Über den deutschen DVD-Markt

Verloren im Land der Keinohrhasen

Was der hiesige DVD-Markt über die ­Filmkultur in Deutschland aussagt.

Das »Quiz Taxi«, eine Quizsendung auf Kabel Eins, stellte zwei Kandidatinnen, Sportstudentinnen aus Köln, im April 2008 folgende Frage: »Zu welchem Genre wechselte der Regisseur Russ Meyer in den Sechzigern?« – »Sechziger?« fragte eine Studentin nach, »gab es da schon Film? Wann ging das los?«
Man kann und muss von Zwanzigjährigen nicht unbedingt erwarten, dass sie Russ Meyer kennen – die Antwort, die der Moderator hören wollte, hätte übrigens »Sex-« oder »Erotikfilm« gelautet. Die Tatsache jedoch, dass jemand ernsthaft in Erwägung zieht, es habe in den sech­ziger Jahren noch keinen Film gegeben, sagt sehr viel über die Geschichtsvergessenheit und Kinokultur in diesem Land aus. Oder handelt es sich dabei um einen Einzelfall? Immerhin hat der DVD-Boom in den vergangenen Jahren für zahlreiche Wiederveröffentlichungen von Filmen gesorgt, die weiterhin verschollen geblieben wären, wenn das Zeitalter der Videocassette an­gedauert hätte. Die Zahl der Kinobesucher ist zwar dem Statistik-Portal Statista.org zufolge in Deutschland seit 2005 um 19 Prozent gesunken, dafür erreichten die DVD-Verkäufe 2007 mit 103,3 Millionen Stück eine neue Rekordmarke. Während der Verkauf im weltweiten Maß­stab rückläufig ist – der US-amerikanische Markt sei angeblich gesättigt, weil dort bereits alle rele­vanten Filme auf DVD erschienen sind –, halten die Deutschen den Rekord, was den Konsum von DVDs angeht. Aber heißt das, dass wir plötzlich zu einem Land der Cineasten geworden sind, voller kleiner Godard- und Bergman-Spezialisten, die sich abends bei Chips und Bier nicht mehr über die Bundesliga-Ergebnisse, son­dern die Kameraarbeit in »Le Mépris« auslassen? Oder ist dann doch eher die Sportstuden­tin aus dem »Quiz Taxi« repräsentativ, deren Filmwissen nicht über die eigene Lebenszeit zurückreicht? Und was heißt schon »Filmwissen«? Die Konsumenten von »Keinohrhasen« und »Kirschblüten – Hanami« als »Cineasten« zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung für die Begründer der Cahiers du cinéma und alle, die bis heute in deren Tradition stehen.
Dieser Text begibt sich auf Spurensuche. Ihm ist eine monatelange Recherche vorausgegangen, in deren Rahmen der deutsche DVD-Markt – soweit sich dieser überhaupt vollständig überblicken lässt – mit Nachbarländern und vor allem mit den größten westlichen Anbietern USA, Kanada und Großbritannien verglichen wurde. Ohne hier bereits zu viel vorwegnehmen zu wol­len: Das Ergebnis ist niederschmetternd. Trotz anhaltendem Konsum und einer nach wie vor ungeminderten Produktion von Neuerscheinun­gen weist der deutsche Markt eklatante Lücken auf. Ein Großteil der künstlerisch bedeutenden Filme und zum Teil sogar komplette Œuvres von Schlüsselfiguren der Filmgeschichte – zum Beispiel von Yasujiro Ozu, Agnès Varda und Bela Tarr – sind in Deutschland (Stand: Juli 2008) nicht erschienen und werden womöglich auch nie erscheinen. In anderen Fällen ist von wichti­gen Regisseuren gerade mal ein Film erhältlich, von Gregg Araki nur »Mysterious Skin«, von Guy Maddin nur »The Saddest Music In The World«.
