Die Probleme der SPD in Hessen

Dem Gulag entronnen

Nicht die Linkspartei ist das größte Problem der SPD, sondern sie selbst. Das ­haben die Ereignisse in Hessen gezeigt.

So sehen also »Rebellen« aus. Man kleidet sich eher zurückhaltend, der Herr trägt Anzug, ein zu­geknöpftes Hemd und Krawatte, die Dame Businesskostüm und dezente Accessoires. Bei Be­darf kann etwas Lippenstift aufgetragen werden. Das Erscheinungsbild ist bieder, was zählt, ist die Überzeugung.
Folgt man der Berichterstattung der vergangenen Woche, dann handelt es sich bei den Sozial­demokraten Carmen Everts, Dagmar Metzger, Silke Tesch und Jürgen Walter um »Rebellen«. In letzter Sekunde verhinderten sie eine von der Linkspartei tolerierte rot-grüne Minderheitsregie­rung in Hessen, indem sie auf einer Pressekonferenz ankündigten, Andrea Ypsilanti die Zustim­mung zu verweigern. Erreicht haben die vier, dass es Neuwahlen in Hessen geben wird, bei denen ein gänzlich unbekannter Politiker als Spitzenkandidat der SPD antreten wird. Am 18. Januar darf sich, so sagen erste Umfragen voraus, Roland Koch über eine Mehrheit von CDU und FDP freuen, während die SPD sich auf enorme Stimmenverluste vorbereiten sollte.

Everts, Metzger, Tesch und Walter stehen also in erster Linie für den Erhalt des Bestehenden. Den­noch werden sie beinahe schon popkulturell verklärt: Die FAZ bezeichnete sie als »Die phantas­ti­schen Vier«, während sie auf Spiegel online gleich mit im besten Sinne kommunistischen Abweichlern wie Manès Sperber verglichen wurden. Kaum ein Kommentar wurde in der vergangenen Woche veröffentlicht, der nicht die »Standhaftigkeit« lobte, mit der Metzger und Co. Hessen und die Republik vor dem Abgrund bewahrt hätten: vor Ypsilantis »Gewaltmarsch auf die Staatskanzlei in Wiesbaden« (FAZ), vor einem »öko-sozialistischen Projekt« (Welt online) bzw. vor dem »Öko-Fundamentalisten« (FR) Hermann Scheer, der das Wirtschaftsministerium leiten sollte.
Die Vorgänge der vergangenen Woche wurden zu­gleich auf die Formel von der »Selbstzerstörung der hessischen SPD« gebracht. Das ist einleuchtend. Allerdings ist es gerade in diesem Zusam­men­hang völlig unpassend, von »Rebellen« zu sprechen. Viel näher liegt es, sich eines Begriffs aus einem ganz anderen Kontext zu bedienen. Man könnte die vier als Schläfer bezeichnen. Denn dieser Begriff kann verdeutlichen, worin das große Problem der hessischen wie der Bundes-SPD besteht.
Ein Schläfer zeichnet sich dadurch aus, dass er das Bestehende anscheinend in allen Belangen unterstützt. Schläfer sind pflichtbewusst, unauffällig, zurückhaltend, konformistisch und vermeiden jeden Eindruck, eventuell ein Unsicherheitsfaktor zu sein. Deshalb ist es auch fast unmöglich, sie aufzuspüren. Es ist einigermaßen sinnlos, sich den Schläfer als jemanden vorzustel­len, der von außen kommt und lediglich eine gute Tarnung hat. Es verhält sich genau andersherum: Er braucht überhaupt keine Tarnung, weil er selbst Teil des Innen ist und dessen Codes spielend beherrscht. Der Schläfer verweist auf die permanente Gefahr, dass sich das Innen gegen sich selbst wenden kann. So gesehen lässt sich sehr deutlich erkennen, dass das Problem der SPD nicht in erster Linie die Linkspartei ist. Die SPD ist ihr eigenes Problem.

