Wandern auf den Spuren der Partisanen in Italien

An Gedenksteinen entlang

Wandern gilt als eine der piefigsten Sportarten überhaupt. Doch es geht auch anders: eine politische Wanderung

Welcher Idiot hatte mich nur auf diese Idee gebracht? Seit Stunden quäle ich mich auf einem schmalen Bergpfad nach oben, und die knapp 18 Kilo des Rucksacks drücken. Seit heute morgen habe ich die verschiedenen Vegetationsstufen der italienischen Alpen durch­quert, erst auf einer wunderschönen mulatteria (Maultierweg) durch verwilderte Esskastanienwälder, dann durch ein weitgehend verlassenes Dorf, wo nur noch die Weinberge am Wochenende gepflegt werden. Später durch Buchenwälder, und nun über aufgelassene Almwiesen, die an vielen Stellen schon von Brombeeren und Himbeeren überwuchert sind.
In meiner Phantasie werden der Himbeerkuchen und die Tasse Kaffee im Haus meiner Eltern zum größten Glück auf Erden. Doch ich bin jetzt hier, und der Idiot bin eindeutig ich ge­wesen.
Oben auf dem Colma di Premosello sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Hier findet man diese kurzen Glücksmomente, in denen man die Welt anhalten möchte und alle Anstren­gungen des Tages vergessen sind. Am Horizont im Westen versinkt die Sonne gerade hinter dem über 4 600 Meter hohen und schneebedeckten Massiv des Monte Rosa, gut 1 500 Meter unter mir schlängelt sich das Ossola-Tal zwischen Domodossola und dem Lago Maggiore dahin.
Die aufkommende Kälte der Nacht schreckt mich nicht, denn direkt am Pass ist in einer alten Almhütte ein nagelneues Biwak eingerichtet. Ein einfacher Hochboden aus Holz für die Isomatte und den Schlafsack, ein Tisch, ein paar Stühle und ein Gasherd, um die Ecke eine Quelle mit Wasser. Sonst nichts. Und zum letzten Mal Handyempfang für die nächsten Tage.
Denn hier beginnt der »Parco Nazionale Val Grande«, der mit seinen rund 150 Quadratkilometern als das größte Wildnisgebiet Italiens und der gesamten Alpen gilt. Keine 100 Kilometer von Italiens kapitalistischer Metropole Mailand entfernt, wurde dieses Gebiet jahrzehntelang vergessen, und so konnte sich die Natur ungestört zurückholen, was ihr zuvor geraubt wurde. »Die Forstwirtschaft wurde hier Jahrhunderte lang geradezu raubbaumäßig betrieben«, schreibt Bernhard Herold Thelesklaf in seinem gerade erschienenen Trekkingführer »Na­tional­park Val Grande«. Auf den Wegen stößt man immer noch auf die Spuren dieser Aus­beu­tung, alte verfallene und überwucherte Transport-­Seilbahnen, mit denen die Holzstämme auf abenteuerlichen Routen durch die steilen Schluchten hinab in die Po-Ebene transportiert wurden.
Überall stößt man aber auch auf die Spuren des eigentlichen Grundes, warum sich hier wieder die Wildnis durchsetzen konnte.
Die Wege sind gesäumt von kleinen Gedenksteinen, die an im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht und italienische Faschisten gefallene Partisanen erinnern. Den gleichen Zweck erfüllt ein riesiges eisernes Kreuz an dem Aussichts­punkt, von wo aus die Freischärler das Ossola-Tal überblicken konnten. Nuancen an den Ge­denk­steinen geben Hinweise darauf, ob es sich um eher königstreue »blaue« oder um »rote« Garibaldini-Partisanen handelte. In diese Berge hatten sich seit dem Frontenwechsel Italiens im Spätsommer 1943 zahlreiche junge Leute zu­rückgezogen. Insbesondere junge Männer hatten oft nur die Wahl, zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt zu werden oder sich den Partisanen anzuschließen.
Im Juni 1944 begannen jedoch die deutsche Wehr­macht und italienische faschistische Verbände mit einem groß angelegten ras­trellamento (Durchkämmen) des Gebietes. Hunderte von Partisanen fielen bei den Kämpfen, auch viele der Almbauern wurden getötet, und nahezu die gesamte Infrastruktur der Alpwirtschaft wurde zerstört. Nach dem Krieg reichte die Kraft nicht mehr, das Gebiet neu zu besiedeln.