Independent-Kino hat es in Deutschland schwer, wenn es nicht gerade aus dem eigenen Land kommt. Der Schwerpunkt deutscher DVD-Veröffentlichungen liegt auf Blockbustern, Fernsehserien und inländischen Filmen. Die ­Ignoranz gegenüber dem Kino Lateinamerikas und Osteuropas – von Afrika ganz zu schweigen –, aber auch gegenüber Independent-Filmen aus den USA und Kanada lässt sich daran ab­lesen, dass in Deutschland gerade einmal eine Hand voll von Independent-Firmen darum bemüht ist, Lücken hinsichtlich dessen zu schließen, was man etwas gestelzt als »anspruchsvolles Kino« bezeichnen kann. Dies führt zwangs­weise dazu, dass zahlreiche künstlerisch wertvolle Filme hierzulande nie zu sehen sein werden. »Wir haben noch viele Träume und Kan­didaten auf unserer Wunschliste«, erzählt Molto Menz, Geschäftsführer von »Absolut Medien«, einem dieser wenigen Independents, »wir schaffen aber nur 60 bis 80 Titel pro Jahr.«

Schikane Regionalcode
Im Grunde kein Problem, sollte man denken. Wer einen Film unbedingt sehen möchte, der hierzulande nicht veröffentlicht ist, kann ja auf ausländische Anbieter zurückgreifen. So sind beispielsweise einige wichtige Filme Jean-Luc Godards wie »Alphaville« und »Made In USA« zwar nicht auf dem deutschen, aber auf dem holländischen Markt erschienen – und zwar mit deutschen Untertiteln. Das weiß jedoch fast niemand, da solche Veröffentlichungen hierzulande nicht beworben werden. In der Regel bleiben also nur der britische, vor allem aber der US-Markt, weil hier wenigstens bei nahezu allen Filmen englische Untertitel garantiert sind. Es ist zwar etwas mühselig, sich schwedische oder tschechische Originalfassungen mit englischen Untertiteln anzusehen, besser allerdings, als bis zu Sankt Nimmerlein auf eine deutsche Veröffentlichung zu warten.
An der Sache ist allerdings ein Haken: der Regionalcode. Dieser in acht Zonen der Welt jeweils unterschiedliche Code wurde von der Filmindustrie eingeführt, um zu verhindern, dass beispielsweise DVDs aus den USA in Europa abgespielt werden können, weil in den USA Filme oft schon vor ihrem Start in europäischen Kinos auf DVD erhältlich sind. »No Country For Old Men« wurde beispielsweise von amazon.com bereits als DVD angeboten, als der Film hier gerade einmal drei Wochen in den Kinos lief. Zudem haben die Filmfirmen ein Inter­esse daran, Vertriebsrechte an mehrere Anbieter zu verkaufen, um möglichst viele Lizenzen einzustreichen. Es gibt zwar Möglichkeiten, den Regionalcode zu umgehen – einige DVD-Player lassen sich codefrei schalten, in der Regel sind das interessanterweise billige Apparate von No-Name-Herstellern –, der Code bleibt dennoch eine ärgerliche Schikane der Majors, dessen ursprünglicher Sinn sich spätestens dort nicht mehr erschließt, wo tschechische Avantgarde-Filme aus den sechziger Jahren ausschließlich mit US-Code erhältlich sind – Filme also, von de­nen nicht zu erwarten ist, dass sie noch einmal irgendwo auf der Welt einen Kinostart erfahren. Einige Independent-Firmen verzichten deshalb inzwischen auf Regionalcodes. Die DVDs, die in der von »Fantoma« in den USA herausgegebenen Box »The Films Of Kenneth Anger« enthalten sind, sind weltweit abspielbar, dasselbe gilt in Deutschland für die Veröffent­lichungen von »Absolut Medien« und »Filmgale­rie 451«.
Nicht so im Fall des weltweit besten Anbieters von Filmklassikern, der »Criterion Collection«. »Das über 400 Titel umfassende Programm mit Werken von Ozu über Melville bis Bergman, von Godard über Cronenberg bis John Woo ist eine Art Kanon für Cineasten, die sich mit der teilweise haarsträubenden Qualität herkömmlicher DVD-Veröffentlichungen nicht zufriedengeben wollen«, schwärmte Matthias Schönebäumer 2007 in der Wochenzeitung Die Zeit: »Wie kostbare Bücher zieren Criterion-DVDs ganze Regale von Sammlern, die mit fast schon ero­tischer Hingabe einzelne Ausgaben diskutieren.« Den Leserinnen und Lesern der Zeit – die ja nun nicht gerade als Cracks für illegales Codefrei-Schalten oder Ripprogramme bekannt sind – wurde allerdings verschwiegen, dass sie diese Filme auf einem herkömmlichen europäischen Gerät nicht werden abspielen können.

