Eine letzte Geschichte aus dem Jahr 1968

Frau kein Flittchen, Mann kein Gammler

Alles, was Sie schon immer über den Hotschimin-Tanz, maoistische Sittenstrenge, die objektive Notwendigkeit des revolutionären Frühaufstehens, den mühevollen antiimperialistischen Kampf vor den Werkstoren und das Austauschverhältnis wissen wollten. Eine letzte Geschichte aus dem Jahr 1968.

Das Teach-in sollte am Abend um acht beginnen. Als ich den Eingang zum Henry-Ford-Bau an der Garystraße erreichte, waren dort bereits mehrere Mannschaftswagen der Polizei postiert. Aus dem Gebäude drang wüster Lärm von Lautsprecheransagen, Musik und Sprechchören.
Im Foyer drängte sich eine unüberschaubare Menge, die meisten sicherlich Kommilitonen. Viele von ihnen saßen auf dem Boden, offenbar aus Protest. Die Stimmung wirkte aufgeheizt.
Einer der Organisatoren lief aufgeregt hin und her und redete mithilfe eines Megaphons heftig auf die Versammlung ein. Aus seinem falsch eingestellten Gerät kreischte und klirrte es. Wütende und witzige Zwischenrufe schallten ihm entgegen. Im Hintergrund formierte sich ein Sprechchor, der im Nu anschwoll und alle im Raum in Bewegung versetzte: »Ho-ho-hotschimin, ho-ho-hotschimin!« (Hatten wir eigentlich eine Ahnung, wer Ho Chi Minh, der greise kommunistische Staats- und Parteichef Nordvietnams, war?) Die Stehenden langten einander über die Schultern wie beim Sirtaki und tanzten, indem sie die Parole skandierten, trampelnd auf der Stelle.
Inzwischen hatte ich erfahren, dass die allgemeine Aufregung von einer erst kurz zuvor mitgeteilten Entscheidung des Rektors herrührte. Mit der fadenscheinigen Begründung, dass das Debattieren weltpolitischer Konflikte nicht zu den satzungsmäßigen Aufgaben der studentischen Selbstverwaltung gehöre, verweigerte er dem AStA als Veranstalter das Audimax. Daraufhin wollten einige Aktivisten die Türen des Saals aufbrechen, andere das Rektorat besetzen; die Mehrheit tendierte dazu, durch das Sit-in im Foyer das Erscheinen der Universitätsleitung zu erzwingen.
Der Hotschimin-Tanz hatte offenbar entspannend gewirkt. Der Mann am Megaphon konnte seine Bemühungen um Abwiegelung einstellen. In einer Ecke des Vorraums war es inzwischen gelungen, einen Tisch mit Mikrofonen einzurich­ten, an dem nun die ursprünglich vorgesehenen Podiumsteilnehmer Platz nahmen. Neben SDS, SHB und dem Aktionskomitee zur Befreiung Vietnams (AKBV) war auch die FNL vertreten, das für seinen bewaffneten Widerstand gegen die Amerikaner bekannte mächtigste Oppositionsbündnis des Landes.
Bevor der Diskussionsleiter endlich die Veranstaltung eröffnen konnte, schnappte ihm ein hinter ihm stehender Kommilitone, den ich noch nie gesehen hatte, einfach das Mikrofon weg. Mit seinem dichten schwarzen Haarschopf, einer über die Stirn fallenden Mähne und seinem markanten Gesicht sah er verwegen aus; obwohl eher schmächtig, wirkte er durch seine drahtige Haltung fast gedrungen.
»Genossen!« redete der dunkle Bursche uns raunend an. »Wieder einmal haben die Herrschenden vergeblich versucht, uns an der Ausübung unserer elementaren demokratischen Rechte zu hindern.« (Starker Beifall.) Viele schie­nen den Mann zu kennen und zu respektieren. »Wieder einmal«, fuhr er fort, »hat der Rektor dieser Universität erfolglos versucht, sich zum Lakaien des amerikanischen Stadtkomman­dan­ten zu machen.« (Riesiger Applaus.) Niemand versuchte, dem Mann das Mikrofon zu entreißen. »Der verbrecherische Angriffskrieg der USA gegen die demokratische Republik Vietnam wird scheitern, wenn alle revolutionären Kräfte dieses Landes sich solidarisch vereinigen gegen die Herrschenden.« (Tosende Zustimmung.) Der Redner schüttelte sich zum wiederholten Mal die Haarsträhne aus der Stirn und reckte die Faust. »Nieder mit dem Imperialismus! Hoch die FNL!« (Fortgesetzte Nieder- und Hochrufe.) Der Hotschimin-Tanz von zuvor kehrte als chorische Massenbewegung wieder.
