Eine kleine Geschichte aus der sehr rechten sächsischen Kleinstadt Mylau

Nachrichten aus der Provinz

Ein Streit zwischen Nachbarn in Mylau, der kleinsten Stadt Sachsens, eskalierte langsam. Die starke Neonazi-Szene im Dorf spielt dabei eine wichtige Rolle. Seit Jahren lebt hier eine Familie in Angst, die anderen Einwohner schauen weg.

Vielleicht muss man mit dem Hund anfangen. Denn am Anfang war es der Hund, erzählen Sonja und Jörn Tellschaft. Das sagen unabhängig voneinander auch Uwe R. und seine Lebensgefährtin Anja F., die auf der anderen Seite der Brücknerstraße wohnen. Und da endet alle Gemeinsamkeit auch schon.
Sonja Tellschaft sei »zu faul« gewesen, dem Tier Auslauf zu geben, erzählt R. und erregt sich noch heute darüber, dass der Hund auf die Brache »geschissen« habe – »auf Deutsch gesagt«. Schließlich spiele sein kleiner Sohn mit den Freunden aus der Straße dort, »und es war alles voll«. Arrogant habe die Hundebesitzerin geantwortet und ihn beschimpft. R. beschwerte sich bei der Stadt, fand auch 21 Unterschriften dafür. Die Stadt wiederum leitete alles mit der Androhung von Ordnungsgeld an die Tellschafts weiter und brachte diese damit auf die Palme. Als »Volkstribunal« bezeichnet Jörn Tellschaft die Beschwerdeführer, die Ordnungsamtsleiterin nennt er eine »verkappte FDJ-Sekretärin«.
Wenig später überprüfte das Amt Sonja Tellschafts Praxis des Hundeausführens und hielt sie für unbedenklich. Doch der Hund wurde in Mylau, der kleinsten Stadt Sachsens, zum Anlass für einen heftigen Streit. Seitdem zieht sich durch die Brücknerstraße ein tiefer Graben, der über Jahre ausgebaut und vertieft wurde. Auf der einen Seite steht das dreistöckige Haus der Familie Tellschaft, direkt gegen­über, vor einer Brache, das Eckhaus mit der kleinen Bierkneipe, in dem Uwe R. und Antje F. mit ihrem 15jährigen Sohn Robin wohnen, auch einen Großvater gibt es noch.
Die meisten im Ort wissen von jenem tiefen, kaum überwindbaren Abgrund in der Brücknerstraße. Was diesen fundamentalen Streit ausmachte, ist im Nachhinein kaum zu rekonstruieren. Worte sind es, vielleicht auch nur Blicke, üble Gerüchte, Gesten und Emo­tionen. Soziale Unterschiede, gänzlich verschiedene Lebensentwürfe, verfestigte Erinnerungen an den Osten und Vermutungen über den Westen.
Ein friedliches Zusammenleben gab es nie. Das gedeihliche Verhältnis zwischen Nachbarn wurde nicht zuletzt dadurch gestört, dass sich die deutsche Vergangenheit, die Geschichte des Nationalsozialismus und ihre ideologische Verdauung in der DDR über die Brücknerstraße legten. Von »gegenseitigem Hass« erzählt Robin, wenn er auf die vergangenen Jahre zurückschaut.

Mylau sieht man an, dass es schwere Zeiten hinter und offenbar keine große Zukunft vor sich hat. Viele Häuser werden nicht mehr bewohnt, Scheiben sind eingeschmissen, von Fabriken sind kaum mehr als leere Gemäuer übrig. Dabei wurden einige Gründerzeitbauten im Zentrum renoviert, auch die hässliche Funktionsarchitektur der Sparkasse darf nicht fehlen. Dahinter ist etwas mehr Verkehr, beim gesichtslosen Bau der Supermarktkette. Die billige Welt aus günstigen Lebens­mitteln hat die allgemeine Versorgung über­nom­men. Ältere Menschen steigen langsam aus gepflegten Kleinwagen in hellen Metallic-Farben. Demographische Studien haben ermittelt, dass in Südwestsachsen und dem angrenzenden Thüringer Land im Jahr 2020 über 35 Prozent der Bevölkerung 60 Jahre und älter sein werden. Damit wäre die Region die zweitälteste der Bundesrepublik. Wer kann, geht weg.
»Wenn ich meine Fenster putzen wollte, standen die von gegenüber mit Hitlergruß auf der Straße«, erzählt Sonja Tellschaft. Ihre jüngste Toch­ter sei von Robin und dessen älteren Freunden mit Stöcken bedrängt worden. Robin und sein Freund Patrik hätten Steine gegen das Haus und die Garage geworfen, ein Vogelnest ausgehoben und die Vögel getötet. Sonja Tellschaft liegen Tiere am Herzen.
Wenig Herz attestiert sie vielen in der Stadt. Vor allem, wer in der Kneipe gegenüber verkehrte, muss Zeuge einer Auseinandersetzung geworden sein, die langsam eskalierte. Über zwei Jahre sei an ein vernünftiges Benutzen der beiden Garagen für die Familienwagen nicht zu denken gewesen – Autos von Gästen oder den Nachbarn hätten die Tore versperrt. Sonja erzählt, wie Unbekannte nach einem Streit darüber die dunklen Tore beschmierten mit dem Hinweis »Hier wohnen Kinderschänder«. Kinderschändern wünschen die organisierten Rechten in der Region ger­ne per Autoaufkleber den Tod. Die Tellschafts übergaben der Polizei die Ermittlungen – die kam nicht weit. Tot war dann eine Woche später der Hund. Vergiftet, urteilte der Veterinär.
Im September vergangenen Jahres erreichte das, was als Streit zwischen Nachbarn begonnnen hatte, seinen bisherigen Höhepunkt, als Molotow-Cocktails gegen das Haus der Familie Tellschaft geworfen wurden.

