Die Biografie des einzigen bekennenden schwulen deutschen Fußballspielers

Immer noch Kicker

Über den einzigen bekennend schwulen deutschen Fußballspieler, Marcus Urban, ist eine Biografie erschienen.

Marcus Urban ist der bisher einzige Ex-Leistungsfußballer im deutschsprachigen Raum, der sich als Homosexueller geoutet hat. Dass viele Leute auch heute noch glauben, es gäbe keine schwulen Kicker, versteht er: »Mit der Vorstellung wird man groß, das war bei mir ja nicht anders.«
Wenn man Urban an seinem heutigen Arbeitsplatz besucht, sticht zunächst ein Kleid ins Auge. Das ist gewissermaßen von ihm. Er arbeitet in Hamburg-Alsterdorf in einem Atelier für behinderte Künstler. Sie erschaffen Gemälde, deren Motive Urban, der als Designer und Marketing­assistent angestellt ist, für Alltagsgegenstände verwendet.
Das Atelier, in dem 20 Künstler mit unterschiedlichen Handicaps arbeiten, gehört zu einem weitläufigen Gebäudekomplex, in dem auch andere Betriebe für Behinderte angesiedelt sind. Das ist nicht das Arbeitsumfeld, das man bei einem ehemaligen Leistungsfußballer erwartet. Aber das gesamte Leben des studierten Ingenieurs Marcus Urban verlief kaum in konventionellen Bahnen. Und so ist genug Stoff für eine Biografie zusammengekommen, die der Berliner Buchautor Ronny Blaschke unter dem Titel »Der Versteckspieler« aufgeschrieben hat.
Die Vorgeschichte dieser Biografie passt zum bisherigen Auf und Ab im Leben des einstigen Mittelfeldtalents: Der ursprünglich vorgesehene Autor traf sich 15 Mal mit Urban, war für ihn und seinen Verlag aber plötzlich nicht mehr zu erreichen. Zwar gilt der Mann nicht als verschollen – seine Artikel finden sich regelmäßig in der Tagespresse –, aber Urban weiß bis heute nicht, warum der Journalist die Biografie plötzlich nicht mehr schreiben wollte.
Urbans Leben war jahrelang der Fußball. Er hatte eine problematische Kindheit, doch Details deutet er nur an: »Es sind relativ harte Sachen dabei gewesen, die ich nicht allen Lesern des Buchs zumuten wollte.« Mit 13 kam Urban auf die Kinder- und Jugendsportschule (KJS) Erfurt, und das war eine Erleichterung, weil er fortan nicht mehr zu Hause wohnen musste – gleichzeitig verstärkte das Internat seine Hoffnung, als Fußballer groß herauszukommen. Als er bald darauf entdeckte, dass er Männer liebt, traten aber ganz andere Probleme auf. »Ich hatte damals eine Schere im Kopf: Ich bin Fußballer, also kann ich nicht homosexuell sein. In der DDR war ja, anders als in der vielleicht etwas weniger rückständigen Bundesrepublik, nicht einmal ein Doppelleben möglich. Ich war allein, ich habe das plattgemacht in mir selber, um durchzukommen und zu überleben.« Später hat er da­rüber nachgedacht, ob es im Osten schwule Szenen gab: »Die müsste es gegeben haben, aber ich hatte ja gar keine Zeit, dem nachzugehen – aus Angst. Ich wollte unbedingt auf der Sportschule bleiben, darauf war mein ganzes Ego aufgebaut. Ein sportliches Selbstbewusstsein kann gut und gern das persönliche ersetzen. Das sind zwar zwei verschiedene Paar Schuhe, aber das weiß man als Jugendlicher noch nicht.«
1990 machte er Abitur mit einem Notenschnitt von 1,5, und ein Nachwuchstrainer prophezeite ihm in der Presse eine Profikarriere, doch daran glaubte Urban zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr: »Es schien ihm unmöglich zu sein, eine Karriereleiter emporzuklettern und zugleich ein heikles Versteckspiel zu führen.«. Es ging »langsam und schleichend abwärts« Statt in der zweiten Liga zu kicken, studierte Urban Stadt- und Regionalplanung an der Bauhaus-Universität Weimar.
Sein Schlüsselerlebnis hatte er 1994, als er von der Fußballmannschaft des Hamburger schwul-lesbischen Sportvereins Startschuss erfuhr. Dass es auch andere Schwule gibt, die Fußball spielen, war für ihn eine fundamentale Erkenntnis.