Amerika, du hast es besser
Das Programm, die Auswahl und die Aufmachung der »Criterion«-Reihe geben in der Tat eine Ahnung davon, was in Deutschland fehlt. Für gewöhnlich müssten sofort alle misstrauisch werden, wenn von einem »Kanon« die Rede ist, doch im Gegensatz zu den scheinbar willkürlich zusammengestellten deutschen Reihen wie der »SZ-Cinemathek« oder der vom Spiegel präsentierten »Arthaus-Collection«, die einen Kanon behaupten, in Wirklichkeit aber auf die ökonomisch sichere Bank setzen und daher kaum filmische Überraschungen bieten, reicht die hohe Qualität bei »Criterion« von der Filmauswahl bis zur Ausstattung, vom um­fang­reichen Booklet über die Bildrestaurierung bis zum Bonusmaterial: »Criterion« rattert nicht wie die »SZ-Cinemathek« Filme im Ein­heits­design herunter, sondern präsentiert jede Veröffentlichung in ganz eigener Ausstattung, die den jeweiligen Film sowohl historisch wie ästhetisch als einzigartiges Werk würdigt. Neben bekannten Klassikern, die es inzwischen auch auf den deutschen Markt geschafft haben (wenn auch selten so sorgfältig editiert), da­runter Gus Van Sants »My Own Private Idaho«, Pasolinis »Mamma Roma« und Tarkowskijs »Ivans Kindheit«, sind hier vor allem die Editionen von lange verschollenen oder vergessenen Filmen bemerkenswert. Zum Beispiel Ermanno Olmis »Il Posto« (dt. »Der Job«) von 1961, einer der eindringlichsten und originellsten Filme, die der italienische Neorealismus hervorgebracht hat. In radikal dokumentarischem Stil, mit Laienschauspielern gedreht, verfolgt der Film die Odyssee eines jungen Mannes aus armen Verhältnissen in der gigantischen Maschinerie eines Mailänder Großraumbüros. Humorvolle, an Jacques Tatis Filme er­innernde Szenen wechseln sich ab mit beklemmend langen Einstellungen, die den ganzen Stumpfsinn der Arbeitsteilung auf den Punkt bringen. Vom Bewerbungsgespräch bis zur Betriebsfeier in vermeintlich ausgelassener Runde hat kein anderer Film die sprichwörtliche Entfremdung dermaßen elementar ausweglos in Szene gesetzt. Keinem der frühen Filme Paso­linis, von Fellini ganz zu schweigen, ist ein so konzentriertes Abbild des Ausgeliefertseins gelungen. Für die DVD-Edition ist »Il Posto« von »Criterion« tatsächlich vor dem endgültigen Verschwinden gerettet worden: Der Film lag nur noch in zerkratzten, stellenweise komplett beschädigten Kopien vor und musste für die DVD Bild für Bild digital restauriert werden. Aber auch moderne Klassiker wie Richard Linklaters »Slacker« (1989) sind bei »Criterion« in neuem Glanz erschienen. Das Debüt des Regisseurs, der später durch eher seichte Komödien wie »School Of Rock« bekannt wurde, ist an formaler Radika­lität kaum zu überbieten: Die Zahl der vielen verschiedenen Schauspieler in dem Film dürfte in etwa der Anzahl der Minuten entsprechen, die er dauert. Ohne einen herkömmlichen Plot zu entwickeln, wandert die Kamera von einem Protagonisten zum nächsten, fängt den belanglosen Smalltalk jugendlicher Hänger und selbst­ernannter Lebenskünstler ein, ohne einen dieser Handlungsstränge später wieder aufzugreifen. Doch gerade durch die konsequente Verweigerung einer Zusammenführung des Geschehens, wie man sie von Robert Altmans »Short Cuts« oder Paul Thomas Andersons »Magnolia« kennt, gelingt »Slacker« das stimmige Bild von Angehö­rigen einer Generation, denen es unmöglich geworden ist, ein lineares Leben zu führen oder eine »Identität« im herkömmlichen Sinne zu erwerben.