Sonja und ihr Mann wohnen seit 1997 in der Brück­nerstraße. Das dreistöckige Haus, braungelb geputzt und ein gutes Jahrhundert alt, besaß Jörns Familie schon seit Generationen. Jörn ist 48 Jahre alt, fuhr als junger Erwachsener zur See, auf einem DDR-Frachtschiff. Bei einem Landgang in Kiel machte er 1981 rüber, wie man im Vogtland sagt. Von dort ging es zum Onkel nach Mainz. »Aber nach der Wende wollte er wieder zurück«, erzählt Sonja. Schließlich kam er mit Frau, zwei Töchtern und kräftigem Mainzer Akzent.
Ziemlich einsam war es in den ersten Jahren um die gesellige Sonja, die kaum 3 000 Einwohner von Mylau waren ihr fremd. Aber sie biss sich durch, machte Bekanntschaften. Am Haus bastel­ten und bauten die Tellschafts, richteten sich ein, so dass im Wohnzimmer nun altrosa Blumen­muster auf Vorhängen, Tischdecken, unzähligen Lampenschirmen und Ziertellern korrespondieren.

Uwe R. ist 1962 in Mylau geboren, wohnt seit den achtziger Jahren in der Brücknerstraße. 1991 eröffnete er gemeinsam mit seinem Vater die Kneipe. R. nimmt regen Anteil am Kleinstadt­leben, macht mit in Vereinen und unterstützt den örtlichen Verein FSV.
Wenn man auf die Garagen der Tellschafts zu sprechen kommt, wenn man ihn nach Steinwürfen und dem toten Hund fragt, beginnt sein dünner Schnauzbart vor Wut zu zittern. »Alles Lüge«, sagt er dann und zieht häufig an seiner Zi­garette. »Lüge« wird das meistgebrauchte Wort, wenn es um die Nachbarn geht. Auf die Frage, warum Mylauer sein Lokal als Nazi-Kneipe kennen, zittern Schnauz und Gesicht noch mehr. R. streckt seinen Arm in Richtung der Fenster, der Nachbarn, der anderen Welt: »Das kommt alles von da!«
Allerdings bestätigen etliche Bewohner von Mylau, darunter Bürgermeister Christoph Schnei­der, dass zu Beginn der neunziger Jahre in dieser Kneipe Versammlungen der Republikaner stattfanden, sogar Franz Schönhuber soll hier vorbei gekommen sein. »Eigentlich haben wir denen hier nur den Raum zur Verfügung gestellt«, erzählt Antje F. Des guten Geschäfts wegen.
Die Tellschafts möge niemand im Ort, sie seien bei allen unbeliebt, erzählt man in der Kneipe, »weil sie allen was Besseres vorspielen und alle irgendwann anzeigen«. Unter denen, die etwa mittags die Straße hinunter bei Nico, dem Sizilianer, eine schnelle Pizza essen, finden sich leicht Mylauer, die gar von 84 Anzeigen wissen wollen. Der Bürgermeister kann dies nicht bestätigen.
Aber noch etwas ist auffällig an denen, die offenbar ein sehr genaues Bild der Familie Tellschaft haben. Ganz beiläufig sagen sie nämlich, dass der ortsansässige Neonazi-Laden »Ragnarök« kein Problem sei, sondern von »ganz normalen Leuten« geführt werde. Seit sechs Jahren existiert der Laden im Ort. Der Bürgermeister sagt, ihm seien die Hände gebunden. Nur, dass die Antifa 2005 vorbeikam, um den Eingang zuzumauern, regt viele in Mylau noch heute auf. Betreiber des Ladens ist der Kreistagsabgeordnete der NPD in Plauen, Olaf Martin, der in diesem Sommer in wich­tige Ausschüsse gewählt wurde. Im Wahlkreis Vogtland hat Martin, der auf seinen Unterarmen die Worte »Blut« und »Ehre« in Fraktur tätowiert hat, 1 431 Stimmen bekommen, das sind vier Prozentpunkte. Beobachter stellen fest, dass mit dem Neonazi-Laden Mylau zu einem wichtigen Organisationszentrum im Dreiländer­eck zwischen Sachsen, Thüringen und Bayern ge­worden sei. Bürgermeister Schneider hat Informationen, nach denen die Klientel aus dem Laden nun auch R.s Kneipe frequentiere. »Die R.s sind Personen, die offenbar schon in der dritten Gene­ration rechtem Gedankengut nicht abgeneigt sind.« Bürgermeister Christoph Schneider sagt häufig gewundene Sätze. Dagegen seien die Tellschafts »eine Familie, die im Rahmen bürgerschaft­lichen Engagements hinschauen und bei Dingen, die ihnen missfallen, etwas sagen«.

