Über Fleisch und Zivilisation

Der Primat der Ökonomie

Bei der Entwicklung der menschlichen Zivilisation spielte der Kampf um Fleisch eine große Rolle. Den Verzicht auf Fleisch zu predigen, trägt nicht zur gesellschaftlichen Emanzipation bei.

Am Anfang war das Tier. Die ältesten Zeugnisse künstlerischen Schaffens, die mehr als 30 000 Jahre alten Malereien in den Höhlen von Chauvet, zeigen unter anderem Wildpferde, Wollnashörner und Löwen. Ob es sich um eine Form religiöser Kunst oder vielleicht einfach nur um Dekorationen für ansonsten recht triste Wände handelte, wird sich nie mehr feststellen lassen. Sicher ist jedoch, dass man nicht »erst mit dem Beginn der Loslösung der Menschen von Natur, Sippe, Blut, Boden und Scholle in einem emphatischen, nicht bloß biologischen Sinn von Menschheit sprechen« kann, wie Jan Gerber (Jungle World 39/08) behauptet. Schließlich sollte es noch 20 000 Jahre dauern, bis »Boden und Scholle« Menschen an sich banden, weil diese sich gezwungen sahen, Ackerbau zu betreiben.
Nicht »erst mit der Emanzipation von der puren Naturverfallenheit entstand ein Verlangen, das über die einfachen Bedürfnisse der physischen Re­­produktion hinausging«, und die Behauptung, zuvor habe »sich das menschliche Leben in der Tat nur marginal vom Leben der Tiere« unterschieden, hat nicht nur eine fatale Ähnlichkeit mit kolo­nialen Ideologien, sie ist auch schlicht falsch. Als die ersten aufrecht gehenden, unbehaarten Pri­ma­ten sich ihrer selbst bewusst wurden, entwickelten sie die Fähigkeit, über die einfachen Bedürf­nis­se der physischen Reproduktion hinauszugehen.

Manche Tiere benutzen Werkzeuge, andere bauen Dämme, einige können sogar intrigieren und sich bei höherrangigen Artgenossen anbiedern. Doch auch der klügste Bonobo käme nicht auf die Idee, ein Porträt seines Lieblingsweibchens zu zeichnen oder ihr eine Geschichte zu erzählen. Es ist daher die Kunst – verstanden nicht als spezialisierte Profession, sondern im weitesten Sinne als die Fähigkeit, sich von der natürlichen Umwelt zu lösen und sie in Erzählung oder Philosophie, Bild oder Lied geistig zu verarbeiten –, die den Menschen zum Menschen macht. Das Tier war dabei von entscheidender Bedeutung, nicht allein, weil es Nahrung, Kleidung und Werk­zeuge lieferte. Es war geheimnisvoll, dem Menschen ähnlich und doch ganz anders, so wurde es zum Gegenstand der Kunst und auch der Religion und Mythologie.
Die Entscheidung, sich nicht mehr dessen zu bedienen, was sich erjagen und sammeln lässt, sondern Äcker und Pferche anzulegen, war, wie der US-Anthropologe Marvin Harris (»Menschen. Wie wir wurden, was wir sind«) überzeugend dar­gelegt, nicht die Folge einer genialen Idee. Vielmehr hatten effektive Jagdmethoden, wahrschein­lich in Verbindung mit Klimaveränderungen, den Tierbestand so weit reduziert, dass eine andere Wirtschaftsform notwendig wurde.
Die Bibel schildert die daraus entstehenden Kon­flikte. Der Hirte Abel und der Bauer Kain opfern Gott ihre Produkte, der, offenbar kein Vegetarier, nur die tierischen Gaben annimmt. Der da­rüber erboste Kain erschlägt Abel, eine Beleidigung Got­tes, der schon aus weit geringerem Anlass Strafgerichte verhängt hat, Kain jedoch ziehen und die erste Stadt gründen lässt. Nicht einmal Gott kann die Zivilisation aufhalten, sie war einfach fällig, doch eine erfreuliche Angelegenheit war ihre Gründung nicht.
Die historische Forschung bestätigt, abgesehen von der Rolle Gottes, im Kern diese Darstellung. Die ursprünglichen Zivilisationen entstanden aus der Notwendigkeit, öffentliche Arbeiten bei der Bewässerung zu organisieren. Besser lebten die Menschen nicht. In der Klassengesellschaft bedeutet materieller Fortschritt für die Mehrheit der Bevölkerung zunächst meist einen Verlust an Freiheit, Freizeit, gesellschaftlichem Einfluss – und Fleisch.

