Zum 100. Geburtstag von Claude Lévi-Strauss

Der Bändiger des unendlich langweiligen Materials

Zum 100. Geburtstag des Begründers des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss.

Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende.« Als Claude Lévi-Strauss sein 1955 in Paris erschienenes Buch »Traurige Tropen« mit diesem Bekenntnis einleitet, hat er die entscheidenden Reisen seines Lebens bereits hinter sich gebracht. 18 Jahre liegt seine letzte große Expedition in eine bis dahin unerschlossene Region im brasilianischen Mato Grosso zurück. Im November 1937 war er mit einer Forschergruppe von Sao Paulo aus aufgebrochen, um das Leben der Indianer Amazoniens zu erforschen.
Lévi-Strauss und seine Gruppe nehmen im Dschungel Kontakt zu den Angehörigen des Bororo-Stammes auf und beginnen, deren Lebensgewohnheiten zu erforschen. Mit den im freundschaftlichen Kontakt zu den Bororo-­Indianern gewonnenen Daten, die besonders genau ihre Heiratsregeln dokumentierten, beginnt die ethnografische Arbeit von Lévi-Strauss, die ihn, der am 28. November 100 Jahre alt wird, zum heute berühmtesten Ethnologen und Anthropologen der Welt machen.
»Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft« von 1949 bilden dabei den doppelten Grund seiner Berühmtheit. Es war zu gleichen Teilen eine Theorie des Inzests wie eine Theorie der sozialen Evolution und wurde so zu einem der Grundsteine dessen, was man später »Strukturalismus« nennen sollte. Dabei hatte das Buch überhaupt nichts Sensationelles zu bieten. Georges Bataille bewunderte an den »Elementaren Strukturen« die Ausdauer und den Gleichmut, mit dem Lévi-Strauss dieses »unendlich langweilige« Material entfaltete. Die große Vielfalt der institutionalisierten Formen von Heirat unter den amerikanischen Indianern, mit denen sie das Inzestverbot in gesellschaftliche Regeln lenkten, hatte er in grafische Darstellungen und Formeln übersetzt, die die subjektive Instanz als eine von den Objektbedingungen abhängige zeigte.
Die entscheidende Neuerung gegenüber der traditionellen Ethnologie, die er in den »Traurigen Tropen« und der »strukturalen Anthropologie« von 1958 unmissverständlich klar artikulierte, war aber nicht seine Konzeption der Subjektinstanz, sondern sein fundamentaler Bruch mit jeder Form einer linearen Geschichts­kons­truktion. Die »Wilden« oder »Primitiven«, wie eine vom Kolonialismus geprägte Anthropologie die Stämme des Amazonas und anderer so genannter unterentwickelter Weltgegenden bezeichnete, standen entwicklungsgeschichtlich nicht erst am Anfang. Sie hatten eine genauso lange Entwicklungsgeschichte hinter sich wie die zivilisierten Gesellschaften auch. Sie hatten nur auf andere Dinge, Klassifizierungen und Traditionen Wert gelegt als die schriftmächtigen Gesellschaften der Industrienatio­nen.
»Die Klassifizierungen der Eingeborenen sind nicht nur methodisch und auf ein festgefügtes theoretisches Wissen begründet. Es kommt auch vor, dass sie in formaler Hinsicht mit den Klassifizierungen verglichen werden können, die von Zoologie und Botanik noch immer verwendet werden«, schreibt Lévi-Strauss in »Das wilde Denken«. Er findet, gerade wenn es um Pflanzen und Tiere geht, in den Mythen und Riten der Indianer Elemente einer systematischen Wahrnehmung der Natur, die insbesondere die frühen Reisenden aus den Kolonialmächten mit ihren aufs Geratewohl getroffenen Einteilungen wie Deppen aussehen lässt.
