Selbstausbeutung heißt jetzt Ehrenamt

Im Namen der Ehre

Wie die Bundesregierung mittels »zivilem Engagement« die Selbstausbeutung organi­siert.

Das Wort »Ehrenamt« hat einen archaischen Klang. Es scheint an eine Zeit zu gemahnen, in der es Ehrensache eines jeden verantwortungsvollen Bürgers war, sich nicht nur um seine Geschäfte, sondern auch um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern. Idiótes, nämlich Privat­menschen, wurden in der antiken Polis Personen genannt, die nur Interesse für sich selbst, nicht aber für die Belange des städtischen Gemeinwesens aufbrachten.
Neben der bürgerlichen Öffentlichkeit war ein weiteres Feld ehrenamtlicher Tätigkeit der christliche Dienst am Nächsten, aus dem sich im 18. Jahr­hundert die frühen Formen moderner Wohlfahrt und Sozialarbeit herausbildeten. Auch heutzutage noch werden ehrenamtliche Arbeiten vor allem in der Sphäre von Wohlfahrt, Sozialarbeit, Medizin und Recht geleistet – auf Gebieten also, die nicht allein dem Primat von Nützlichkeit und Effizienz ausgesetzt zu sein scheinen. Die Befreiung vom Zwang der Effizienz gehört wesentlich zur Ideologie des Ehrenamts: Während im Alltag der ökonomische Überlebensdruck regiere, so wird suggeriert, herrschten hier die selbstlose Pflicht und das gute Herz.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – ein passenderer Name wäre »Ministerium für Demographie« – spricht seit einiger Zeit häufiger vom Ehrenamt, nennt es jedoch meist in angemessen militärischem Jargon »zivile Arbeit« oder »Zivilengagement«. Den Anfang für die Aufwertung des Ehrenamts machte im Sommer vergangenen Jahres die von der Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf den Weg gebrachte Initiative »Miteinander – Füreinander«, in deren Rahmen das »freiwillige soziale und ökologische Jahr« zeitlich flexibler gestaltet, vor allem aber als »intergenerationelles Dienst­angebot« nicht nur für Jugendliche, sondern für Menschen aller Altersgruppen geöffnet wurde.
Darüber hinaus fördert die Initiative das »zivilgesellschaftliche Engagement« der Unternehmen und »Engagementformen« von Migranten zwecks kultureller »Selbstintegration«. Der Kampf gegen »Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus« wird ausdrücklich als ein weiteres Ziel der Initiative benannt. Außerdem soll zu ehrenamtlichen Arbeiten in der Kinderbetreuung und Altenpflege sowie zur Einrichtung von »Mehrgenerationenhäusern«, also von intergenerationellen Betreuungseinrichtungen, in denen Oma sich mit Kevin über Youtube unterhalten kann, angeregt werden. Anfang 2008 wurde ein »entwicklungspolitischer Freiwilligendienst« eingerichtet, der es Jugendlichen ermöglichen soll, als Entwicklungshelfer im Ausland zu arbeiten.
Den Menschenschlag, den solch breitenwirksam organisiertes Gutmenschentum an die Oberfläche der Medienwelt spült, kennt man nur zu gut: Es sind die stets frisch gebadeten Zwangsoptimisten mit frech gegeltem Haar und verbindlichem Händedruck, die jederzeit bereit sind, sich im Namen der Ehre, und nicht etwa der Firma, auf die Jagd nach vermeintlichen Parasiten zu begeben, die dem Gemeinwohl schaden, indem sie an sich selber denken. Menschen dieses Schlages betätigen sich schon seit langem in den Nonprofit- und Nichtregierungsorganisationen, die sich nicht nur während der ethnischen Parzellierung der ehemaligen Balkanstaaten Verdienste erworben haben, sondern fast immer dort anzutreffen sind, wo einstmals spontane, auf gegenseitiger Hilfe und Solidarität fußende Tätigkeiten einzelner Individuen zu »Netzwerken«, mithin zur organisierten Cliquenwirtschaft transformiert werden.