Lange waren der Familie Tellschaft die Gründe für diesen ganzen Hass unklar. Doch im vergangenen Frühling brachte ein weiterer Bewohner der Brücknerstraße ein wenig Licht ins Dunkel: Johannes Joram. Mit ihm verband Sonja eine aufgrund eines gefundenen Kätzchens entstandene Nachbarschaftsfreundschaft. Ein einfaches Leben hatte Joram nicht. Sein Jüngster stürzte sich von der Göltzschtalbrücke, da war er noch nicht volljährig, aber bereits Mitglied einer rechten Grup­pe. In die Brücknerstraße zog Joram, kurz bevor seine Frau an Krebs starb. »Du sprichst aber doch gut Deutsch«, habe Joram irgendwann zu Sonja gesagt, worauf sie ziemlich erstaunt reagierte. Er habe ihr dann erzählt, sie sei als »Aus­länderin und Jüdin« in der Nachbarschaft bekannt. Bei 3 000 Einwohnern ist Nachbarschaft leicht der halbe Ort. »An einem Samstag im Mai«, erzählt Sonja, »ließ mich Joram bei einem Telefonat mithören, über den Lautsprecher an seinem Mobiltelefon«. Der Vorsitzende des lokalen Fußballvereins FSV Mylau, Lutz A., war am Apparat. Thema des Gesprächs war der Anschlag auf das Haus der Tellschafts im Oktober 2007. Sonja hat ihn sagen hören, sie sei »Jüdin und Auslände­rin, deshalb hat sie die Molotow-Cocktails abbekommen«. »In sehr rotzigem Ton hat er gespro­chen«, wiederholt sie. Empört habe sie an jenem Samstag beim Fußballverein angerufen, auch beim Bürgermeister klingelte sie an. Die Wege sind kurz in Mylau und Gerüchte verbreiten sich rasch. A. wusste schnell vom doppelten Spiel des Johannes Joram. Ein Arbeitskollege fand Joram am Montag erhängt in seiner Wohnung. »Ich habe zwei Wochen nur geweint, vielleicht war ich ja schuld an seinem Tod«, sagt Sonja Tellschaft. Sie fürchtet, ihren Nachbarn ans Messer geliefert zu haben.
»Wir hatten uns diese ganze Geschichte nie erklären können. Nicht den Hitlergruß, nicht diesen Hass und auch nicht die Molotow-Cocktails«, sagt Jörn Tellschaft. Wenn wahr ist, was die Tellschafts annehmen – dass nämlich der halbe Ort darüber gesprochen habe, dass Sonja »Jüdin und Ausländerin« sei –, hat das Ganze etwas Zwangsläufiges.