»Criterion« behauptet keinen Kanon, sondern schafft ihn, indem hier editorisch mutig auch Filme veröffentlicht werden, deren Regisseure man eigentlich nicht in einer Reihe mit Namen wie Godard und Antonioni vermutet hätte. Doch was für dieses Label gilt, trifft auch auf viele andere amerikanische Independent-Firmen zu, zum Beispiel auf »Facets Video«, wo nahezu alle Schlüsselwerke der »Czech New Wave« vorliegen, dem tschechischen Pendant zur französischen »Nouvelle Vague« der sechziger Jahre, oder die Firma »Zeitgeist-Video«, die den in Armenien spielenden Film »Calendar« (1993) von Atom Egoyan im Programm hat, eine ZDF-Produktion aus der Reihe »Das kleine Fernsehspiel«, welche ebenfalls bislang ausschließlich für den US-amerikanischen Markt vorliegt.
Diese Aufzählung macht vor allem eines deut­lich: Der europäische bzw. in Europa produzierte Autorenfilm, dessen Protagonisten und Anhänger sich immer wieder rühmen, gegen den vermeintlichen »Einheitsbrei von Holly­wood« rebelliert zu haben, wird nirgendwo so sehr gewür­digt wie im Land von Hollywood selbst. Denkt man etwa an Wim Wenders’ Ausspruch: »Die Ame­rikaner haben unser Unter­bewusstsein kolonialisiert«, stellt man fest, dass das Gegenteil richtig ist. Die stereotyp als Nation der Burger- und Superhelden-»Unkultur« ver­schrienen USA kümmern sich nicht nur um die Pflege der eigenen Filmkultur, sondern auch um jene der europäischen Filmtradition, auf die man hierzulande anscheinend nur dann stolz ist, wenn es darum geht, sich mal wieder gegenüber dem angeblich oberflächlichen US-Mainstream abzugrenzen. In Deutschland will anscheinend niemand ein solches Autorenkino sehen – zumindest liegen die meisten Filme nicht auf DVD vor –, hier genügt vielmehr seit geraumer Zeit Komödien-Schrott und Esoterik-Sülz von Michael Herbig bis Doris Dörrie sowie revisionistisches Propagandakino der Marke »Das Wunder von Bern« und »Napola«, um gegenüber der »Hollywood-Stangenware« eine eigenständige »Kinokultur« zu behaupten. Selbst der gesunde Selbsthass, der die Filme des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl auszeichnet, ist dem deutschen Kino abhanden gekommen. Der Grauschleier, der mit Ausnahme von »Querelle« über allen Filmen Fassbinders lag, ist unter den Bedingungen der Berliner Republik einem Nationaltaumel gewichen, welcher abstoßende Deutsche nur noch dann auf der Lein­wand akzeptiert, wenn es sich um den harten historischen Kern aus dem Führerbunker handelt.
Diese Kritik ist nicht neu, korrespondiert aber augenfällig mit deutschen Ressentiments gegenüber den USA und dem US-Kino im speziellen, die nicht zuletzt dadurch genährt werden, dass auch ein Großteil des amerikanischen Inde­pendent-Kinos hierzulande gar nicht mehr wahrgenommen wird. Nicht nur, dass sich tsche­chische, jugoslawische und ungarische Filmklassiker ausschließlich in den USA auf DVD fin­den, auch nahezu alles relevante oder doch zumindest radikale US-Kino hat in Deutschland keinen Markt: »Gummo« und »Julien Donkey-Boy« von Harmony Korine, »The Doom Generation« und »Nowhere« von Gregg Araki, »Welcome To The Dollhouse« und »Happiness« von Todd Solondz oder »Modfuck Explosion« und »Scumrock« von Jon Moritsugu sind in Deutsch­land nie veröffentlicht worden, haben zum Teil auch keinen Kinoverleih gefunden. Das jüngste Beispiel für diese Ignoranz ist der hier weder im Kino gezeigte noch als DVD geplante »The Guatemalan Handshake« (2006) von Todd ­Ro­hal, mit Will Oldham (ja, dem Musiker Will Oldham alias Bonnie »Prince« Billy) in der Haupt­rolle. Die absurde Komödie, in der sich ein Kern­reaktorunglück, ein sich mit Schnauzbart dekorierendes Mädchen im gender trouble, ein Car-Crash-Wettbewerb, ein entlaufener Hund und eine an ihrer eigenen Beerdigung teilnehmende Rentnerin auf wundersame Weise zu einem ebenso stimmigen wie absonderlichen Film fügen, macht vor allem eines deutlich, was dem deutschen Film längst abgeht: Die Amerikaner können auch über ihre eigenen Marotten lachen. Provinzielle »White-Trash«-Figuren werden hier nicht vorgeführt, sondern liebevoll demon­tiert oder auf absurde Weise in einen ungewohn­ten Kontext gestellt. Während sämtliche Männer in »The Guatemalan Handshake« nicht nur im Liebesleben, sondern auch technisch Versager sind, schrauben kleine Mädchen an Automotoren herum und gewinnen Frauen das Car-Crash-Rennen. Deutschland hat in dieser Hinsicht nur Produktionen wie Bernd Eichingers »Manta, Manta« zu bieten, wo Til Schweiger dafür sorgt, dass Frauen die ihnen gebührende Rolle auf dem Beifahrersitz und in den Besucher­rängen zugeteilt wird.

