse folgt den Anweisungen von Zhou ­Tsinhung, bis dieser ihn aus den Augen verliert. Dann, plötzlich unsichtbar, wechselt er die Richtung. Den Schlepper zu täuschen, ist genauso wichtig, wie die Soldaten zu täuschen. Wu Tse wird erst dann beruhigt sein, wenn es ihm so zu verschwinden gelingt, dass man ihn für tot hält. Und dazu muss er die ausgetretenen Pfade verlassen, die Spuren verwischen, ins Dunkel eintauchen, unentdeckt weitergehen und schattenlose Stellen meiden (diese verhängnisvollen Fallen, in die man automatisch gerät, wenn die Wachsamkeit nachlässt). Wu Tse erreicht den Fluss. Das Grenzgebiet ist eine riesige Flüchtlingsfalle. Es lockt sie an, führt sie in die Irre, und dann, wenn sie erschöpft sind, liefert es sie den Soldaten aus, die sie von den an allen strategischen Punkten errichteten Wachttürmen aus abknallen, bevor sie sich in die Fluten stürzen können.
Infrarotgeräte. Nachtsichtbrillen.
Gezielter Einsatz von Scharfschützen.
Wu Tse findet ein Versteck, wo das Ufer am meisten zerklüftet ist. Die aufgewühlten Was­ser­massen erheben sich vor ihm wie eine un­überwindliche Barriere. Das ist die Sicht des Flücht­lings, der im Ufergebüsch versteckt, nach einem mit Hindernissen (Stacheldraht, Tretminen) gespickten Weg, dem eisigen Strom gegenübersteht.
Strudelbewehrte Grenze. Zwei Realitäten.
Zwei Welten (eine von der anderen träumend).
Wu Tse wartet. Er hat es geschafft, mit dem Schlepper zu verhandeln und das Flussufer zu erreichen, ohne von den Soldaten entdeckt zu werden. Jetzt muss er den richtigen Augenblick abwarten, um sich in das tosende Wasser zu stürzen. Andere haben die von der Mafia verlangte Summe bezahlt, aber eine Kugel des Staates (hergestellt von ihren Landsleuten) hat sie niedergestreckt, bevor sie den Kampf mit der Gren­ze aufnehmen konnten. Wu Tse will diesem Schick­sal entgehen. Zwar ist er darauf gefasst, dass ihm die Kugel eines Soldaten den Schädel zerschmettert, wenn er die Grenze überquert, aber er will sich nicht vor dem Kampf abschlachten lassen.
Ich habe keine Angst vor dem Tod (denkt Wu Tse).
Sich ins eisige Wasser zu stürzen, das heißt, die Zukunft erleben.
Wu Tse sieht die Soldaten, ihre unbeweglichen Umrisse auf den Wachttürmen, die das Flussufer abriegeln. Er hört das Geräusch. Eine Patrouille bewegt sich genau auf sein Versteck zu. Wenn sie eine Kehrtwendung macht (in ihrem Vormarsch aufgehalten vom undurchdringlichen Gestrüpp), wird Wu Tse sich dem Ufer nähern.
Sprung in die Nacht. Auslöschung der Vergangenheit.
Aufschießen der Gegenwart.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Pavel Hak: Trans. Aus dem Fran­zösischen von Ronald Voullié. Diaphanes Verlag, Zürich-Berlin 2008, 152 Seiten, 16,90 Euro. Der Roman ist soeben erschienen.