Der neue Film von Woody Allen

Die wichtigen Fragen des Lebens

Mit »Vicky Cristina Barcelona« inszeniert Woody Allen seinen perfekten Film.

Blond oder dunkel, verliebt oder verlobt, den schönen Mann oder den mit dem Haus: In Woody Allens Film »Vicky Cristina Barcelona« pral­len die elementaren Gegensätze aufeinander, mit denen das Kino seit über 100 Jahren die Menschheit traktiert.
Die Welt an sich ist genug. Meistens aber ist sie nie genug okay, so könnte man dieses Prinzip von Woody Allens neuem Film »Vicky Cristina Barcelona« formulieren. Zumindest stimmt das für die mehr oder weniger auf Vernunft getrimmte Vicky (Rebecca Hall). Schnell nochmal mit der besten Freundin Urlaub machen, dann wird geheiratet, Kind, Reihenhaus mit Garten, abgesicherte Zukunft. »Ich habe mir das genau überlegt«, sagt sie. Ich werde mir die Welt aneignen, denkt sie, aber nicht so viel davon, dass es nicht mehr meine Kragenweite ist.
Damit der Zuschauer versteht, warum diese Denkweise ebenso viele Probleme generiert, wie zum Beispiel im Winter nackt auf der Autobahn zu tanzen, stellt Allen seiner beherrschten Protagonistin in seiner dritten in Europa spielenden Komödie – diesmal: in Spanien – das Prinzip Anarchie in Form seiner Lieblingsschauspielerin Scarlett Johansson an die Seite.
Die sagt als Cristina Sätze wie: »Ich bin ja mehr so der lockere Typ, ich will viel ausprobieren« oder »Mir kommt es darauf an, viele Erfahrungen zu sammeln«. Allen überzeichnet seine Figuren oft genug mit solchen Selbstaussagen. Funktioniert der Titel des Films nicht auch so? Hier bin ich, jetzt macht was mit mir – mit solchen Ankündigungen stellen sie sich ins Zimmer. Das ist so präzise aneinander vorbeigespielt, dass die Geschichte auch ganz ohne Dialoge funk­tionieren würde. Blick und Ausdruck der Darsteller generieren den Plot. Es handelt sich gewissermaßen um einen Stummfilm mit Tonspur.
Und der sieht so aus: Damit die beiden jungen New Yorker Frauen nun ihre Lebenseinstellungen überprüfen können, tritt ganz klischeehaft der überaus erfolgreiche spanische Maler Juan Antonio (Jarvier Bardem) in beider Leben und stülpt das Unterste zuoberst und vice versa. Ganz Woody-Allen-like ist Juan mit einer schweren Vergangenheit belastet. Seine Ehe mit der mehr als explosiven Maria (Penelope Cruz) ist getrost als mehrfach gescheitert zu betrachten. Egal was passiert, die Frau hat schneller die Knarre in der Hand, als die Probleme auftreten können.
Und es ist für die psychotisch explodierende Maria ein ganz großes Problem, dass sich Juan nun mit zwei amerikanischen Touristinnen gleichzeitig einlässt. »Wir haben es nicht herausgefunden«, sagt Juan einmal auf die Frage, wieso die Ehe mit Maria nicht funktionierte. Nun, kein Wunder. Da hätte nur eine Balance of Power geholfen: gleiche Anzahl strategischer Atomwaffen bei massiver Abgrenzung durch Stacheldraht und Berliner Mauer. Wenigstens waren die beiden so klug, sich nach der gescheiterten Ehe für eine Liebesbeziehung zu entscheiden.
Anhand dieses Beziehungsgeflechts nimmt sich Allen die Grundlagen menschlichen Handelns vor, er tut es, indem er seine Charaktere nach und nach entwickelt: Cristina kann tatsächlich mehr als knutschen. Maria hat viele künstlerische Talente und den Maler Juan Antonio sowieso erst erfunden – die vollständige Umkehrung des Prinzips Muse: Juan hat seine Frau einfach nur kopiert. Und in ihr selbst ist die dunkle Seite der Macht stärker, als die spießige Vicky zugeben kann. Es ist genau umgekehrt wie in Allens Film »Harry außer sich«. Dort lässt er den Schauspieler Robin Williams per Trick unscharf durch den Film laufen. Hier ist es, als würden die Figuren sukzessive scharf gestellt.