Mit seinem kurzen Auftritt hatte der Mann am Mikrofon die Menge fast im Handumdrehen in einen eigenartig wirbelnden Swing versetzt. Ich musste an Martin Luther King und seinen Gospelton denken, an Mick Jaggers viriles Voodoo, ein bisschen auch an Alexander Moissis Tre­molo beim Hamletmonolog. Jedenfalls gelang es dem Redner vor jeder politischen Botschaft, aus unserer letztlich amorphen Masse durch den suggestiven Singsang seiner Worte binnen weniger Sätze eine Gemeinde zu erschaffen. Dabei ließ er, gegen jede Regel der Rhetorik, die Wortendungen auffällig schleifen wie einer, der nur mühsam Hochdeutsch spricht, und intonierte zudem die solchermaßen breitgetretenen Silben meist noch nasal. Aber was man hörte, als Ganzes, war eben keine kühl objektivierende Analyse – es war politische Aufklärung aus Leidenschaft, Engagement als Rhapsodie, Agitation als Blues.
»Das ist Rudi«, hörte ich es ehrfürchtig hinter mir flüstern. Zum ersten Mal war mir Rudi Dutsch­ke begegnet. Und ich vermochte mich seinem Charisma ebenso wenig zu entziehen wie die meisten.
Die Vertreter der Hochschulgruppen am Tisch hatten ihn wohlweislich ausreden lassen. Niemand wollte sich vor einem Heer von Sympathi­santen einer kleinen Eigenmächtigkeit wegen mit ihm anlegen. Zudem konnten sie sicher sein, dass keiner den Boden besser vorbereitete für ihre Referierung nüchterner Fakten und bitterer Informationen als er. Ich glaube, in seinem Mund verwandelte jeder Satz sich in eine Aufforderung zum Handeln.

Sachkundig, detailliert und unpathetisch informierten die Redner in der folgenden Stunde über einzelne Aspekte des verheerenden Angriffs: systematische Bombardierung ziviler Ziele, Folgen des Einsatzes von Napalm, Verquickung von Außenpolitik und Mi­litärindustrie der USA, Taktiken der Guerilla der FNL. (Dass nur Männer am Tisch saßen, um über einen Krieg zu sprechen, fiel damals niemandem auf.)
Danach wurde mitgeteilt, dass Magnifizenz das Haus fluchtartig verlassen hätte. Nach minutenlangem Pfeifkonzert war es erneut Rudi, der einen flammenden Appell an die Versammlung richtete, das Audimax am folgenden Morgen durch vereinzeltes Einströmen zu besetzen und das Erscheinen des Rektors dadurch zu erzwingen. Die per Handzeichen ohne Gegenstim­me verabschiedete Entscheidung wurde erneut von einem Hotschimin-Tanz gekrönt. Alexis Sor­bas war unter uns. (Dieser Sprechchor sollte unsere Demonstrationen die kommenden Jahre über begleiten.)
Eigentlich schien die Veranstaltung damit zu ihrem Ende gekommen. Ein Vertreter des AKBV aber wollte uns unbedingt noch über die straffe Organisierung des vietnamesischen Widerstands belehren. Zu rhythmischen Fausthieben in die Luft beschwor er den »heldenhaften Kampf der Volksmassen« unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas. Als sein kruder Maoismus die Unruhe im Publikum rasch in Zwischenrufe umschlagen ließ, brach der Diskussionsleiter »die sicherlich interessanten Ausführungen des Genossen« geistesgegenwärtig mit der Mahnung ab, in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit nun auch endlich praktische Solidarität mit dem vietnamesischen Volk zu üben.
Auf sein Stichwort hin schwärmten drei, vier Kommilitoninnen in die Menge aus, indem sie mit den Sammelbüchsen klapperten. Und plötz­lich stand die Agitatorin, die ich im »Aschin­ger« kennen gelernt hatte, nur wenige Schritte von mir entfernt.