Seit 14 Jahren spielt er mittlerweile für das Startschuss-Team, das lediglich Freundschaftsspiele und Turniere absolviert. Natürlich stünde ihm die Möglichkeit offen, Amateurfußball in einem ganz gewöhnlichen Verein zu spielen, aber das empfindet er als absurd angesichts der Perspektiven, die er einst hatte: »Immerhin habe ich auf dem Rasen mal die Marseillaise gehört.« Das war bei einem Spiel mit der DDR-Jugend­nationalmannschaft gegen Frankreich, und er war »unheimlich stolz« in diesem Moment. Jahrelang konnte er nicht einmal als Zuschauer ins Stadion gehen: »Ich empfand es als unwürdig, auf den Rängen zu sitzen, weil ich mich eher auf dem Platz gesehen habe.« Das hat sich erst vor knapp vier Jahren geändert.
Marcus Urban hat, außer bei Startschuss, keine anderen schwulen Fußballer kennen gelernt, ist sich aber sicher, dass es im Leistungssport generell überproportional viele Homosexuelle gibt – und diese Einschätzung beruht nicht zuletzt auf eigenen Erfahrungen. Das leuchtet ein: Der Körperkult kommt Homosexuellen entgegen, der Sport eignet sich, um sich das Selbstbewusstsein zu holen, das einem möglicherweise fehlt. Der homosexuelle Athlet kann mit Härte gegen sich selbst und andere seine wahren Gefühle überdecken und hat, rein unter Leistungsgesichtspunkten betrachtet, einen Vorteil gegenüber Heterosexuellen, weil er mehr Zeit für den Sport aufbringen kann als einer, der eine klassische Beziehung mit dem Spitzensport zu vereinbaren versucht. »Der Leistungssport ist auch gerade deshalb ein prima Versteck, weil die meisten Menschen glauben, es gebe dort keine Homosexuellen«, sagt Urban.
Immer mal wieder wird die Frage gestellt, ob die Zeit mittlerweile »reif« sei für das Outing eines schwulen Fußball-Profis. »Unbedingt«, sagen immerhin 60 Prozent von rund 420 Teilnehmern einer Online-Umfrage der Organisation »Queer Football Fanclubs«. Derart konkrete Ratschläge zu geben, ist Urbans Sache nicht. Er plädiert dafür, jeweils landesweit eine Ombudsstelle für den gesamten Spitzensport einzurichten – damit es jemanden gibt, dem sich homosexuelle Sportler anvertrauen können, die nicht wissen, wie sie mit ihrer Situation umgehen sollen.
Das wäre eine Weiterentwicklung des Vorschlags von DFB-Präsident Theo Zwanziger, der homosexuellen Fußballern angeboten hat, sich bei ihm zu melden. Zwar hat die European Gay And Lesbian Sports Federation kürzlich Zwanziger wegen seines Engagements gegen Homophobie ausgezeichnet, aber Sanktionen für homophobes Verhalten sind in den DFB-Richtlinien bisher nicht vorgesehen. Entsprechende Passagen fehlen auch in den Antidiskriminierungssparagraphen der Uefa und der Fifa sowie in nahezu sämtlichen Vereinssatzungen und Stadion­ordnungen. In Deutschland gibt es drei Ausnahmen: Werder Bremen, MSV Duisburg und FC St. Pauli.
Urbans Biograph Blaschke macht aber zugleich deutlich, dass der Eindruck falsch sei, der Fußball sei verglichen mit anderen gesellschaftlichen Bereichen ein archaisches, besonders rückständiges Milieu. Die Bekenntnisse diverser Prominenter aus dem Politikbetrieb und der Medienbranche seien kein Indiz dafür, dass es dort sonderlich liberal zugehe: Nur wenige Politiker und Fernsehschauspieler hätten sich freiwillig geoutet. Und »in der Wirtschaft« seien »kaum Topmanager« als homosexuell bekannt. Symptomatisch für die gesellschaftlichen Probleme, mit denen sich Schwule immer noch konfrontiert sehen: Ein Übungsleiter des Berliner Schwulensportclubs Vorspiel, den Blaschke für einen der zahlreichen Exkurse zum Thema Homosexuelle und Sport interviewt hat, bat darum, dass in dem Buch nicht sein richtiger Name auftaucht.
Marcus Urban ist gelassener geworden, auch gegenüber seinen ehemaligen Internatskollegen: »Zuerst war ich sauer auf sie, weil sie schwul als beleidigenden Begriff benutzt und auf Homosexuellen herumgehackt haben. Später habe ich ein anderes Gefühl dafür entwickelt. Die wussten halt selber nicht, was sie da sagen, es ging nur darum, Konkurrenten abzuwerten. Das waren keine gezielten Beleidigungen, sie hatten dieselbe Bedeutung wie ›Du Sau‹ oder Ähnliches.«
Inzwischen hat Urban auch wieder Kontakt zu anderen Spielern. Ein Bekannter von der Sportschule ist mittlerweile ein guter Freund: »Der arbeitet in Hamburg als Friseur, ist hetero und spielt keinen Fußball mehr. Ich bin schwul und spiele immer noch Fußball. So viel zu den Klischees.«

Ronny Blaschke: Versteckspieler. Die Geschichte des schwulen Fußballspielers Marcus Urban. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2008, 9,90 Euro