Queer Cinema
Eine rühmliche Ausnahme darf allerdings nicht unterschlagen werden: Das queere Kino – korrek­ter müsste es wohl heißen: schwules Kino – ist in Deutschland nahezu lückenlos auf DVD er­hältlich. Firmen und Reihen wie »Edition Salzgeber«, »Pro Fun Media«, »Heinz und Horst« und »Good Movies« sorgen seit einigen Jahren dafür, dass selbst sperrige und avantgardistische Filme wie »El Mar – Das Meer« von Agusti Villaronga oder »The Angelic Conversation« von De­rek Jarman ihren Weg auf DVD finden, sofern sie denn einen schwulen Inhalt haben. Das an einer klaren Zielgruppe orientierte Nischenprogramm führt allerdings auch zu absurden Auswüchsen. So werden unter anderem auch solche Filme als »Gay Classics« auf DVD vermark­tet, in denen überhaupt nichts Schwules vorkommt, sondern die lediglich einen jungen, gut aussehenden Protagonisten aufzuweisen haben. Uwe Frießners »Das Ende des Regenbogens« von 1979 (ein Sozialdrama aus einer Zeit, als der deutsche Film noch nicht völlig auf den Hund gekommen war) wird von der »Edition Salzgeber« als »schwuler Kultfilm« beworben, obwohl der Protagonist Jimmi, ein arbeitsloser, vor seinen Eltern geflüchteter Herumtreiber in West-Berlin, im Film keine größere Sorge hat, als die Beziehung mit seiner Freundin in den Griff zu bekommen. Diese Beziehung wird im Klappentext der DVD an keiner Stelle erwähnt, obwohl sie mehr als ein Drittel der Handlung ausmacht, dafür ist vom »Strich« die Rede, auf dem Jimmi de facto gar nicht zu sehen ist. Am Anfang des Films lungert er lediglich vor dem Bahnhof herum, ohne dass dabei ein schwuler Kontext klar ersichtlich würde. Ähnlich erging es dem argentinischen Film »Glue« (2006) von Alexis Dos Santos, der von drei orientierungslosen Jugend­lichen handelt, die sich in der weiten Landschaft Patagoniens auf die Suche nach ihrer sexuellen Identität begeben. »Schwules« beschränkt sich in diesem von der Firma als »Gay Classic« beworbenen Film auf einen Kuss unter Freunden und das – lediglich angedeutete – gemeinsame Wichsen zu einem (heterosexuellen) Pornofilm. Ansonsten sind die beiden Protagonisten händeringend darum bemüht, bei der gemeinsamen Freundin Andrea zu landen.
In den USA ist der Film bei der Firma »Picture This!« erschienen, die wenigstens keinen Etiket­tenschwindel betreibt: »Picture This!« hat sich auf Coming-of-Age-Filme spezialisiert, unabhän­gig ob schwul, hetero oder überhaupt in irgend­einer Weise sexuell konnotiert. In Deutschland dagegen verspricht man sich anscheinend einen besseren Absatzmarkt, wenn Independent-Filme in irgendeiner Form als »schwul« etikettiert werden können. Ein hübscher Schauspieler oder eine fünf Minuten dauernde schwule Nebenepisode reichen hierfür bereits aus. Immerhin: Auf diese Weise verdanken wir großartigen Filmen wie »L.I.E.« von Michael Cuesta oder »Tro­pical Malady« von Apichatpong Weerasethakul ihre Existenz auf DVD, die sie ohne einen wie auch immer im Film dargestellten schwulen Subtext wohl nie gehabt hätten.

