Religion als Schulfach in Berlin?

Wider die Erziehungsdiktatur

Höllische direkte Demokratie: Der Berliner Verein Pro Reli, hinter dem die großen Kirchen stehen, will Religion als ordentliches Schulfach einführen und sammelt Unterschriften für einen Volksentscheid.

»Wir sind der Tempel Gottes«, sagt die stellver­tre­tende Bundesvorsitzende der SPD, Andrea Nah­les, andächtig in einer Berliner Kirche. Sie spricht sich klar für Religion als ordentliches Lehrfach aus. »Wahlfreiheit heißt für mich auch, Ort und Raum zu schaffen für eine echte Wahl, um Mensch zu werden.« 60 solcher und ähnlicher Videostate­ments gibt es mittlerweile auf ­einem eigenen Youtube-Channel, der Verband katholischer Unternehmer organisiert Fund­raising-Dinner, Unter­schrif­ten werden in Kirchen­gemeinden oder vor Moscheen gesammelt. Der Berliner Bischof Wolfgang Huber ließ sogar im derzeit freiwilligen Religionsunterricht Briefe an die Eltern verteilen, in denen für den Verein Pro Reli geworben wird.
Hinter der Initiative stehen unter anderem die katholische und die evangelische Kirche Berlin, die jüdische Gemeinde, die Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religionen sowie die Landes­verbände der CDU und der FDP. Auch Pro­minen­te unterstützen die Initiative, darunter Desirée Nick, Tita von Hardenberg und Arne Fried­rich. Der Verein will durch einen Volksentscheid die Änderung des Schulgesetzes erreichen, nach der es dann ein »Wahlpflichtfach Ethik/Religion« ab der ersten Klasse geben würde. Das ist für Pro Reli »eine freie Wahl zwischen gleichwertigen Alternativen«. Damit es zum Volksentscheid kommt, braucht der Verein bis 21. Januar 2009 mindestens 170 000 Unterschriften. Beim eigentlichen Entscheid im Juni müssten dann 600 000 für die Gesetzesänderung stimmen, was für den Senat bindend wäre.

Wählen können die Schüler schon heute, zumindest ob sie Religionsunterricht wollen oder nicht, und das von der ersten Klasse an. Seit 1948 ist Religion an Berliner Schulen ein freiwilliges Angebot der jeweiligen Religionsgemeinden. Im Jahr 2006 führte der rot-rote Senat den umstrittenen Ethikunterricht als Pflichtfach ein. Seitdem steht das Fach für die Siebt- bis Zehnt­klässler auf dem Stundenplan, auch wenn sie freiwillig Religion belegen. Eigentlich ein zeitgemäßes Kon­zept, möchte man meinen, zumal 60 Prozent der Berliner nach Angaben des Senats »konfessionell nicht gebunden« sind. Das merkt man auch in der Schule: In der Sekundarstufe 1 nimmt nur etwas mehr als ein Viertel der Jugend­lichen am Religionsunterricht teil. In der Grundschule, in der es keinen Ethikunterricht gibt, besuchen knapp 80 Prozent der Schüler einen Religions- und Weltanschauungsunterricht.
Alle »Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften« können nach genehmigtem Antrag Re­ligion an Berliner Schulen unterrichten. Sie schi­cken ihre eigenen Lehrer in den Unterricht, das Land übernimmt bis 90 Prozent der Personalkosten. Derzeit gibt es nicht nur evangelischen und katholischen Religionsunterricht, auch die jüdische Gemeinde, der Humanistische Verband, die Buddhistische Gesellschaft Berlin, die Islamische Föderation Berlin, das Kulturzentrum der anatolischen Aleviten und die Christengemeinschaft (nach ihrer Selbstdarstellung »die einzige christliche Gemeinschaft, die die Anthroposophie Rudolf Steiners anerkennt«) zeigen dem Nach­wuchs den rechten Pfad. Diese Regelung müsste eigentlich auch Pro Reli zufrieden stellen, denn Unterstützer wie der Bundestagsabgeordnete Hermann Gröhe (CDU) halten es für wichtig, dass Religion von »überzeugten« Menschen unterrichtet wird und »nicht als abstrakte Kunde, wo sozusagen ein ganzer Warenhauskatalog mög­licher weltanschaulicher Überzeugungen vorgestellt wird«.
Zufrieden ist Pro Reli aber ganz und gar nicht: Dass Lehrer im Fach Ethik gleichzeitig Werte vermitteln und weltanschaulich neutral sein sollen, ist für den Verein ein unauflösbares Dilemma. Ethik schere »alle Menschen unterschiedslos über einen Kamm«, was gerade in einer »mul­ti­kulturellen Stadt wie Berlin« fatal sei. Der ehemalige Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) befürchtet »reine Manipulation durch vorgegebene politische Auffassungen«, die zu einem »beliebigen Nebeneinander« führt. »Ich habe Sorge, dass die Tendenzen in unserer Gesellschaft hin zu einer Erziehungsdiktatur sich auch im Ethikunterricht widerspiegeln«, sagt er in einem der Video­statements.
Außerdem fürchtet Pro Reli den immer weiter fortschreitenden Werteverfall, den der Religionsunterricht am besten aufhalten könne. Denn falsche Moral könnte Deutschland ganz schnell wieder in den Abgrund stürzen, wie Pro Reli his­torisch akkurat argumentiert: »Moralisch begrün­detes Verhalten ist wichtig, nicht nur für den ein­zelnen, auch für die Gesellschaft insgesamt. Wir bewundern zu Recht diejenigen Menschen, die aufgrund ihrer tiefsten Überzeugungen und Wert­vorstellungen den beiden Diktaturen auf deutschem Boden entschiedenen Widerstand geleistet haben – zum Teil bis in den Tod. Andererseits haben wir auch in der jüngsten Vergangenheit immer wieder erschreckende Beispiele dafür erlebt, wozu fehlgeleitete Moralvorstellungen auch führen können.«