Noch auf dem Weg zum Teach-in hatte ich natürlich leise gehofft, sie hier zu treffen. Nach dem Abgang aus dem Lokal hatten wir nur wenige Worte wechseln können. Über den eindrucksvollen Beiträgen der ersten Redner war der Gedanke an sie dann gänzlich verflogen.
Inzwischen hatte sie sich umgezogen und trug zu den Jeans einen langen gehäkelten Pullover, der an ihrer schmalen Figur wie ein Kettenhemd herabfiel. Ihr Kopf mit dem gekräuselten blonden Haar wuchs aus dem Rollkragen heraus wie der eines Ritters. Jeanne d’Arc, fuhr es mir durchs Hirn – und unter einem coup de foudre verwandelte sich meine, wie ich geglaubt hatte, wohldosierte Sympathie augenblicklich in erotische Faszination.
»Oho«, sagte sie forsch, als sie mich erblickte. »Mein edler Retter.« Sie lächelte mich an. »Prima, dass du gekommen bist.« Erst jetzt bemerk­te ich ihre hübschen Lippen, die, schmal und beweglich, ein fast frivoles Eigenleben zu führen schienen.
»Prima, dass du mich informiert hast«, gab ich zurück. »Wirklich gut, die Veranstaltung.« Sie neigte den Kopf galant, als ich eine Mark für die FNL in die Büchse warf.
»Zwei Erbsensuppen«, griente sie, »für eine antiimperialistische Kugel.«
»Immerhin«, sagte ich schnell, »war ›Aschinger‹ gut dafür, dass wir beide uns getroffen haben.« Meine Brücke stand. »Wollen wir uns nicht wiedersehen?«
»Warum nicht«, antwortete sie. »Ruf mich einfach an: 3902 353.« Ich kritzelte die Nummer auf das Veranstaltungsprogramm. »Du musst mich holen lassen. Nikola. Ist’n Etagenapparat.« Sie zog Kopf und Augenbrauen flüchtig zu mir hoch, wie ich es bereits an ihr mochte – schon schwenkte sie die rappelnde Sammelbüchse zu den nächsten.
Rudi hatte abschließend das Wort ergriffen. Ich glaube, er sprach über die Verstrickung der Bundesrepublik in den Aggressionskrieg. Aber selbst von seiner suggestiven Beschwörung erreichten nur noch Signalwörter wie »revisionistische Kräfte« oder »Nato-Kumpanei« mein Ohr. Nicht einmal die ohnmächtige Wut, die ich nach den Vorträgen wieder einmal deprimierend empfunden hatte, vermochte mich im Augenblick niederzudrücken.
Johanna von Orléans drängte sich engelsgleich durch die Menge wie durch ihr Soldatenheer. Und ich konnte meine Augen nicht von ihr lassen. »Nikola«, murmelte ich den neu empfangenen Namen wie benebelt. »Nikola.«

Fünf Tage hintereinander stand ich mit Nikola morgens von halb Sechs an vor den Werkstoren von Schering in der Müllerstraße, um die Flugblätter des AKBV zu verteilen. Der Pharmakonzern war, wie man unserer Information entnehmen konnte, über Kapitalbeteiligungen eng mit jenem US-amerikanischen Unternehmen verflochten, das die in Vietnam eingesetzten chemischen Waffen produzierte. Mit den Beschäftigten des Betriebs im Wedding wurde die gesamte Arbeiterklasse der Bundesrepublik zur aktiven Teilnahme am antiimperialistischen Kampf aufgerufen.
Bei meinem Anruf, wenige Tage zuvor, hatten wir uns in der TU-Mensa verabredet. Wir redeten über dies und das. Nikola gab sich nett, aber merkwürdig unnahbar. Dabei wirkte sie auf mich, gerade in ihrem nonchalanten Auftreten – ein Dutzend-T-Shirt zu lässigen Jeans – wie eine erotische Annonce. Ihr Hemd legte zierliche Schlüsselbeine bloß, die feingliedrig wie Basreliefs aussahen, filigran, faszinierend. Während ich aus meiner Begeisterung für die Dramen der zwanziger Jahre keinen Hehl machte, sprachen wir nur flüchtig über ihr Architekturstudium; offenbar vernachlässigte sie es zugunsten der politischen Arbeit ohne größeres Bedauern. Von sich selbst erzählte sie nichts. Falls wir überhaupt flirteten, dann höchst versteckt.