Das European Volunteer Centre (CEV), das die Interessen europäischer Nichtregierungsorganisationen bündelt, ist daher nicht zufällig eine der wichtigsten Agenturen für die Aufwertung ehrenamtlichen Engagements. Seine Schwerpunkte in der Förderung liegen auf ähnlichen Feldern wie bei der Bundesregierung: Sozialarbeit und Wohlfahrt, Arbeit mit Migranten und »interkultureller Dialog«, Dienstleistungen zur »Abfederung« des »demographischen Wandels« im Pflegesektor sowie Entwicklungshilfe als »peace building« in Krisenregionen.
Der militärische Unterton, der dieses ganze Projekt durchzieht, ist kein Zufall. Tatsächlich geht es bei dem neuen Hype von Ehrenamt und Zivilarbeit um die durchgreifende Mobilisierung der Individuen als Staatsagenten, als unmittelbare und organische Glieder des Volkskörpers, die ihrer Bestimmung nicht etwa vermittelt über Arbeitsverträge, also im Rahmen eines ökonomisch und juristisch kodifizierten Verhältnisses nachgehen, sondern »freiwillig« und »basisdemokratisch«, wenngleich keinesfalls anarchisch: »The best initiatives start bottom-up – but need a framework in which to emerge«, fasst das CEV seine Prinzipien zusammen. Die Ersetzung von »top-down«- durch »bottom-up«-Effekte, also von zwar unangenehmen, aber doch halbwegs transparenten Hierarchien durch eine diffuse, von Denunziation und Bespitzelung zusammengehaltene »Mitbestimmung«, ist überhaupt ein wichtiges Moment der neuen Betriebsführungsstrategie. Bei deren Implementierung bilden die Zivilarbeiter und Ehrenamtlichen die Avantgarde, die sich jedoch längst auch in hohem Maß vor allem in den so genannten freien Berufen als omnipräsente Duzkultur durchgesetzt hat. In dieser gibt es kaum noch Kollegen, sondern nur noch Freunde, deren Arbeitszusammenhang sich nicht durch gemeinsame, sachliche Interessen, sondern durch die blinde Identifikation mit der eigenen Clique konstituiert.
Insofern schimmert auch im Fall des Ehrenamts hinter den erodierenden Institutionen wieder das Racket durch, jene ebenso regellose wie autoritäre Cliquenformation, die Max Horkheimer am Beispiel der Ärzte- und Gelehrtenschaft als verleugnetes Konstituens der bürgerlichen Gesellschaft ausgemacht hat, das hinter der Fassade von Rechts­staatlichkeit und Ordnungspolitik fortlebe: Wie die bürgerliche Gesellschaft den Raub und die Gewalt, auf der sie beruht, nie aus sich selbst heraus aufzuheben vermochte, ver­ewigen sich auch in ihren sachlichen Arbeitszusammenhängen die Formen unmittelbaren Zwangs, die sie durch ihre Institutionen abzuschaffen versprach.

Während das alte bürgerliche Ehrenamt, bei dem man an soignierte Richter und kulturbeflissene Fabrikanten denkt, zumindest idealiter auf der Annahme beruhte, Menschen mit viel Geld, Geist und Zeit könnten es sich leisten, jenseits ihrer Erwerbstätigkeit auch noch Gutes zu tun, ist das, was heutzutage als »Zivilengagement« firmiert, zusammengeschrumpft auf den Ausdruck von Zeit-, Geld- und Geistlosigkeit. Nicht weil sie es sich leisten können, sondern gerade weil sie sich nichts anderes mehr leisten können und weil sie um ihre objektive Nutzlosigkeit wissen, organisieren sich die Menschen in »Netzwerken«, »Selbsthilfegruppen« oder »Open-Content-Projekten«, die via Internet auf der Basis unentgeltlicher Heimarbeit Informations- und Diskussionsangebote zu den entlegensten Themen bereitstellen.
»Wer unterstützt, wird unterstützt«, läßt Ursula von der Leyens Ministerium verlautbaren. Welchen Unrat auch immer ich produziere, ich muss irgendwo andocken und dabeibleiben, übersetzen sich dies die Heimarbeiter mit Laptop-Anschluss, die aussehen wie jedermann und zu denen jeder zu werden droht. In den besseren Tagen des Bürgertums aber gehörte zum bürgerlichen Programm gerade die Abschaffung der »Ehre«, die als Relikt feudaler Anmaßung für sich duellierende Offiziere reserviert blieb. Stattdessen berief man sich auf die »Würde«, die bekanntlich ohne Ansehen der Person jedem Einzelnen zukommt und die, im Vergleich zur »Ehre«, heutzutage wie ein überholtes Wort klingt.