Hungersnöte im Sozialismus

Der Hunger ist politisch

Warum mussten die Menschen im Sozia­lis­mus hungern? Wie kam es zu den Hun­gers­nöten unter dem Staatssozialismus? Zur Beziehung zwischen Staat und Bauern im maoistischen China und der Sowjet­union.

Alle Revolutionen sind auch deshalb gescheitert, weil sie unfähig waren, in Zeiten des Umbruchs die Versorgung der Bevölkerung zu organisieren. Diese These stellte der russische Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin in seiner Schrift »Die Eroberung des Brotes« 1892 auf. Dabei dachte er sowohl an die Herrschaft der Jakobiner während der französischen Revolution als auch an die Pariser Kommune von 1871. Kropotkin schlug des­halb vor, die Revolutionäre müssten in Zukunft sofort zur Verteilung der Lebensmittel schreiten und in den Vororten der Städte moderne Agrarbetriebe schaffen, um das Überleben der Revolution nicht von der Versorgung durch die Bauern abhängig zu machen.
Kropotkins Sorgen, dass radikale Umwälzungen sozialer Verhältnisse die Versorgungslage gefährden können, erwies sich im weiteren Verlauf der Geschichte als nur allzu berechtigt. Die kommunistische Bewegung war mit dem Versprechen an­getreten, Hunger ein für alle Mal zu beseitigen. Trotzdem ereigneten sich unter dem Staatssozialismus mehrfach Hungersnöte mit Millionen Toten: In Russland während des Bürgerkriegs 1919-1921, in der Sowjetunion im Zuge der Kollektivierung 1931-1933 sowie 1947, in China während des »Großen Sprungs nach vorne« 1959-1961 sowie in Nordkorea in den neunziger Jahren.
Die Frage, warum es zu diesen Hungersnöten kam, bleibt weiterhin offen.

Als nach der Oktoberrevolution von 1917 der Bür­gerkrieg ausbrach, errichteten die Bolschewiki eine »Ernährungsdiktatur«, um den Zusammenbruch der Städte, sprich ihrer proletarischen Basis, und der Roten Armee zu verhindern. Lenin zufolge blieb der Regierung nichts anderes übrig, als von den Bauern »mehr als den Überschuss« ohne tat­sächliche Gegenleistungen zu beschlagnahmen, um die Armee zu versorgen. Die Bauern, die gera­de von der Bodenreform profitiert hatten, hielten still, bis die weiße Konterrevolution geschlagen war. Dann brachen 1920/21 die »grünen« Bauern­aufstände und Partisanenbewegungen gegen die Bolschewiki los. Schließlich rebellierten in Kronstadt auch Angehörige der Ar­mee und der Arbeiter­klasse gegen die »Ernährungsdiktatur«.
In Russland und China nahmen die Revolutionen sehr unterschiedliche Formen an. Der Bolsche­wismus war überwiegend ein urbanes Phäno­men, während die KPCh mit Hilfe der Bauern 1949 an die Macht kam. Obwohl die chinesischen Kommunisten bereits vor 1949 20 Jahre Erfahrung mit den Bauern in den roten Stützpunkt-Gebieten sammeln konnten, setzten sie nach der Machtübernahme ähnliche Prioritäten wie die sowjetischen Genossen. Der Aufbau der Schwerindustrie wurde mittels niedriger Getreidepreise, sprich der Ausbeutung der Bauern, finanziert.
Während der Hungersnöte (Sowjetunion 1931-1933 und China 1959-1961) entschieden sich beide Regierungen, die Städte, die Armee, die In­tel­lek­­tuellen und die Kernbelegschaften der Industriebetriebe zu schützen, während das Massen­ster­ben überwiegend auf den Dörfern stattfand. In der Sowjetunion wurde 1932, in China 1958 ein internes Pass-System eingeführt, um eine Massen­migration von Bauern in die Städte zu verhin­dern. Trotz dieser Maßnahme wuchsen die Städte wäh­rend der Hungersnöte in China in historischer Re­kord­zeit.
In der Sowjetunion starben nach neueren wissenschaftlichen Schätzungen sechs bis acht Millionen, in China 15 bis 45 Millionen Menschen. Der Staat war in der Lage, von den Dörfern Ressourcen abzuziehen, obwohl die Dorfbevölkerung zu wenig zum Überleben hatte. Vor allem in China verfügte die Landbevölkerung nicht über einen hohen Viehbestand, der sie über Krisenzeiten hätte retten können. In der Sowjetunion verschwand in den Hungerjahren die größte Kamelpopulation der Welt in den Mägen hungriger Sowjetbürger.
Trotz des Massensterbens exportierten die Regierungen Getreide ins Ausland und lehnten internationale Hilfslieferungen ab. Da der Import von Industriegütern durch den Getreideexport fi­nanziert wurde, hätte ein Stopp des Exports das Industrialisierungstempo gedrosselt. Den rapiden Aufbau der Schwerindustrie sahen sowohl Stalin als auch Mao Zedong als Vorausset­zung an, um gegen den »Imperialismus« bestehen zu können.