Das wird nirgends deutlicher als in der Rede von der sozialen Gerechtigkeit beziehungsweise der so­zialen Ungerechtigkeit. Die SPD braucht die so­zia­le Ungerechtigkeit so sehr, wie die soziale Ungerechtigkeit die SPD braucht. Denn wenn es überhaupt noch einen sozialdemokratischen Kon­sens gibt, dann besteht er darin, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Die Frage ist nur, wie das von­statten gehen soll. Denn mindestens ebenso groß wie das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit ist in der SPD der Agenda 2010 die Panik davor, als ideologisch zu gelten. Für sich zu beanspruchen, antiideologische Politik zu betreiben, ist, folgt man dem Philosophen Slavoj Žižek, gleichbedeutend mit der Verabschiedung des Politischen. Als »post-politisch« begreift Žižek den Anspruch, vermeintlich ideologische Kämpfe hinter sich zu lassen und sich stattdessen professionelles Ma­nagement und effiziente Verwaltung auf die Fahnen zu schreiben. Willkommen in der SPD der Steinmeiers, Münteferings, Steinbrücks und der vier hessischen Kämpfer wider die Ideologie! Wer den Kapitalismus auch nur ansatzweise versteht – und das sollte man von denen erwarten, die soziale Gerechtigkeit fordern –, der weiß, dass ein ausgeglichener Haushalt nicht zu sozialer Gerechtigkeit führt.
Die beiden Grundfesten der SPD, soziale Gerech­tigkeit auf der einen, und die Ideologie der Nicht-Ideologie auf der anderen Seite, unterlaufen sich also ständig gegenseitig. Man könnte auch sagen, dass die SPD ständig ihre eigene Unmöglichkeit produziert. Das ist für Sozialdemokraten offensichtlich nicht immer einfach und bringt bis­weilen eine groteske Selbstwahrnehmung mit sich. Die vier Abweichler sprechen in einem ge­mein­samen Gespräch mit der FAZ über das Innenleben der hessischen SPD, als handele es sich um eine stalinistische Partei – die Politik habe die »Züge von Religion« angenommen (Everts), ein Teil der Partei glaube, »im Besitz der Wahrheit zu sein, allein für das Schöne und Gute zu stehen« (Walter), die Partei pflege einen »Personenkult« (Tesch). Wenn Dagmar Metzger in Anspielung auf ihr bereits im Frühjahr formuliertes Veto gegen eine Minderheitsregierung von denjenigen spricht, die »mich im März richten« wollten, könnte man fast meinen, die SPD schicke Abweichler nach Sibirien.
Nun war die geplante Ablösung Roland Kochs durch Ypsilanti nicht gerade unumstritten, und man kann auch davon ausgehen, dass, wie es in Parteien üblich ist, Druck ausgeübt wurde. Immer­hin hat die SPD seit fast einem Jahr mit den Grünen und der Linkspartei ein Hin und Her um die Bedingungen einer Zusammenarbeit veranstaltet.

Vor allem aber hatten die Sozialdemokraten mit sich selbst die größten Schwierigkeiten. Immerhin hätten Ypsilantis Pläne bedeutet, sich von einer Partei tolerieren zu lassen, zu deren Gründungsmythen in Westdeutschland gehört, gewissermaßen die Anti-SPD zu sein. Nach einem geschei­terten Versuch im März und anschließenden Beratungen, Regionalkonferenzen und Vermittlungs­gesprächen gaben auf einem Parteitag wenige Tage vor der geplanten Wahl schließlich 95 Prozent der Delegierten ihre Zustimmung. Zwar konnte man bereits zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass das Vorhaben ebenso gut scheitern könnte, weil Ypsilanti nicht gerade geschickt agierte. Sie brachte ihren innerparteilichen Konkurrenten Jürgen Walter um den Ministerposten für Wirtschaft, den dieser für sich beansprucht hatte, und zog damit den Unmut vieler so genannter Netzwerker in der SPD auf sich. Dennoch hielt sie nichts davon ab, die Regierung stellen zu wollen.
Diese Selbstsicherheit rührte auch daher, dass drei der vier Abweichler noch unmittelbar vor der Wahl ihre Unterstützung zugesagt hatten – immerhin hatten sie den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt. Auf der Homepage der hessischen SPD wurden vor wenigen Tagen private E-Mails unter anderem von Silke Tesch veröffentlicht, in denen sie etwa am 30. Oktober versicherte, keine Gefahr für den Regierungswechsel darzustellen: »Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich diesen Weg und die Wahl von Andrea am kom­menden Dienstag will. Ich habe selbst diesen jetzigen Prozess – trotz meiner persönlichen Schwie­rigkeiten – mitinitiiert und vorangebracht.« Nur drei Tage später kündigten die vier Abgeordneten ihre Unterstützung auf. Somit ist es eine Pointe am Rande, dass der immer wieder kritisierte Wort­bruch Ypsilantis mit einem Wortbruch beantwor­tet wurde. Die Politiker der SPD bekämpfen eben die SPD mit der SPD.