Kein Markt vorhanden?
Natürlich gibt es keinen klar nachweisbaren Zusammenhang zwischen der katastrophalen Ent­wicklung des deutschen Kinos seit den achtziger Jahren und der ähnlich katastrophalen Aufberei­tung internationaler Filmkunst seit dem Aufkommen der DVD. Dieser Zusammenhang lässt sich lediglich als kühne, dadurch aber nicht unbedingt abwegige These formulieren. Das mittels unterschiedlichster Filme wie etwa »Alles auf Zucker« oder »Der Untergang« neu installierte Selbstbewusstsein, das uns »die Deutschen« als ein geläutertes wie auch einst von Hitler und Weltkrieg unterjochtes Volk verkaufen will, geht einher mit einem allgemeinen Desinteresse an kritischer Filmkultur. Während wissenschaftliche Publikationen zu Film und Filmgeschichte im englischsprachigen Raum boomen – dort lie­gen gleich mehrere Bücher über Regisseure vor, von denen in Deutschland nicht einmal die Filme erhältlich sind, etwa von Jan Svankmajer, dem Altmeister des surrealen Animationsfilms –, exis­tieren im deutschsprachigen Raum nur wenige auf Film spezialisierte Verlage. Die Zeit, als große Verlage wie S. Fischer und Hanser sich eigene Buchreihen zum Kino leisteten oder eine Mono­graphie über Peter Greenaway auf rätselhafte Weise sogar den Weg zum Bastei-Lübbe-Verlag fand (Jean Lüdeke: »Die Schönheit des Schreck­lichen«), ist endgültig vorbei. Die Situation auf dem Buchmarkt ist mit der oben erwähnten auf dem DVD-Markt vergleichbar: Einer kleinen Gruppe unabhän­giger Firmen wie »Filmgalerie 451«, »Good Movies«, »Absolut Medien«, »Alamode Film« und »Rapid Eye« kommt die enorme Aufgabe zu, nahe­zu die komplette Filmkultur jenseits der Blockbuster zu publizieren.
Nahezu den kompletten Markt? Und wie steht es mit »Arthaus«, dem größten Anbieter von Filmen des Autorenkinos in Deutschland? Die dem Filmkonzern »Kinowelt« zugehörige »Arthaus«-Reihe erweist sich eher als Vielfalt verhin­dernder Monopolist – wenn auch möglicherweise ohne böse Absicht. Trotz verdienstvoller Veröffentlichungen wie Peter Lorres »Der Verlorene« (1951), einem der ersten antifaschistischen Nachkriegsfilme aus Deutschland, der erwartungsgemäß ein Flop war, erscheinen bei »Arthaus« vornehmlich Filme, die man bös­artig als studentischen Feel-Good-Mainstream bezeichnen kann, also Jim Jarmusch, Wim Wenders, »Breaking The Waves«, »Das Piano«, »Delicatessen«, »Kundun« und »Out Of Rosenheim«. Besondere Wagnisse sind da eher die Ausnahme. Einige Filialen eines Unternehmens, das Unterhaltungselektronik verkauft, etwa in Stuttgart, haben eine eigene, nach Regisseuren geordnete Arthaus-Abteilung eingerichtet, in der sich fast ausschließlich Filme der Firma »Arthaus« finden, was suggeriert, dass damit bereits das kom­plette Programm an in Deutschland erhältlichem Autorenkino abgedeckt sei. »Im hiesigen Video-/DVD-Markt«, erklärt daher »Absolut Medien«, »ist unser Programm fast zu anspruchs­voll – Neuland für die Filmbranche; es gibt (gab) keine dafür tauglichen Kanäle. Folglich vertreibt ›Absolut‹ selbst und hat seitdem vielfältige Kooperationen und Auslieferungsmöglichkeiten ge­schaffen«, dazu zählen unter anderem der Buch­markt und der Internet-Shop des Fernsehsenders Arte.

