Eine Studie von Stefan Breuer zur völkischen Bewegung in Deutschland

Existenzialismus, made in Germania

Stefan Breuer hat eine Studie zur völkischen Bewegung von den Anfängen in der Kaiserzeit bis in die Weimarer Republik vorgelegt.

Sie sind nicht immer Christen und doch sehr oft gläubig – deutschgläubig. Die Völkischen, deren Bewe­gung mit der Reichsgründung um 1871 ihren Anfang nahm und die mit dem Zweiten Weltkrieg bedeutungslos wurde, spielen heute kaum noch eine Rolle. Die Bewegung war ein loses Konglomerat von Vereinen und Parteien, die einen ersten Höhepunkt Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten und nach dem Ersten Weltkrieg großen Zulauf hatten. So entstanden sowohl Massenorganisationen wie der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund als auch die völkischen Flügel bei Parteien wie den Deutschnationalen. Der von Mathilde Ludendorff gegründete Bund für Gotterkenntnis atmet noch heute den Geist der völkischen Bewegung. Und noch immer hält dieser von 1961 bis 1977 verbo­tene Bund, den der Verfassungsschutz einmal ein »Keimgebiet antisemitischer Gruppengesinnung« nannte, an den Schriften der umstrittenen Meisterin fest.
»Diejenigen unter uns aber, die ihr philosophisches Denken überhaupt unentwickelt ließen und sich lediglich der naturwissenschaftlichen Forschung zuwandten, sie mussten bei einem derart weitreichenden Vernunftverkennen, wie ihn der Christenglaube uns zumutet, zu ›Rationalisten‹ und schließlich zu ›Materialisten‹ (im Denken und Handeln) entarten. Vielleicht wäre diese Gefahr geringer gewesen, wenn uns wenigstens der Irrtum indischer Verfallszeit, die Lehre des Jisnu Krischna, unverfälscht aufgezwungen worden wäre, denn die Inder haben stets daran festgehalten, dass der religiöse Mythos eine symbolische Einkleidung ewiger Wahrheiten ist. Das Verhängnis aber ließ uns das Opfer der großen Völkertäuschung werden, welche die Verfasser des ›Neuen Testamentes‹ unternahmen, indem sie indische Krischna- und Buddhalegenden zu historischen Tatsachen erhoben, sie alle Jesus von Nazareth zusprachen und die gefährlichen Irrlehren indischer Verfallszeit nun, gemischt mit alttestamentarischem Glaubenshass, den Völkern predigten«, heißt es in Mathilde Ludendorffs programmatischer Schrift »Triumph des Unsterblichkeitwillens« aus dem Jahr 1922. Darin findet sich schon aller Wirrsinn, mit dem die Völkischen reüssierten, hier allerdings noch religiös verbrämt. Wir sollen begreifen: Der Rationalismus sei judäo-christlicher Natur und daher abzulehnen.
Man begeht heutzutage leicht den Fehler, anzunehmen, dass die Völkischen eine Sekte gewesen seien, die um 1900 entstand, in den zwanziger Jahren recht erfolgreich agitierte und sich ab 1933 ziemlich rasch in der NSDAP auflöste. Doch die umfangreiche Studie »Die Völkischen in Deutschland«, die der Soziologe Stefan Breuer vorgelegt hat, belehrt uns eines Besseren. Tatsächlich nämlich begriffen sich große Teile der völkischen Bewegung in den zwanziger Jahren als Konkurrenz zu den Nationalsozialisten, selbst dort, wo es zwischen den völkischen Grup­pen und den Nationalsozialisten politische Allianzen gab.
Breuer erklärt die Völkischen aus der antisemitischen Bewegung der Reichsgründerzeit. Für ihn beginnt die völkische Bewegung nicht erst mit dem Börsenkrach von 1873, sondern mit dem Aufkommen antimodernistischer Ideen. Die ersten Völkischen huldigten dabei noch ihren Vorbildern wie Richard Wagner, der 1850 schrieb: »Da wir den Grund der volkstümlichen Abneigung auch unsrer Zeit gegen jüdisches We­sen uns hier lediglich in Bezug auf die Kunst, und namentlich die Musik, erklären wollen, haben wir der Erläuterung derselben Erscheinung auf dem Felde der Religion und Politik gänzlich vorüberzugehen. In der Religion sind uns die Juden längst keine hassenswürdigen Feinde mehr – Dank allen denen, welche innerhalb der christlichen Religion selbst den Volkshass auf sich gezogen haben! In der reinen Politik sind wir mit den Juden nie in wirklichen