Nun, um welche Grundlagen geht es? Kaum geht man essen, spazieren oder mit anderen Leuten ins Bett, schon stehen sie vor, über und neben einem: die Gefühle. Sie steuern alles. Damit dieser Umstand auch dramatisch genug erscheint, hat Allen seine beiden Hauptfiguren in einem besonders kritischen Alterszustand abgepasst: Vicky und Cristina sind Mitte zwanzig; eine der vielen kritischen Zeiten im Leben, da muss man sich entscheiden, wo der Rest hingeht. Ihre Gefühlslage sieht so aus: Für Vicky ist die Europa-Reise noch mal der letzte Ausflug vor der Ehe. Romantik, Liebe usw. steht für sie praktischerweise im Kunstmuseum he­rum.
Cristina hingegen hat das Chaos gepachtet. Die Beziehung ist gerade beendet, mit der Kurzfilm-Regie-Karriere ist es noch nichts geworden. Und jetzt? Wofür wird sie sich entscheiden? Für’s Treibenlassen? Ja, warum nicht. So hat das Drehbuch entschieden. Wenn man von Scarlett Johansson gespielt wird, kann man das Leben auch mal getrost auf sich zukommen lassen.
Und es kommt denn auch. Als Vicky und Cristina beim Abendessen von Juan Antonio mit der Ansage überfallen werden, sie im Privatjet ins heimische Oviedo zu fliegen, um das Wochen­ende mit Sightseeing, Alkohol und Schmusen zu dritt zu verbringen, ist Cristina Feuer und Flamme. Vicky dann doch nicht so. Der Trip findet dennoch statt, und alles läuft so, wonach es aussieht. Bis der Magenvirus Cristina schachmatt setzt.
Vicky springt ein, lässt sich von Juan die Stadt zeigen, den Vater, der Gedichte schreibt, die er nie veröffentlicht, weil der Welt damit nicht geholfen wäre. Juan erzählt von seiner selbst­schädigenden Ehe mit Maria, die in einem Mordanschlag endete.
Auf die Tour entstehen voreheliche Kinder. Man kann es Vicky nicht verdenken: Sie verknallt sich unsterblich und stürzt in Zweifel. Vielleicht ist die Aussicht auf die Ehe doch nicht so schön. Cristina, wieder genesen, holt derweil auf und beginnt eine neue Beziehung: mit Juan und Maria. Die beiden freuen sich. Auf einmal verstehen sie sich, es hat eben jemand drittes gefehlt. So wie sich andere Leute ein Haustier anschaffen, weil es gut fürs Gemüt ist, leben Künstler und Künstlerin nun zufrieden – jenseits von Selbstmordversuchen und Krawallattacken. Wenn der Frieden auch nicht auf Dauer ist. Zumal Vicky in der Tür steht.
Wie entscheidet man sich in wichtigen Fragen des Lebens? Der Regisseur zum Beispiel hat sich von der Frau getrennt, um mit der Stieftochter zusammenzuleben. Seiner Filmkunst scheint dies nicht geschadet zu haben, sie erlebt einen Relaunch nach dem anderen. Von der Klasse her könnte man dies vielleicht mit dem Spätwerk von Johnny Cash vergleichen. Jedenfalls setzt Allen auch mit seinem dritten Film mit der äußerst komödientauglichen Hauptdarstellerin Scarlett Johansson wiederum Eckpunkte für das Kino straight edge. So könnte man einen Film bezeichnen, der allein aus seiner Drehbuchvorlage lebt. Das Ziel: das befreite Lachen, das Flüchtige; es ist eine politische Kategorie, weil es nicht zu verwalten ist.
Und dennoch scheint es nicht allein darum zu gehen, nur auf dem Sektor Komödie gut zu sein: Allens späte Filme funktionieren mehr als schillernde Seifenblasen. Sie nehmen ein, zwei Anläufe, um sich schwerelos davonzuschwingen. Allen versteht es in »Vicky Cristina Barcelona«, beinahe gänzlich unironisch, das Leben in Beziehungsdramen zu fokussieren und von dort aus zu erklären. Die besondere Weisheit seiner Filme liegt genau hier, wo sie ihren Humor herhaben: Menschen leben in Beziehungen und erfahren von dort aus die Welt. Und den Humor als Droge dermaßen komplex, feinsinnig und rein auf der Leinwand zu erleben – diesen Luxus sollte man sich selbst in der Rezession erlauben.

»Vicky Cristina Barcelona« (USA 2008). Regie: Woody ­Allen, D: Javier Bardem, Penelope Cruz, Rebecca Hall, Scarlett Johansson. Start: 4. Dezember