Wie sich die europäischen Sozialdemokraten in die Krise regierten

Der kurze Sommer der Sozialdemokratie

Das kurze Aufleben der Sozialdemokratie in den neunziger Jahren nutzten die roten Parteien europaweit dazu, sich selbst in die Krise zu regieren.

Den meisten Zeitungen war es nur noch eine Randmeldung wert, dabei war es ein geradezu epochales Ereignis: Seit diesem Sommer ist die SPD nicht mehr die mitgliederstärkste Partei in der Bundesrepublik – und das, obwohl auch die nun vor ihr liegende CDU schrumpft. Mit derzeit einer halben Million Mitglieder hat sich die deutsche Sozialdemokratie in den vergangenen 30 Jah­ren halbiert, da hilft auch keine Image­kam­pagne mit Konsumgutscheinen.

Doch nicht allein die Zahlen haben sich geändert, sondern auch die Zusammensetzung der Partei. Lange Zeit stellten die Arbeiter die Mehrheit in der SPD. Der prozentuale Anteil entsprach in etwa ihrer gesellschaftlichen Präsenz. Heutzutage umfasst der Arbeiteranteil an der Gesamtgesellschaft rund 30 Prozent, der in der SPD jedoch nur noch rund zehn Prozent. Dazu kommt, dass die traditionell enge Bindung mit den Gewerkschaften ero­diert ist, nur noch 20 Prozent der Neumitglieder sind gewerkschaftlich organisiert. Im Bundestag ist der Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern unter den Parlamentariern der SPD von über 90 Prozent vor 1990 auf knapp 60 Prozent zurückgegangen. Mit Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der IG Bau, verließ 2005 der letzte Chef einer Gewerkschaft des DGB die SPD-Fraktion im Bundestag. Obwohl die Linkspartei nur ein Viertel der Abgeordneten der SPD stellt, hat sie genau so viele frühere Gewerkschaftssekretäre in ihren Reihen.
Der Soziologe Oliver Nachtwey beschreibt, wie sich die Partei von den Milieus der Arbeiterbewegung, den kommunalen und sozialen Ini­tiativen wegbewegt hat. In der SPD habe sich eine Eliteschicht entwickelt, die mit den staatlichen Institu­tionen fest verwachsen ist. Sie bezögen Ein­kommen, Prestige und Karrierechancen aus ihrer Arbeit in der Geschäftsführung des Staats. Alle bis­herigen Krisen hätten die Sozialdemokraten durch­stehen können, weil sie sich immer wieder auf die Tradition, die Wurzeln und auch auf die gemeinsame Vision einer besseren Zukunft besin­nen konnten. »Aber diese Vision gibt es nicht mehr, und das, was von ihr übrig bleibt, hält der realen Regierungspolitik nicht stand«, schreibt Nachtwey.

Das Problem der Sozialdemokraten ist kein rein deutsches Phänomen. Europaweit stecken sie in einer Krise, die wesentlich existenzieller zu sein scheint als jene Ende der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre, die Ralf Dahrendorf vor 25 Jahren dazu verleitete, etwas voreilig das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters auszurufen.
In der langen Geschichte der Sozialdemokratie war die Diskrepanz zwischen programmatisch formulierten Ansprüchen und wirklichem Tun – nicht nur in der Bundesrepublik – immer schon riesengroß. Nichts drückt das besser aus als jene Zielprojektion des »Demokratischen Sozialismus«, die die SPD bis zu dem im vergangenen Jahr verabschiedete Hamburger Programm als Phrase mit sich herumschleppt.