Die Hungersnöte wurden nicht nur durch die Skru­pellosigkeit der jeweiligen Kommunistischen Partei verursacht, die »Opfer« für die Industrialisierung als notwendig ansah. In der Sowjetunion und China wurde bereits in der Zeit vor den Hungersnöten das Thema Hunger stark politisiert. Lenin beschuldigte während des Bürgerkriegs die reichen Bauern, Getreidevorräte zurückzuhalten, um die Preise in die Höhe zu treiben. In Russland sei in Wirklichkeit genug Getreide vorhanden, lautete das Argument. Stalin begründete 1928 die Notwendigkeit der Kollektivierung der Landwirtschaft unter anderem damit, den »Kornstreik« der Kulaken brechen zu müssen. Auch in China griff die Parteipresse 1957 am Vorabend des »Gro­ßen Sprungs« Bauern an, die Hunger vortäuschen wür­den, um den staatlichen Getreideaufkauf zu sabotieren und Hilfslieferungen zu erpressen. Wer sich mit den Rationen nicht zufrieden gebe, habe mangelndes politisches Bewusstsein, so die Botschaft der Volkszeitung. Anfangs war der Vorwurf des vorgetäuschten Hungers nur gegen die reichen Bauern gerichtet. Im Zuge der Kampagne wurde die Aussage »Ich habe Hunger« generell po­litisch tabuisiert.
Da eine direkte Kritik der kollektiven Landwirtschaft nicht möglich war, stellte das Klagen über Hunger lange eine der wenigen effektiven Metho­den dar, den Staat unter Druck zu setzen. In beiden Ländern gab es eine lange Tradition, die besagte, dass der Herrscher in Krisenzeiten die Untertanen unterstützen muss. Bauern versuchten daher, vor allem nach der Kollektivierung, Produktionsstatistiken nach unten zu manipulieren oder den von Naturkatastrophen verursachten Schaden zu übertreiben, um mehr Getrei­de in den Dörfern behalten zu können. Wenn die lokalen Kader mit den Bauern gemeinsame Sache machten, war es nahezu unmöglich für den Staat, die Lage richtig einzuschätzen. Der Staat versuchte, sich zu helfen, indem er die Produktionsmenge höher einschätzte, um die Unterschla­gungen auszugleichen. Unzuverlässige Statistiken machten eine wissenschaftliche Planung häu­fig unmöglich. Zu hohe Abgabequoten konnten in beiden Ländern schnell Hunger verursachen. Als die ersten Nachrichten über die Hungersnöte eintrafen, waren sich die Parteiführungen nicht sicher, ob sie ihnen Glauben schenken sollten.
Erst als das Ausmaß der Katastrophe zur Be­dro­hung für das System wurde, folgten Maßnahmen, welche die Hungersnöte beendeten. Die Kommunistischen Parteien wurden 1934 in der So­wjetunion und 1961/62 in China gezwungen, Pri­vat­parzellen und Bauernmärkte wiederzuzulassen sowie die Abgabequoten zu senken. Im Prinzip wurden der Schwarzmarkt und die anfangs illegale Kleinproduktion der Bauern von oben legalisiert und zur neuen Politik erklärt. Der Kolchos in der Sowjetunion nach 1932/33 und die Volkskommune in China nach 1962 zeichneten sich durch hybride Eigentumsformen aus. Um die Städ­te trotzdem weiter ernähren zu können, importierte China nach 1962 Getreide und die Regierung schickte 1962/63 15 Millionen Stadt­bewohner auf das Land. Damit verschwanden diese Menschen von den staatlichen Gehaltslisten.

Beide großen Hungersnöte standen im Zu­sam­men­hang mit einer radikalen Umwälzung der Eigentumsverhältnisse auf dem Land. Die Kollek­tivierung der Landwirtschaft in der Sowjet­union nach 1929 und die Einführung der Volkskommune in China 1958 verstärkten den staatlichen Zugriff auf das bäuerliche Mehrprodukt. In der radi­kalen Anfangsphase der Kollektivierung verloren die Bauern ihre Subsistenzgrundlage und wurden von der staatlichen Zuteilung abhängig. Die Kollektivierung hatte aber auch aus der heterogenen Bauernschaft eine homogene Masse gemacht, von deren Arbeitsleistung der Staat nun abhängig war. Endlose Klagen über Bummelei und Schlendrian in den Kollektiven konnte man in der offiziellen Presse beider Länder lesen. Diebstahl von kollektivem Eigentum, vor allem von Getreide, war eine notwendige Überlebensstrategie. Das so­wjetische Gesetz von 1932, nach dem Diebe von sozialistischem Eigentum auf der Stelle erschossen werden konnten, zeigte wenig Wirkung. In China gingen Bauern sogar nachts auf die Felder und aßen unreifes Getreide, bevor der Staat sich die Ernte aneignen konnte.
Allerdings standen nicht alle Hungersnöte im Zusammenhang mit radikalen sozialen Umwälzungen. Schon während des Zweiten Weltkriegs hatten die Bauern in der Sowjetunion Schwarzmärkte und Kleinproduktion ausgedehnt. Dies wur­de von der Regierung geduldet, da die staatlichen Rationen nicht zum Überleben ausreichten. Die Arbeiter konnten sich so zusätzlich auf den Bauernmärkten versorgen. Während der Hungers­not in der Sowjetunion 1947/48, bei der nach vorsichtigen Schätzungen eine Million Menschen starben, schaffte die Regierung für Millionen von Arbeitern die Rationierung schließlich ganz ab. In dieser Krise exportierte die sowjetische Regierung Getreide nach Frankreich und Deutsch­land, um dort ihren politischen Einfluss zu sichern.
Die Einführung von Marktmechanismen und gemischten Eigentumsformen in das planwirtschaftliche System waren in Russland 1921 und 1934, in China 1962 als Antwort der Regierung auf die Hungersnöte zu betrachten. Dieser Kompromiss mit den Bauern wurde über Jahrzehnte nicht in Frage gestellt, da die Regierungen einen vollständigen Zusammenbruch der Versorgung fürchteten. Der Weg zu einer weiteren Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in Richtung Kommunismus und der Abschaffung der Warenproduktion war damit abgeschnitten.