Erst draußen auf der Hardenbergstraße kam Nikola auf das Aktionskomitee zu sprechen. »Das ist nichts für fremde Ohren«, sagte sie verschwörerisch. Als hätte man einen Hebel umgelegt an E.T.A. Hoffmanns Automatenpuppe Olym­pia, verfiel sie bei der Darstellung der Ziele ihrer Gruppe schlagartig in einen Ton und Jargon, der mich bereits an jenem AKBV-Vertreter beim Teach-in einigermaßen abgestoßen hatte.
Der eigenartige Widerspruch zwischen dem blonden Krauskopf mit den sensiblen Gesichtszügen und der groben, unpersönlichen Funktionärssprache verwirrte und, ich glaube, faszinierte mich. Partei zu nehmen für die Arbeiterklasse, dachte ich vage, heißt eben auch, von den eigenen subjektiven Bedürfnissen und Gefühlen absehen zu können. Und diese zierliche, energische Person zeigte mir durch unsentimentale Entschiedenheit den Ausweg aus meinem kleinbürgerlichen Schwanken.
»Wenn du die Bereitschaft zur Mitarbeit bei uns hast«, sagte sie schließlich, als wäre das noch mein völlig freier Entschluss. »Wir könnten mit der Einleitung der erforderlichen Maßnahmen sofort beginnen.« Flüchtig assoziierte ich, wie ich es in der Germanistik gelernt hatte, Nominalstil = zuständlich-starres Denken; dazu ein autoritäres »Wir«, in welchem das Ich verschwindet. Ich verdrängte den intuitiven Vorbehalt und nickte meiner blonden Agentin erst einmal zögernd zu.
»Dem Aufnahmeverfahren«, fuhr Nikola in ihrer Ansprache fort, »gehen einige Tage Bewährung in der Außenagitation voraus.« Wieder klan­gen die künstlichen Wörter wie aus einer hermetisch-fremden Welt, vielleicht der eines Ordens. Und auf einmal war mir sonnenklar, an wen sie mich die ganze Zeit erinnerte: die Kommissarin aus der Optimistischen Tragödie, deren Agitation für die Bolschewiki uns der Profes­sor so anschaulich rezitiert hatte! Derselbe technokratische Tonfall, exakt die gleiche militärische Disziplin eines im Kollektiv aufgehobenen Individuums – und die beiden eigene sug­gestive Sicherheit im Hinblick auf Weg und Ziel. Das Gefühl, ich befände mich mit dieser Frau auf der Bühne eines alten Theaterstücks, in einem schwerelosen Traum, sollte mich von nun an nicht mehr verlassen.
»Außenagitation«, wiederholte ich mechanisch, und: »Bewährung«, als buchstabierte ich Silben einer fremden Sprache. Ich musste mich einigermaßen anstrengen, um ihr nicht auf diese erotischen Schlüsselbeine zu starren. Aber Nikola schien nichts von meiner Verstörung zu bemerken. Sie händigte mir ein neues Flugblatt aus und erklärte mir die Modalitäten seiner Verbreitung.
»Falls du anrufst«, mahnte sie mich noch einmal zu Diskretion, »keine Erwähnung unserer Aktivitäten am Telefon!« Dann verabschiedeten wir uns, ohne einander zu berühren. (Händeschütteln galt schon als bürgerlich, die erhobene Faust noch als unverdient; Küsschen rechts, Küsschen links wurde erst lange später vom Mit­tel­meer importiert.)
Ich sah ihr nach, während sie mit kraftvollen Schritten den Steinplatz überquerte. Wie die Kommissarin, dachte ich erneut, nachdem sie dem zögernden Anführer der Anarchisten die Leviten gelesen hat. »Warte, Genossin«, memorierte ich seine Antwort, »irgendwann kriege ich dich. Dann lernst du meine geheimsten Wün­sche kennen.« Mein Blick, noch nicht gänzlich vom richtigen Klassenstandpunkt justiert, fiel auf Nikolas kleinen Hintern in den Jeans. Aber natürlich machte mein revolutionäres Bewusst­sein mir streng klar, dass es sich dabei nur um letzte Reste verdinglichter bourgeoiser Wahrneh­mung handelte.