Doch im Laufe der Jahre haben die Sozialdemokraten eine entscheidende Wende vollzogen. Früher konnten die Genossen für sich in Anspruch nehmen, zumindest irgendwie auf dem richtigen Weg zu sein. Als Club der Kümmerer bemühten sie sich wenigstens redlich reformistisch um die in der »Internationalen« besungenen »Verdammten dieser Erde«. So verbesserte die sozial­liberale Koalition Ende der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre die Lebensbedingungen vieler Arbeiter, ermöglichte einigen von ihnen den sozialen Aufstieg und öffnete nicht zuletzt ihren Kindern die Hochschulen. Die bundesdeutsche Klassengesellschaft wurde etwas durchlässiger. Vor allem jedoch galt die SPD als der Garant des Vermögens der kleinen Leute, der sozialen Sicherheit.
Genau dieses Pfund jedoch haben die Genossen europaweit verspielt, indem sie sich schrittweise in jene von Tony Blair euphemistisch als »Dritter Weg« bezeichnete ideologische Sackgasse begaben. Zug um Zug verinnerlichten sie das neoliberale Denken der Konservativen, erklärten es für alternativlos und setzten es gegen die eigenen Wahl­versprechen und alle Widerstände der eigenen Basis in Regierungspolitik um. »Es gibt keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, nur eine moderne oder unmoderne«, formulierte Gerhard Schröder den Glaubenssatz europäischer Spit­zen­genossen. Entsprechend deregulierten sozialdemokratische Regierungen die Finanzmärkte, privatisierten Bankensysteme, strategisch wich­tige Industrien und maßgebliche Teile des öffentlichen Sektors, senkten Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen, flexibilisierten die Arbeitsmärkte und betrieben einen aggressiven Sozial­abbau, wofür in der BRD die Chiffren Agenda 2010 und Hartz IV stehen.

Zwischen Merkel hier und Lafontaine dort, zwischen Aufsteigern auf der einen und Zurückge­las­senen auf der anderen Seite habe die SPD die Integration nicht mehr geschafft, schreibt der Göt­tinger Politikprofessor Franz Walter. Sie »realisiere nicht mehr das soziale Bündnis, weil sie selbst nicht mehr weiß, mit wem es wohin eigent­lich zu welchem Zweck gehen soll«. Eine Rückkehr zur »alten« SPD hält Walter für ausgeschlossen: »Für eine Kehrtwende hat sich die SPD so­zial, personell, programmatisch zu sehr und unter allzu großen Schmerzen verändert.«

Dabei schien Mitte der neunziger Jahre eine neue sozialdemokratische Ära in Europa angebrochen zu sein. 1993 kehrten die Pasok in Griechenland und die dänische Socialdemokraterne zurück an die Macht. 1994 übernahm Wim Kok von der Partij van de Arbeid (PvdA) in den Niederlanden den Ministerpräsidentenjob. In Schweden gelang Ingvar Carlsson von der Arbeiterpartei sein Come­back als Premierminister. 1995 schafften die SDP in Finnland und der Partido Socialista in Portugal die Rückkehr an die Regierung. Ein Jahr später gewann in Italien der von den Linksdemokraten dominierte Olivenbaum Massimo D’Ale­mas und Romano Prodis gegen Berlusconis Rechts­bünd­nis. 1997 übernahmen Tony Blair in Großbritannien und Lionel Jospin in Frankreich die Regierungsgeschäfte. Nach den düsteren Jahren Helmut Kohls folgte schließlich 1998 auch in der Bundesrepublik die rot-grüne Koalition.
Eine der wenigen Ausnahmen bildete Spanien. Nach 14 Jahren an der Regierung, schickten die Wähler den von unzähligen Skandalen erschütter­ten Psoe 1996 in die Opposition.
Völlig antizyklisch ist der mittlerweile von Rodríguez Zapatero angeführte und seit 2004 wieder regierende Psoe heute eine der letzten sozialdemokratischen Parteien, die überhaupt noch Wah­len gewinnen kann. In den 27 Staaten der EU stellen Mitgliedsorganisationen der Sozialdemokratischen Partei Europas heute außer in Spanien nur noch in Portugal und in Großbritannien Alleinregierungen.