Konflikt geraten (…) Anders verhält es sich da, wo die Politik zur Frage der Gesellschaft wird: Hier hat uns die Sonderstellung der Juden ebenso lange als Aufforderung zu menschlicher Gerechtigkeitsübung gegolten, als in uns selbst der Drang nach sozialer Befreiung zu deutlicherem Bewusstsein erwachte. Als wir für Emanzipation der Juden stritten, waren wir aber doch eigentlich mehr Kämpfer für ein abstraktes Prinzip, als für den konkreten Fall: Wie all unser Liberalismus ein nicht sehr hellsehendes Geistesspiel war, in dem wir für die Freiheit des Volkes uns ergingen ohne Kenntnis dieses Volkes, ja mit Abneigung gegen jede wirkliche Berührung mit ihm, so entsprang auch unser Eifer für die Gleichberechtigung der Juden viel mehr aus der Anregung eines allgemeinen Gedankens als aus einer realen Sympathie; denn bei allem Reden und Schreiben für Judenemanzipation fühlten wir uns bei wirklicher, tätiger Berührung mit Juden von diesen stets unwillkürlich abgestoßen.«
Dieser moderne Antisemitismus wurde zum Geburtshelfer der völkischen Bewegung – im »Juden« sah diese verkörpert, was sie am Liberalismus und an der Moderne hasste. Daher wandten sich das Bauerntum sowie provinzielle Denker und Angehörige einer städtischen Mittelschicht, die allesamt Verlierer der nach der Reichsgründung mit aller Vehemenz einsetzenden so genannten Gründerjahre waren, gegen »das Judentum«, und dies umso mehr, als man sich durch die nachfolgende Wirtschaftskrise in seiner Existenz bedroht fühlte. Es entstand ei­ne Gegenbewegung, die rassistisch und antisemitisch war, die die Nation zugunsten einer Idee vom »Volk« überwinden wollte und die vor dem Ersten Weltkrieg beinahe schon bedeutungs­los geworden war. Die völkischen Parteien und Vereine spielten kaum mehr eine Rolle. Der, wie es Breuer nennt, »völkische Existenzialismus« war gescheitert, die Gruppen zerstreuten sich. »Für die Ausdifferenzierung und Stabilisierung eines Milieus, das ist am Vorabend des Ersten Weltkrieges unübersehbar, besitzt die völkische Bewegung nicht genügend Substanz. Die Annah­me ist nicht unbegründet, dass sie ohne den Weltkrieg in der Marginalität verschwunden wäre.«
Doch in der Weimarer Republik kann sich die Bewegung neu formieren, Organisationen wie der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund wer­den zu einer »Massenorganisation«, die 1923 teilweise verbotene Deutschvölkische Freiheitspartei konnte bei Wahlen große Erfolge verbuchen. Prominente Mitglieder der DVFP waren Erich Ludendorff, Ernst Röhm oder der völkische Schriftsteller Artur Dinter. Man weiß nun ein durchaus festes Milieu hinter sich. Bis Ende der zwanziger Jahre aber geht die Bewegung wie­der in Flügelkämpfen unter, ab 1933 arrangieren sich viele Völkische mit der NSDAP, deren »Füh­­rer« die Völkischen übrigens als »Methusaleme« verspottete. Andere ziehen sich in ob­skure Gemeinschaften zurück, die teilweise vom NS-Regime verboten werden.
Breuer geht es in seinem Buch nicht darum, eine möglichst homogene Bewegung zu beschrei­ben, im Gegenteil, er macht auf die Spannungen innerhalb des völkischen Spektrums auf­merk­­sam. So gab es oft vehemente Streitigkeiten über die Frage, ob man die Errungenschaften der Moderne oder lieber die allzu wirren Ideen der Lebensreformer ablehnen solle. Es gab zudem unterschiedliche religiöse Ausprägungen, und selbst in Fragen der Frauenrolle war man sich uneins, waren es doch einige prominente völkische Frauen, die eine nationale Emanzipation forderten.
Zugleich zeigt Breuer, dass die Völkischen mit gewissen Erscheinungen der Moderne untrennbar verbunden sind, so dass eine dichotomische Sicht auf Moderne und Völkische vollends in die Irre führen würde. Vielmehr bietet das Buch auch Anlass dazu zu sehen, wie einige Gedanken der Völkischen sich in kaum abgewandelter Form in marginalisierten linken Grup­pen wiederfinden lassen. Und leider mehr als nur die Ludendorffsche Idee von den »überstaat­lichen Mächten«, die die politischen Geschicke »wirklich« lenkten.