Langsame Städte

Die Entdeckung der Langsamkeit

Aus der in Italien entstandenen Slow-Food-Bewegung hat sich in den vergangenen Jah­ren ein neues Konzept entwickelt: die »lang­same Stadt«. Immer mehr Städte, vor allem in Europa, entdecken diesen neuen Trend für sich. Die Entdeckung der Lang­samkeit heißt dabei: Heimat, Werte und Tradition statt globalisierter Welt. Ein Beispiel aus der deutschen cittá slow Waldkirch, die bei Freiburg liegt.

Im August dieses Jahres feierten rund 50 000 Men­schen in San Francisco »Slow-Food Nation«, das größte Festival der internationalen Slow-Food-Bewegung in den USA. Überzeugte Feinde der Fast-Food-Kultur, selbsternannte Retter des guten Geschmacks, Bio-Bauern und umweltbewusste Weltbürger trafen sich, um die aus Italien stammende Slow-Food-Bewegung zu unterstützen, um zu lernen, was man mit Kartoffeln alles machen kann, um an Gurken zu riechen, Kürbisse zu berühren und gemeinsam zu essen.
Erst vor wenigen Jahren ins Leben gerufen, feiert die Slow-Food-Bewegung mittlerweile Triumphe. Dabei wird die bewusste Opposition zu Fast Food nicht nur mit »Esskultur« verbunden, sondern oft mit dem US-amerikanischen Lebens­stil assoziiert. Deshalb steht Slow Food mit seiner Glorifizierung regionaler Produkte für einen eu­ro­päischen Lebensstil, der mit Essen ein »Ge­schmacks­erlebnis« verbindet und nicht die schnel­le Beseitigung von Hunger.
Seit einigen Jahren hat sich aus der Slow-Food-Bewegung ein neuer Trend entwickelt: die »langsame Stadt«. Immer mehr kleinere Städte in ­Eu­ro­pa nennen sich cittá slow, eine Kombination aus dem Italienischen (città = Stadt) und dem Eng­lischen (slow = langsam). In den cittá slow sollen die »urbane Langsamkeit« und »eine bessere Lebensqualität« gefördert werden, dabei sind die »Wahrung und Stärkung einer Regionalkultur« die wichtigsten Ziele, wie man in der Selbstdarstellung der Vereinigung Cittaslow (internatio­naler Vereinigung lebenswerter Städte) erfährt, die 1999 im italienischen Orvieto gegründet wurde. Und in der Charta von Cittaslow wird erklärt: »Die Entwicklung der Städte und Gemeinden stützt sich unter anderem auf die Fähigkeit, eine eigene, typische Besonderheit entwickelt zu haben und diese zu vertreten, eine eigene Identität zu wahren, die auch nach außen hin erkennbar ist und im inneren Kern gelebt wird«.
Um ins Netzwerk der langsamen Städte aufgenommen zu werden, muss eine Stadt einer Prüfungskommission beweisen, dass sie beispiels­weise eine konsequente Umweltpolitik betreibt, die die Landschaft und das Stadtbild erhält, dass sie die lokalen Produkte und Produktionsweisen fördert und dass sie sich darum bemüht, den mo­torisierten Verkehr und Lärm zu vermindern. 2007 hatten bereits 90 Städte in mehreren europäischen Ländern für sich in Anspruch genommen, eine città slow zu sein.

Zur ersten deutschen »langsamen Stadt« wurde 2001 Hersbruck bei Nürnberg. Hier will man sich positiv auf seine Geschichte beziehen. Deshalb gibt es dort auch das Denkmal eines Italieners, der 1944 im Lager Hersbruck war, einer Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg. »Wer sich auf seine Geschichte beruft, muss auch ihre düsteren Seiten akzeptieren«, erklärte Hersbrucks Bürgermeister im August 2007 dem Wirtschaftsmagazin Brand eins. »Tradition, Heimat, Werte, das klingt muffig und reaktionär. Doch es kann auch ganz modern sein. Dann heißt es città­slow«, schrieb der Autor des Artikels, Gerhard Wald­herr.
Ähnlich unbefangen akzeptiert man die »düsteren Seiten« der Geschichte auch in einer anderen deutschen città slow, und zwar im südbadischen Waldkirch, 15 Kilometer von der Universitätsstadt Freiburg entfernt, idyllisch am Hausberg Kandel gelegen. »Wichtig ist doch: Wo komme ich her, was sind meine Wurzeln? Wenn ich das weiß, dann lerne ich meine Stadt, meine Hei­mat schätzen, dann ist der Mensch im Einklang«, wird Waldkirchs Bürgermeister Richard Leibinger im selben Artikel zitiert.
Tradition, Heimat, Werte – was heißt das? Was sind die »Wurzeln« in Waldkirch, einem wirk­lich schönen Städtchen mit etwas mehr als 20 000 Einwohnern, denen es mehrheitlich recht gut geht, denn in Baden-Württemberg und Bayern gibt der Arbeitsmarkt noch wesentlich mehr her als in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern.
Wer von Freiburg aus mit dem Auto in die Stadt fährt und nicht den Umgehungstunnel nimmt, der die Autofahrer weiter hinten im Tal wieder ausspuckt, entdeckt zu seiner Rechten auf einem Hügel das alles überragende »Heldenkreuz«. Man muss aber schon näher rangehen, um die Inschrift des riesigen Betonkreuzes zu erkennen. Und die lautet: »1914-1918 Unsern Helden 1945«. Gegenüber, auf der linken Seite des Tals, thront die Ruine einer Burg. Von hier aus fiel das Geschlecht der Ritter von Schwarzenburg einst über Durchreisende her. Es waren Raubritter, aber die Waldkircher haben sich das niedlich umgedeu­tet und kindgerecht aufgearbeitet. Ein Ritterpfad führt heute auf die Burg und soll den Kleinen »ritterliches Verhalten« nahe bringen. Darunter stellt man sich in Waldkirch aber etwas vor, was der historischen Wahrheit diametral entgegengesetzt ist.