Und dennoch schlägt Lévi-Strauss gerade mit seiner Aufwertung der so genannten primitiven Kulturen eine Brücke zu den westlichen Zivilisationen. Eben weil er die Gesellschaften der Tropen mit den hochentwickelten theoretischen wie methodischen Instrumentarien von Geologie, Psychoanalyse, Marxismus und der Linguistik Ferdinand des Saussures’ und Roman Jakobsons untersuchte, boten seine Analysen die Möglichkeit, in den entlegensten Gedankengängen der Tropenstämme eine allen Menschen gemeinsame Rationalität zu entdecken. Das machte Lévi-Strauss für so unterschiedliche Denker wie Jacques Lacan, Louis Alt­husser und Michel Foucault interessant.
Aber – und da werden die Tropen traurig – ist es nicht eine Illusion anzunehmen, dass bei den realen Kräfteunterschieden zwischen »dem Westen« und den Indianerstämmen ein kommunikativer Austausch zwischen den Kulturen überhaupt stattfinden kann, und ist nicht bereits die entwickelte Methode des Mythenvergleichs, wie sie Lévi-Strauss anwendet, bereits wieder Unterdrückung durch den Westen?
Ja, natürlich ist es das, und es wird Lévi-Strauss schon sehr früh klar. Deshalb schreibt er die »Traurigen Tropen«, und deshalb muss man das Buch auch als ein Buch der persönlichen wie der wissenschaftlichen Krise lesen. Die Gesellschaften der Amazonas-Indianer sind im Rückzug begriffen, und es ist für Lévi-Strauss bereits 1955 keine Frage mehr, dass sie den Kampf verlieren werden. Weil er sich aber nach den Wanderjahren in Brasilien, wo er seit 1935 als Professor lehrte, und Lehrtätigkeiten an der New School for Social Research in New York von 1941 bis 1944 im Nachkriegs-Paris nicht nur einer kolonialistischen Herrenmenschenanthropologie, sondern auch dem Existenzialismus gegenübersah, schien ihm seine strukturale Anthropologie wie ein Ausweg aus einem doppelten Dilemma. Die Beförderung persönlicher Sorgen in den Rang philosophischer Probleme, wie dies seiner Ansicht nach der Existenzialismus versuchte, war mit seiner Anthropologie nicht möglich, die er als ein System der »Zeichen und der Gestik, aus dem sich Riten, Heiratsregeln, Verwandtschaftssysteme, Gebräuche und bestimmte Formen des ökonomischen Tausches ableiten«, beschrieb.
So streng er aber auch seine strukturalistischen Forschungen zu den Mythen der Indianer formulierte, so wenig konnte er verhindern, dass man in ihnen mehr sah, als sie waren. Wer die Primitiven so in Schutz nahm und wer ihr Denken so konsequent auf die gleiche Entwicklungshöhe wie die der entwickelten Länder setzte, musste auch an ihrer Befreiung interessiert sein. Und so kam es, dass Lévi-Strauss und mit ihm der gesamte Strukturalismus zum Hoffnungsträger für etwas wurde, was zumindest Lévi-Strauss selbst nie versprochen hatte: nämlich zum Stichwortgeber für die gesellschaftliche und politische Emanzipation in Frankreich selbst. Weil Lévi-Strauss aber nach einer pazifistisch-sozialistischen Phase in den zwanziger und dreißiger Jahren sich jeder politischen Parteinahme enthalten hatte, wurde ihm im Mai 1968 der wenig faire Prozess gemacht. »Die Strukturen gehen nicht auf die Straße«, hieß eine berühmte Parole jenes Jahres. Lévi-Strauss hätte dem allerdings auch nie widersprochen, für ihn war das System der Universität schon seit viel längerer Zeit im Zerfall begriffen. ’68 war für ihn nur ein Zeichen mehr für den unaufhaltsamen Abstieg einer Institution, die nicht mehr in der Lage war, der Gesellschaft die Impulse zu geben, die sie zu ihrer Erneuerung benötigt hätte.
Und diese Erneuerung konnte nicht aus der Zerstörung erwachsen, die die Barrikaden von Paris für ihn darstellten. Man kann das konservativ nennen, entscheidender für die Wahrnehmung seiner Forschung in der Gegenwart ist aber etwas anderes: Wenn sich Gesellschaften nicht linear entwickeln, sondern, wie die der Indianer, immer wieder auch ihre Vergangenheit an anderen Orten und zu anderen Zeiten vergegenwärtigen können, dann wird auch die Globalisierung nicht zu einer Konsensweltgesellschaft führen.