Die Entwicklung der niederländischen PvdA erscheint wie eine Blaupause für den Verfall der SPD. Vier Jahre vor Rot-Grün in Berlin an die Regierung gekommen, wurde die PvdA 2002 abgewählt. Mit dem schlechtesten Wahlergebnis seit 1946 bekam die Partei damit die Quittung für ihre »entideologisierte« Regierungspolitik, mit der sie sich dem neoliberalen Zeitgeist angepasst und den niederländischen Sozialstaat demontiert hatte. Lehren aus dem Desaster zog sie jedoch keine. Unter der Führung des smarten Wouter Bos, einem ehemaligen Manager des Ölkonzerns ­Royal Dutch Shell, freut sie sich, seit dem vergan­genen Jahr wieder mitregieren zu dürfen – als kleiner Partner des Christdemokraten Jan Peter Balkenende.
Parallel zu ihrem Abstieg hat die PvdA mit der Socialistische Partij (SP) eine gefährliche Kon­kurrenz von links bekommen. Zu Beginn der sozialdemokratischen Regierungsphase 1994 mit 1,3 Prozent nicht mehr als eine unbedeutende Splittergruppe, ist die SP inzwischen die drittstärkste politische Kraft in den Niederlanden. Hatten die niederländischen Sozialdemokraten zu ihren Hochzeiten mehr als 140 000 Mitglieder, sind es jetzt nur noch etwa 62 000, gerade einmal 10 000 Mitglieder mehr als die SP. Die Wahlen 2006 machten die 1972 aus der maoistischen Bewegung entstandene Gruppierung um den charismatischen Linkspopulisten Jan Marijnissen mit 16,6 Prozent zum großen Wahl­sieger.

Es wäre indes ein grandioser Irrtum zu glauben, dass mit der sozialdemokratischen Krise a priori ein Aufschwung von Parteien verbunden wäre, die sich links der Sozialdemokratie verorten. Die neoliberalen und unsozialen Regierungen der sozialdemokratischen Parteien rissen auch all jene links von ihr positionierten Formationen mit, die sich als Mehrheitsbeschaffer instrumentalisieren ließen.
So verlor beispielsweise bei den spanischen Wahlen im März 2008 das sozialistische Parteien­bündnis Izquierda Unida (IU), dass die Zapatero-Regierung bis dahin tolerierte, mit nur noch etwas mehr als vier Prozent der Stimmen ihren Fraktionsstatus. Der italienische Partito della Rifonda­zione Comunista (PRC) musste ihre Unterstützung der Regierung Prodi mit seiner nationalen parlamentarischen Existenz bezahlen. Mit nur 3,1 Prozent bei den Abgeordnetenhauswahlen im April dieses Jahres scheiterte Rifondazione an der Sperrklausel.
Wachstumsperspektiven haben linkssozialistische Parteien oder Bündnisse offenkundig nur, wenn sie sich nicht einbinden lassen oder die an­deren sie nicht einbinden wollen, wie derzeit in der BRD und den Niederlanden.
Gleichwohl sind die deutschen und niederländischen Linken noch unerreichbar weit entfernt von zyprischen Verhältnissen. In dem der EU angehörenden griechischen Teil der Mittelmeer­insel konnte bei den Parlamentswahlen 2006 die kommunistische Fortschrittspartei des werktätigen Volkes (Akel) mit 31,1 Prozent der Stimmen ihre Position als stärkste Partei behaupten. Seit Frühjahr dieses Jahres stellt die Akel mit Dimitris Christofias sogar den direkt gewählten Präsidenten der Republik Zypern. Die sozialdemokratische Partei EDEK dümpelt hingegen bei 8,9 Prozent. Das zeigt, dass sich das desaströse Wahlergebnis der SPD von 9,8 Prozent in Sachsen 2004 durchaus unterbieten lässt. Es gibt also doch noch sozialdemokratische Perspektiven.