Immer radikal, niemals konsequent
Um zu verdeutlichen, dass es sich bei einem sol­chen Nischenprogramm nicht um Obskuritäten aus der hintersten Schublade, sondern um Stern­stunden der Filmgeschichte handelt, soll an dieser Stelle das Programm und die Vertriebsstruktur der Berliner Firma »Absolut Medien GmbH« kurz vorgestellt werden. »Wir stehen in der Tradition der europäischen Aufklärung«, erklärt Geschäftsführer Molto Menz, »unsere Filme sollen schlauer machen. Sachen, die die Mütze vernebeln oder ungelebtes Leben kompensieren sollen, gibt es bei uns nicht. Unser Programm versteht sich auch als komplementär zum Markt, das heißt, Fehlendes wird als solches erkannt und von uns nachgereicht. In Anlehnung an Walter Benjamins ›Immer ra­dikal, niemals konsequent‹ bewahren wir uns auch programmatisch eine größtmögliche Freiheit.«
»Absolut Medien« hat gleich mehrere Nischen besetzt, darunter Meisterwerke des Stummfilms – Klassiker sowie Unbekanntes von D.W. Griffith bis Sergej Eisenstein, aber auch die Kurz­filme von Charlie Chaplin, Buster Keaton und Harold Lloyd –, ambitionierte Dokumentarfilme aus den Bereichen Bildende Kunst und Musik – darunter etwa Filme über Martin Kippenberger, Dieter Roth und die Band Mutter – sowie osteuropäisches Kino. Hier sind Klassiker wie Kies­lowskis »Dekalog« und Takowskijs letzter Film »Opfer« erschienen, in der 2008 in Kooperation mit dem Wiesbadener »Go-East«-Festival gegründeten DVD-Reihe »Go-East-Edition« erschei­nen neuerdings auch jüngere osteuropäische Filme von weniger bekannten Regisseuren. Ein weiteres editorisches Verdienst ist die Werkschau von Claude Lanzmann, darunter die 4-DVD-Box »Shoah« und die Doppel-DVD »Warum Israel«. Solche Projekte können oft nur mit Hilfe von Kooperationen realisiert werden, sowohl die Stummfilm-Reihe wie auch die Lanzmann-Edition sind in Zusammenarbeit mit dem Fernsehsender Arte entstanden. »Die Kooperationen helfen uns, die Filme unseres Programms breiter zu präsentieren«, sagt Menz. Für die Zusammen­arbeit mit Arte bedeutet dies: »Wir erwerben die Lizenz, Arte macht Promo und bekommt wenige Prozent vom Umsatz.«
Nicht erst mit der Herausgabe von Claude Lanzmanns Filmen gibt sich »Absolut Medien« politisch, »all unsere Filme sind politisch«, merkt Menz ebenso selbstbewusst wie lakonisch an. Was das bedeutet, lässt sich an einem filmischen Unikum nachvollziehen, das seiner Zeit so weit voraus war, dass seine Existenz fast schon einer größtmöglichen Unwahrscheinlichkeit gleichkommt: »Borderline« aus dem Jahre 1930. Kenneth MacPhersons Stummfilm-Experiment ist einer der ersten Filme, der »race« und »gender« dekonstruiert und dabei formal durchweg auf Improvisation aufbaut, deren Konsequenz mit den frühen Filmen von John Cassavetes und Andy Warhol vergleichbar ist. Für die Hauptrolle in dem Film über ein schwarzes und ein weißes Ehepaar, die sich ihren sexuellen Obsessionen hingeben und dabei rassistischen Stereo­typen erliegen, konnte MacPherson niemand Ge­ringeren als den Schauspieler, Musiker und afroamerikanischen Bürgerrechtler Paul Robeson gewinnen. Die hervorragenden Liner Notes kontextualisieren den Film des britisch-jüdischen Regisseurs, der mit den Mitteln der Psychoanalyse und des Expressionismus einen intellektuellen europäischen Boheme-Film gedreht hat, welcher zugleich Elemente des ameri­kanischen Avantgarde- und Blaxploitation-Films der sechziger Jahre vorwegnimmt.