Mit historischen Wahrheiten tut man sich auch ansonsten recht schwer in Waldkirch. Bisweilen stört der im Städtchen ansässige Militärhistoriker Dr. Wolfram Wette die Ruhe. Mit Studien über den »Hitler von Waldkirch« beispielsweise, den SS-Standartenführer Karl Jäger, der für die Ermor­dung von 138 272 litauischen Juden verantwort­lich war. Bisweilen ist es auch die Geschichts-AG am hiesigen Geschwister-Scholl-Gymnasium, die darauf hinwies, dass in Waldkirch noch am 10. und 11. April 1945 Deserteure hingerichtet wurden, dass es Zwangsarbeiterlager gab und dass im Rathaus noch heute Wandgemälde aus der Zeit des Nationalsozialismus prunken, die nach langen Diskussionen immerhin mit auf­klärenden Schildchen versehen worden sind. 1996, noch vor der Diskussion über die Bilder im Rathaus, hatte ein »Arbeitskreis Widerstand und Arbeitergeschichte«, bestehend aus vier jungen Leuten, das Buch »Widerstand und Verfolgung in Südbaden« vorgelegt.
Die Aufarbeitung der weniger schönen Seiten an der Heimat hat man in Waldkirch also Jugend­lichen überlassen. Die Erwachsenen pflegen derweil die Tradition, beispielsweise mit dem Waldkircher Karneval, der Fastnacht, die hier »Fasnet« genannt und vom Karnevalsverein Krakeelia organisiert wird, der auch eine Chronik ins Netz ge­stellt hat. Krakeelia wurde 1865 gegründet, erfahren wir da, und stieg 1882 mit einem »Großen Zigeuner Aruck« richtig ein, man organisierte einen Zigeunerzug und ein Zigeunerlager bzw. das, was man sich darunter vorstellte. Am Fastnachtsmontag 1890 dann »hielt seine Hoheit der Sultan von Dares-Salaam mit seinen vier Lieblingsweibern feierlichen Einzug«. Und 1897 durften die Waldkircher über das Thema »Afrika in Waldkirch« herzlich lachen: »Aus der Fülle des Gebotenen soll der Wagen mit dem Sultan von Großpopo, der, umgeben von einem gutausgestatteten Harem, huldvollst von seinem Throne die Gäste begrüßte, erwähnt werden.« Es gab eine »Kannibalenfamilie« und eine »Kolonialschule« mit einer siebten und achten »Neger­knabenklasse«. Doch vom Zigeunerthema kam Krakeelia nicht richtig los: 1925 gab es erneut ­einen großen Zigeunereinzug in Waldkirch.
Natürlich ist es nicht legitim, heutige Befindlichkeiten und politische Korrektheit auf das 19. und 20. Jahrhundert zu übertragen, dennoch hätte die Krakeelia das eine oder andere kritische Wort über diese kolonialen und postkolo­nialen Männerphantasien ins Netz stellen können. Etwas sei nicht deshalb automatisch gut, nur weil man es schon lange macht, hat Kurt Tucholsky einmal treffend bemerkt, denn man kann auch sehr lange etwas falsch machen. Und nicht einmal, dass man es schon sehr lange macht, stimmt in diesem Fall: Die wichtigste Waldkircher Fasnet­figur, der Bajass, wurde erst 1933 eingeführt.