»Einmal nicht nachgedacht und dann so was.« Robin sitzt auf einem Bett aus hellem Furnier, Fußballschals hängen von der Decke, die Anlage steht in der Ecke. Er ist schon lang und schlaksig wie sein Vater, hat dunkle Haare, einen offenen Blick und einen ersten Flaum auf der Oberlippe. Seit neun Monaten wartet er hier, in den Räumen eines christlichen U-Haft-Vermeidungsprojekts, einem alten Gehöft auf dem sächsischen Land bei der Kleinstadt Meerane. »Joh«, sagt er in schwerem vogtländischen Dialekt. Er lerne jetzt Maurer und sei latent rechts, sagt die Pädagogin, gar nicht außergewöhnlich. Gut verstellen könne er sich. Er wollte wohl den Vater beschützen, vermutete R. daheim und hieb mit zitternder Hand auf den Tisch, »ein dummer Fehler«. »Und ich bin die Blöde«, fügt die Mutter hinzu, »ich habe ihm gesagt, er soll es zugeben.«
Zugegeben hat Robin, auf einer Geburtstagsfeier im September 2007 mit seinem Kumpel Patrik kräftig in Fahrt gekommen zu sein. »Patrik hielt Mofasprit versteckt«, erzählt er, »den füllten wir in die jüngst ausgetrunkenen Bierflaschen, dann warfen wir die Molotow-Cocktails von der hochgelegenen Burgstraße über den Garten auf das Haus der Familie Tellschaft«. Ein paar Leute seien von der Feier noch abgesprungen, erzählt er weiter, wollen gewarnt haben. »Hätten sie das nur getan«, sagt Robin und kratzt sich am Kopf. Kaum fünf Sätze braucht er für seine Schilderungen.
Das Glück der Familie Tellschaft in dieser Nacht war ein gemauerter Fenstersims, oben rechts, von der Burgstraße aus gesehen. Der Molotowcocktail prallte gegen den Sims und flog nicht durch das Fenster. Während Flammen und Splitter aus dem anderen Wurfgeschoss auf das Vordach der Tür zum Garten prasselten, brannte der Fens­tersims, aber ein Großteil der brennenden Flüssigkeit landete in den Büschen. Jörn Tellschaft war noch wach und konnte löschen, dann rief er die Polizei. Die sagte, man könne nun auch nichts tun. Erst am nächsten Morgen war sie an Ort und Stelle. Experten attestierten dem Haus eine hohe Brandlast. Wäre die Brandflasche durchs Fenster geflogen, wären die Überlebenschancen drinnen nicht besonders hoch gewesen, erklärte ein Experte.
Und so »ist ja kaum was passiert«. Uwe R. wischt über den Tisch. Robins »Glück« in dieser Nacht war das Glück der Familie Tellschaft. In der Woche darauf wurden Patrik und Robin verhaftet, »beim nächsten Mal machen wir es besser«, hat einer der beiden Sonja Tellschaft noch zugerufen. Es gab Zeugen. Das reichte dann für U-Haft.
Im Ort regte sich darauf nicht viel. Wenig Solidarität, kaum einer fragte, eher Getuschel hinter vorgehaltener Hand.
Robins Mutter antwortet fest auf die Frage, ob sie nicht daran gedacht habe, mit Sohn und Mann hinüber zu den Tellschafts zu gehen, vielleicht mit dem Reden zu beginnen, eventuell eine Entschuldigung zu versuchen: »Nein, dazu war ich nicht bereit. Die haben uns den Robin doch weggenommen.«
Der Vereinsvorsitzende Lutz A. regt sich auf. Alles sei Verleumdung, sagt er am Telefon. Er sei in die rechte Ecke gestellt worden, da sei kein Gespräch mehr möglich gewesen. Auf die Frage, was er in dem halben Jahr zwischen den Molotow-Cocktails und dem Anruf von Johannes Joram gemacht habe, bleibt er einen Moment still, räus­pert sich, beginnt mit: »Naja«, und lässt einen un­übersichtlichen Satz folgen. Dann beendet er das Gespräch: »Ich wohne ja auch nicht in My­lau.« Im August schließlich organisierte der FSV Mylau ein Kinderfest, gemeinsam mit Robins Mutter. Für den Träger des christlichen U-Haft-Vermeidungsprojekts, in dem Robin sich befindet, wurde eine Spende gesammelt. Auch der Bürgermeister kam, unvorbereitet und anscheinend etwas blau­äugig. Dass dies Schläge ins Gesicht einer Familie sind, deren Haus gerade beinahe niedergebrannt wurde, fällt offenbar niemandem auf.
Als das Gespräch mit Robin vorüber, das Band schon angehalten und das Notizbuch zugeklappt ist, als wir schon stehen, im kleinen Kinderzimmer des weitab und inmitten der Felder gelegenen Gehöfts, fragt Robin noch, ob man vielleicht schreiben könne, dass es ihm leid tue. »Sehr leid«, sagt er mit leiser Stimme. Da auch in der Nacht des Anschlags noch der Freund der älteren Tochter bei den Tellschafts übernachtete, lautet die Anklage gegen Robin auf versuchten fünffachen Mord.