In den meisten Jäger- und Sammlerinnengesellschaften konsumieren die Menschen zu etwas mehr als 50 Prozent tierische Nahrung, sie arbeiteten dafür rund drei Stunden am Tag, und obwohl die Frauen meist nicht gleichberechtigt sind, haben alle Teil an wichtigen Entscheidungen. Bauern in einer vorkapitalistischen Klassengesellschaft sind meist Unfreie, schuften den ganzen Tag lang und müssen froh sein, wenn ihnen wenigstens genug pflanzliche Nahrung bleibt. Treibt die Industrialisierung sie in die Fabriken, so steigt die Arbeitszeit erneut, und die Ernährung ist zunächst schlechter als die eines Freibauern.
Fleisch zu essen, war meist das Privileg der Herr­schenden. Daher war es bei sozialen Protesten häufig eine Forderung, an diesem Privileg teilzuhaben. Die Bauern im Mittelalter wollten nicht akzeptieren, dass allein die Adeligen im Wald jagen durften, und noch bei Streiks und Protesten in realsozialistischen Staaten war die Erhöhung der Fleischrationen meist eine wichtige Forderung.
Das Bedürfnis, Fleisch zu essen, kann also durch­aus als ein wichtiges Motiv des sozialen Protestes bezeichnet werden. Man kann das unmoralisch finden, ich erinnere mich noch an die Debatte mit einem stalinistischen Vegetarier zu Beginn der achtziger Jahren, der es unerhört fand, dass die polnischen Arbeiter mehr Fleisch essen wollten, statt alles für den Kampf gegen den Imperialismus zu geben. Der Mann wusste immerhin, was man dagegen tun konnte, und General Jaruzelski tat es dann auch.
Nicht ersichtlich ist hingegen, wie linke Tierrechtler und Antispeziesisten die Menschen vom Fleischkonsum abbringen wollen. Denn wo der Vegetarismus zum Massenphänomen und gesell­schaftlichem Gebot wurde, geschah dies aus Not. Da es ertragreicher ist, planzliche statt tierische Nahrung zu produzieren, und es auch in Hungerzeiten unklug wäre, die Rinder, die den Pflug ziehen müssen, zu verspeisen, setzte sich im dicht besiedelten Indus-Tal bereits vor mehr als 2 000 Jahren der Vegetarismus durch. Das ökonomisch und gesellschaftlich Notwendige wurde zu einer Ethik erklärt. Umgekehrt funktioniert das jedoch nicht. Die Verbreitung einer anderen Lebensweise kann nicht allein durch Moralpredigten erreicht werden.
Im Aufruf zum Antispe-Kongress im Sommer in Hannover wurde das Ziel genannt, »einer Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung basiert, ein kleines Stück näher zu kommen.« Linke Antispeziesisten verwahren sich gegen den Vorwurf, sie würden Menschen abwerten. Vergleicht man den Eifer, mit dem Vegetarismus und Veganismus debattiert werden, mit dem Schweigen etwa zum Bürgerkrieg im Kon­go, können da Zweifel aufkommen. Auch manchen Linken scheint das Schicksal der Berggorillas näher zu gehen als der Tod von mehr als fünf Millionen Menschen, sie verachten den Fleischgenuss, doch kam mir nie zu Ohren, dass jemand auf sein Handy verzichtet hätte, weil es von kongolesischen Zwangsarbeitern gefördertes Koltan enthält.
Doch gehen wir ruhig einmal davon aus, dass linken Tierrechtlern und Antispeziesisten auch die Menschen am Herzen liegen. Dass sich der An­ti­speziesismus auch rechtsextremer Ideologie bedienen kann, bestreitet dennoch niemand. Sollte es nicht zu denken geben, dass ein und dieselbe Lebensweise gleichermaßen mühelos mit menschenverachtenden wie menschenfreundlichen Argumenten begründet werden kann, gute und böse Antispeziesisten einander daher nur daran erkennen können, ob sie sich auf Butler oder Hitler berufen?
Die linke Variante beruht auf dem Ansatz der »Triple Oppression«, nur dass mittlerweile die Klassenunterdrückung durch die Artenunterdrückung (Speziesismus) ausgetauscht wurde. Die Antispeziesisten sagen: »Wer redet heute noch vom ›revolutionären Subjekt‹? Wir nicht!« Das ist bedauerlich. Um einmal über einen weit verbreiteten Irrtum aufzuklären: Bei der Suche nach dem revolutionären Subjekt geht es nicht um die Frage, welchen Lebewesen auf diesem Planeten es am schlechtesten geht. Vielmehr soll geklärt werden, welche Lebewesen fähig sind, den Kapitalismus zu überwinden.
Sollte die Klasse der Lohnabhängigen dazu nicht in der Lage sein und niemandem eine andere gute Idee in den Sinn kommen, sieht die Zukunft für die Bewohner der Erde nicht allzu gut aus, ob sie nun zwei oder mehr Beine haben. Die Revolution bedarf jedoch eines Subjekts, eines zweibeinigen, das etwas mehr zu bieten hat als Moralpredigten.
Man kann darüber streiten, ob sich hinter Vegetarismus und Veganismus antizivilisatorische Ressentiments verbergen, wie Jan Gerber und andere Kritiker behaupten. Es gibt Elemente einer puritanischen Verzichtsideologie, andererseits kann die Umarmung der Tierwelt auch als eine paternalistische Lehre betrachtet werden, die ihren Jüngern einen zivilisatorischen Distinktions­gewinn gegenüber fleischfressenden Menschen, aber auch Tieren gewährt. Denn mit der Weigerung, Lebewesen zu töten, die sich keine Gedanken über Speziesismus machen, beweist der Mensch seine moralische Überlegenheit.

Wer die Zivilisation verteidigen oder gar humanisieren will, sollte jedenfalls ihre Geschichte und ihre materiellen Grundlagen kennen, ein­schließ­lich der dunklen Seite der Macht, die den meisten Menschen bis heute den Zugang zu ihren Fleischtöpfen verwehrt. Denn es ist nicht, wie Gerber meint, die »ideologische Existenzbedingung«, die verloren gehen muss, um antizivilisatorische Ressentiments hervorzubringen. Es ist die Existenz in der Klassengesellschaft selbst, die den Widerstand gegen den Fortschritt rational erscheinen lässt.
Im Übrigen ist es durchaus denkbar, dass eine befreite Gesellschaft irgendwann auf das Töten von Tieren verzichten wird. Nicht, weil sie als gleich­wertig betrachtet werden, denn im Gegensatz zu Rassismus und Sexismus hat der »Speziesismus« eine wissenschaftliche Grundlage. Der technische Fortschritt könnte es jedoch ermöglichen, eine Alternative zu finden, die dem mensch­lichen Appetit gerecht wird, Tierhaltung jedoch verzichtbar macht. Bis dahin gibt es aber noch ein paar dringlichere Jobs zu erledigen.