Ausführlich beschreibt Thelesklaf die Kämpfe in seinem dritten von 15 Vorschlägen mehr­tägiger Touren. Darüberhinaus erzählt er von einigen Personen des Juni 1944. Zum Beispiel von der Krankenschwester Maria Peron, die als Chirurgin der Partisanen bekannt wurde. Und immer wieder unterbrechen die Erinnerungen von Nino Chiovini, der seit dem Herbst 1943 eine Partisaneneinheit kommandierte, die Weg­beschreibung »Auf den Spuren der Partisanen«.
In Fondotoce in der Nähe von Verbania am Lago Maggiore befindet sich eine große Gedenk­stätte mit Museum. Hier erschossen die Deutschen am 20. Juni 1944 insgesamt 42 gefangengenommene Partisanen.
Nicht weit von der Gedenkstätte entfernt steht am Lago Mergozzo am Straßenrand ein schlichter Grenzstein. »Hier verlief im Herbst 1944 die Grenze der Republik von Ossola.« Denn die Operation der deutschen Wehrmacht und italienischen Faschisten bewirkte nur für wenige Wochen eine Zerstreuung der überlebenden Partisanen, kurz darauf waren sie wieder da und befreiten die tief unten im Tal gelegene Industriestadt Domo­dossola am Ausgang des Simplontunnels.
Diese Phase des Befreiungskampfs wird in dem Roman »Die unsichtbaren Dörfer« von Gino Vermicelli eindrücklich beschrieben. 40 Tage lang entwickelte sich hier das erste demokratische Gemeinwesen in Italien nach über 20 Jahren Faschismus, dann mussten sich die Partisanen vor den überlegenen Verbänden der deutschen Wehrmacht in die Schweiz zurückziehen.
Doch der Agrarökonom Thelesklaf beschreibt in seinen Wandervorschlägen auch, wie im Val Grande der Marmor für den Mailänder Dom ge­wonnen wurde, das Leben auf den Almen, die Holzwirtschaft und wie das Schmuggelgeschäft mit der nahe gelegenen Schweiz vielen ein Auskommen sicherte.
Trotzdem kämpft der Autor mit dem Problem aller in derselben Buch­reihe erschienenen Wanderführer: Auch er muss das vom Dasein in den Bergen Wahr­genommene in appetitliche Häppchen zerlegen, um es überhaupt beschreibbar zu machen. Und im Val Grande fehlen besonders alle spektakulären Gipfel und sonstigen auf einen vermarktbaren Punkt reduzierbaren Sehenswürdig­keiten. Hier gibt es keine Gipfelstürmerei mit abschließendem Eintrag ins Gipfelbuch. Wie soll man all die Kleinode, etwa versteckte Badestellen in den Wildbächen, zwischen zwei Buchdeckel pressen? Mann muss sie schon selbst entdecken.
Dafür hat die Verwaltung des Nationalparks in den vergangenen Jahren auf elf verfallenen Almen Selbstversorger-Hütten instandgesetzt. Am Rand des Gebiets gibt es auch zwei bewirtschaftete Schutzhütten. Zwischen diesen Hütten verläuft nun das Netz der Wege. Und bei aller Aben­teuerromantik sollte man den dezenten Hinweis auf die vielen Vipern und etlichen Unfälle mit Todesfolge auf dem Schluchtweg durch das Kern­gebiet nicht unerwähnt lassen.
Das Val Grande gehört zu einer ganzen Reihe von Gebieten in den italienischen Alpen, die nach einer einst intensiven Besiedlung immer mehr Bevölkerung verlieren. »Ungefähr 60 Prozent der Bewohner verließen seit 1980 die kleinen Bergdörfer für immer«, schreibt die Zeitung La Repubblica.
Inzwischen sind viele Dörfer in den Talenden nur noch im Sommer bewohnt. Doch ebenso durchzieht diese Gebiete ein Netz von Wanderwegen, mit deren Hilfe Ökologen und staatliche Stellen versuchen, die völlige Verwilderung aufzuhalten. Etwa 1 200 Höhenmeter über dem Westufer des Comer Sees verläuft die »Via dei Monti Lariani« durch eine ähnliche Wildnis. Pro Woche begegnet sich hier vielleicht ein Dutzend Wanderer, während sich in den österrei­chischen Alpen die deutschen Wanderkolonnen den Berg hinaufquälen. In den Bergamasker Alpen kann man unter der Woche selbst im Hoch­sommer der einzige Gast in einem rifugio sein. Und wer auf den Geschmack gekommen ist, kann sich dann auf den etwas bekannteren Fernwanderweg grande traversata delle alpi (GTA) begeben, auf dem man sich in etwa 50 Tagesetappen von Domodossola durch den ganzen Westbogen der italienischen Alpen auf das Mittelmeer bei Nizza zubewegt.

Bernhard Herold Thelesklaf: Nationalpark Val Grande. Rotpunkt-Verlag, Zürich 2008, 296 Seiten, 26 Euro