Zugegeben, dabei handelt es sich natürlich um Minoritäten-Kino. Weder das Sujet – Queerness und rassistisch-sexistisch konnotierte Vor­urteile – noch die Tatsache, dass es sich um einen Stummfilm handelt, sind besonders verkaufsfördernd. Umso verärgerter ist Molto Menz, wenn »Absolut Medien« zwar durchweg anerkennende Kommentare in der Presse bekommt, Kunden allerdings im Internet über die Auswahl und Ausstattung herfallen. Als größte per­sönliche Enttäuschung des Jahres nennt er den »Internet-Pöbel, der uns und unsere ›Dekalog‹-Ausgabe ob der fehlenden deutschen Untertitel niedermachte. Abgesehen davon, dass die Unter­titel um die 15 000 Euro gekostet hätten, war die Art der Kritik unter aller Sau. Überhaupt: Wir sind keine Wunscherfüllungsgehilfen – kürzlich fragte einer nach der ZDF-Synchro­nisation der Harold-Lloyd-Filme aus den siebziger Jahren –, wollen gar nicht zu everybody’s darling mu­tieren.« Trotz solcher Anfeindungen ist »Absolut Medien« darum bemüht, sein Programm zu erweitern, pro Jahr sollen sogar ein bis zwei neue inhaltliche Schwerpunkte im Stil der »Go-East«-Reihe hinzukommen. Nicht alle Nischenfirmen haben einen so langen Atem. Das 2006 von der gleichnamigen Firma gegründete »Kino­latino«, das einen Überblick über die Vielfalt des lateinamerikanischen Kinos geben wollte, kam nicht über das Gründungsjahr hinaus, die Reihe wurde bereits nach vier Filmen eingestellt. So­zialromantischer Kitsch wie »The Motorcycle Dia­ries – Die Reise des jungen Che« fügen sich anscheinend besser in das hiesige Lateinamerika-Bild als ein Film wie »Junta« von Marco Bechi, der in den Gefängnissen der argentinischen Militärdiktatur spielt.

Es war schon immer etwas teurer, einen beson­deren Geschmack zu haben.
Film ist, das muss an dieser Stelle eigentlich nicht betont werden, eine ebenso ernstzunehmende Kunstform wie Bildende Kunst oder ­Literatur. Film als Kunstform muss in Deutschland jedoch unter Artenschutz gestellt werden, hat weder Lobby noch Publikum – abgesehen von der pe­ne­tran­ten inländischen Nabelschau, die mit jeder »Berlinale« einhergeht, und dem beleidigten Gegreine, wenn wieder einmal kein deutscher Film – warum auch? – den »Golden Globe« gewonnen hat. Der Rest der Welt ist am jüngeren deutschen Kino nur mäßig interessiert, so wie auch das deutsche Publikum sich für den Rest der Welt nicht interessiert. Der einzige nennenswerte Anbieter für Spielfilme aus Ländern wie Kirgisien, Senegal, Mali oder der Volks­republik China, »Trigon Film«, sitzt bezeichnenderweise nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. DVDs von »Trigon« lassen sich zwar auch in Deutschland über die Label-Homepage (www.trigon-film.org) bestellen, doch »Trigon« macht dafür weder gesonderte Werbung noch sind die Filme bei deutschen Großanbietern wie Amazon gelistet.
In letzter Konsequenz bedeutet das für Filmliebhaber, viel aufwändige Recherche im Internet betreiben zu müssen, um herauszufinden, welcher Film eventuell auf dem holländischen, schweizerischen, französischen, britischen oder US-amerikanischen Markt in welcher Sprach- und Untertitel-Fassung erhältlich ist. Wenn man Pech hat, kann das auch noch unnötig ins Geld gehen. Ab einer gewissen Bestellmenge schlägt der deutsche Zoll bei Bestellungen aus dem nichteuropäischen Ausland kräftig drauf. So kann es passieren, dass man schon für zwei zusammen in einem Päckchen verschickte DVDs eine Zollgebühr von zehn Euro nachzahlen muss. Aber einen wahren Filmliebhaber schreckt so etwas nicht ab. Kein Preis ist zu hoch, um auf der heimischen Couch einem Kinoabend bei Tom Tykwer, Doris Dörrie, Til Schweiger oder Sönke Wortmann zu entgehen.