Zu diesem Zeitpunkt flohen viele aus Deutschland. Manche von ihnen gelangten in den italienischen Ort Positano. Auch Positano ist heute eine langsame Stadt, eine città slow, die sich auf ihre Traditionen beruft. Ein Aspekt der Vergangenheit wird dabei aber gerne ausgeklammert: »Positano war letzte Station für Emigranten«, das schrieb die erst aus Deutschland und dann aus Österreich vertriebene Schriftstellerin Elisabeth Castonier in ihren Memoiren. Und: »Sehen Sie aufs Meer«, hatte ihr eine Freundin während ihres Aufenthaltes geraten, »zählen Sie die Delphine – es ist unser letzter Friedenssommer. Denken Sie nicht an den Kerl.«
Der »Kerl« war Adolf Hitler, vor dem sich eine beträchtliche Anzahl deutscher Intellektueller nach Positano geflüchtet hatte. Unter anderem die Schriftstellerin Joe Lederer, der Schriftsteller Armin T. Wegner und seine jüdische Frau Lola Lan­dau, die jedoch rechtzeitig nach Palästina ging. Zu Recht, denn, wie Castonier weiter berichtet: »Bei mir erschien eines Tages dieser Mann mit einem Polizeihund, donnerte gebieterisch an mei­ne sonnenmorsche Haustür und erklärte, er wollte ›Ordnung halber‹ eine Liste der Auslandsdeutschen aufsetzen.« Castonier verfügte wegen einer Ehe über einen dänischen Pass. Aber: »Andere Emigranten, denen er ihre Pässe ›zur Einsicht‹ abforderte und die bereits ein J auf der ersten Seite eingestempelt hatten, reisten in panischer Flucht ziellos ab.«
In Waldkirch feierte man derweil den Karneval, bis der Zweite Weltkrieg dem Städtchen den Spaß verdarb. Doch noch heute endet die Fasnet, indem man am Dienstag vor Aschermittwoch eine »Hexe« aus Stroh verbrennt. Nicht nur das stößt mancher Nichtwaldkircherin und auch dem einen oder anderen Mann als wenig geschmackvoll auf. Schließlich wurden tatsächlich in dieser Gegend noch 1 760 Männer und Frauen als »Hexen« verbrannt.
Doch wer über diese Menschen etwas erfahren oder an andere Opfer erinnert werden möchte, beispielsweise an diejenigen, die sich dem Nationalsozialismus entgegengestemmt haben, muss in Waldkirch lange warten. Von offizieller Stelle hört er derweil was von Drehorgeln, für die der Ort berühmt ist. Die Gräber der Drehorgelhersteller auf dem alten Friedhof wurden gar mit bio­grafischen Texttafeln versehen.
Es blieb dem Arbeitskreis Widerstand und Arbeitergeschichte überlassen, beispielsweise an Carla Cuntz zu erinnern, eine Waldkircher Kommunistin, die sich 1927 für die Kinderheime der Roten Hilfe engagierte und dabei mit solch illus­tren Leuten wie Max Brod, Martin Buber, Albert Einstein, Anette Kolb, den Brüdern Heinrich und Thomas Mann sowie Heinrich Zille in Kontakt kam.
Bisweilen nimmt sich auch mal ein Regional-schriftsteller eines vergessenen Menschen an, an den zu erinnern würdig ist. So hat der Autor Manfred Abosch an den ersten Ehemann der Carla Cuntz erinnert: Der Waldkircher Rechtsanwalt Erwin Willi Sebald Cuntz gründete im Jahr 1910 den Waldkircher Schachclub, was dieser auf seiner Homepage auch lobend erwähnt, war darüber hinaus aber auch Kriegsdienstverweigerer (und wurde als solcher psychiatrisiert), Freidenker, Armenanwalt und Vizepräsident der Ido-Weltsprachenbewegung, einer Weiterentwicklung des Esperanto. Der Mann mit den anarchistischen Tendenzen starb 1977, im Alter von 99 Jahren, in Freiburg.
Die Cuntzes sind Stiefkinder des Städtchens, an die von offizieller Seite nicht erinnert wird. Stiefkinder eines sehr katholischen Städtchens übrigens. Wer hier Bürgermeister werden will, muss – wie Meinrad Bumiller, der 2007 versucht hat, den seit mehr als 20 Jahren regierenden Richard Leibinger vom Thron zu stoßen – bereits auf der Home­page darauf verweisen, dass er römisch-katholisch ist. Privatsache eigentlich, während über das lange ansässige St. Michael, das ehemalige Heim für so genannte schwererziehbare Mädchen, das einige Schwestern vom Orden zum Guten Hirten bis weit in die siebziger Jahre hinein führten, nichts zu erfahren ist.

Die città slow Waldkirch ist eine Stadt für ältere Mitbürger, die ihre Ruhe haben wollen. Für das selbstverwaltete Jugendzentrum, das sich Jugend­liche in den siebziger Jahren erkämpft hatten, war nach der Jahrtausendwende im Stadtkern von Waldkirch kein Platz mehr. Es musste in einen Vor­ort umziehen, damit die Jugendlichen nie­man­den stören. Und: Waldkirch ist eine geschlos­sene Stadt. Fremde mag man, wenn sie Geld haben und den Tourismus ankurbeln. Auf das in der alten Feuerwache untergebrachte Asylbewerberheim wurde im Januar 1992 jedoch ein Brandanschlag verübt, der einen jungen Mann mit schwe­ren Verbrennungen und 19 Leichtverletzte zurückließ.
Tradition und Heimat! So viel zu den Werten der langsamen Stadt Waldkirch, die, aus der Distanz betrachtet, nicht nur »muffig und reaktionär klingen«, sondern es vielleicht auch sind.