Allerdings finden auch viele, dass Ethikunterricht eine prima Sache ist. So gründeten Gewerkschafter, Mitglieder der SPD und der Partei »Die Linke« sowie Angehörige von humanistischen Ver­bän­den die Initiative »Pro Ethik«. Sie betonen, dass das Erlernen von gegenseitigem Verständnis, Toleranz und Respekt nur im gemeinsamen Unter­richt möglich sei. Auch der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) ist der Initiative beigetreten. Geschäftsführer Alexander Zinn begrüßt es, dass der Ethikunterricht verbind­lich für alle ist, »vor allem weil im Ethikunterricht bestimmte Formen des Respekts voreinander, der Toleranz gegenüber Minderheiten eingeübt werden«. Man habe Angst davor, wenn zum Beispiel viele muslimische Schüler, die sich für den Religionsunterricht entscheiden, Ethik nicht mehr auf dem Stundenplan hätten. Schließlich sei die konservative islamische Födera­tion, der Verbindungen zur islamistischen Orga­nisation Milli Görüs nachgesagt werden, verantwortlich für den Islamunterricht. »Dort werden Inhalte transportiert, die nicht besonders freund­lich gegenüber Homosexuellen sind.«
Seit Ende September sammeln die Unterstützer Unterschriften in göttlicher Mission. Rund 70 000 seien bisher zusammengekommen, sagt der Vorsitzende von Pro Reli, Christoph Lehmann. Der Landesabstimmungsleiter teilte allerdings eine weitaus niedrigere Zahl mit: Gut 30 000 gültige Unterschriften lägen bislang bei den Bezirkswahl­ämtern. Pro Reli kritisierte die Bekanntgabe der Zahlen als »irreführend«. Die Initiative beklagt au­ßerdem »massive Behinderungen« seitens der Verwaltung. So seien zahlreiche Anträge auf Stän­de zur Unterschriftensammlung seit »vielen Wochen« nicht genehmigt worden. Und dann hätten auch noch die Staatsdiener gestreikt, so dass »unterschriftswillige Bürger teilweise mehr als 20 Minuten anstehen mussten«.
Und selbst wenn alles nicht klappt, leer gehen zumindest die katholische und evangelische Kirche nicht aus. Obwohl die Unterstützer stets die gleiche Behandlung der Religionen betonen, ist es irgendwann auch mit der größten christlichen Nächstenliebe vorbei. Sollte bei der Auflösung des Vereins noch Geld übrig sein, wird es brü­derlich geteilt, »satzungsgemäß zu gleichen Teilen« zwischen »den beiden großen Kirchen«.