Morgengrauen ist, wie man sich unschwer vorstellen kann, nicht die Sternstunde für das Bemühen, einen Berliner Malocher durch Argumentieren in einen antiimperialistischen Befreiungskämpfer zu verwandeln. Auch gab es für die Werbung um Solidarität mit dem berüchtigten Vietkong sicherlich günstigere Orte als den Eingang zu einer florierenden Weltfirma, die wenige hundert Meter von der Mau­er entfernt lag. Vom Nieselregen, der vier Vor­mittage lang ungeachtet unserer höheren Ziele gnadenlos auf uns niederging, ganz zu schweigen.
Von halb Sechs an quollen die Beschäftigten aus Bussen und U-Bahn-Schächten: verkatert, grau, gerade mal die Betäubung von zwei, drei Zigaretten im Hirn, einen Muckefuck im Magen und den bleiernen Achtstundentag im Kopf. Sie hatten wirklich andere Sorgen als zerstörte Deiche und entlaubte Wälder am anderen Ende der Welt. Bestenfalls sahen sie, wenn sie auf das Werkstor zuschlurften, durch uns hindurch. Und selbst der Pförtner, der uns anfangs noch zu verscheuchen gesucht hatte, lächelte uns jetzt manchmal mitleidig zu.
Nur selten nahm einer aus der in den Betrieb strömenden Menge mir das angebotene Flugblatt aus der Hand – meist nur, um es wenige Schritte später achtlos zerknüllt wieder wegzuschmeißen. Häufiger wurde einem das Papier verächtlich aus den Fingern geschlagen, ein paar Mal stopfte es mir jemand einfach aggressiv ins Revers. Die dazu gezischelten oder genölten Beschimpfungen umfassten die normale Alltagsskala von Arschloch bis Zonenknecht. Man musste schon das Zeug zum Märtyrer haben, wenigstens zum Masochisten, um in diesen endlosen zweieinhalb Stunden nicht in Schwer­mut zu verfallen. Oder eben verliebt sein in Nikola.
So wie sie sich als Proletarierin verkleidet hatte, war das durchaus nicht selbstverständlich. Unter einer geschlechtslos grauen Windjacke fiel ihr bis weit über die Knie ein Rock, der an eine Kittelschürze erinnerte. Dazu trug sie braune Halb­schuhe wie aus der Requisite für Hauptmanns »Die Weber«. Ein spießiges Hütchen verbarg ihr blondes Krusselhaar. Es war, als gälte es, den Arbeitern noch den letzten Genuss weib­licher Reize zu vergällen, bevor sie für acht Stunden hinterm Werksgitter weggeschlossen würden. (Erst lange Zeit später zitierte Nikola mir die Parole – »Frau kein Flittchen, Mann kein Gammler« –, die die im AKBV für die textile Taktik bei der Außenagitation ausgegeben wurde.)
Auch das Verteilen der Flugblätter selbst war taktisch genau kalkuliert. Alles folgte denselben verkaufspsychologischen Überlegungen wie in einer Drückerkolonne oder bei den Adventisten auf Mission.
Ich lernte, »Bonn finanziert Kindermord« zu rufen statt »Bombenterror in Hanoi«. Lernte, dass Leute sich persönlicher angesprochen fühl­ten, wenn ich ihnen mit zwei, drei Blättern in der Hand entgegentrat statt mit einem Papierstapel auf dem Arm. Ich übte, wie man den Ankommenden nicht frontal entgegenlief, sich vielmehr in ihren Schritt eindrehte, um sie ein paar Meter zu geleiten. Oder wie man an Auf­machung, Gang, Gesicht und dergleichen blitzschnell die Chancen eines Annäherungsversuchs abzuschätzen vermochte. Und meine Brille mit dem dicken, dunklen Horngestell, Distanz schaffendes Merkmal des Intellektuellen, blieb für die Dauer der Agitation im Etui verstaut.
Alles brachte Nikola mir bei. Das unterdrückte Befremden, das ihre Funktionärszüge bei mir auslösten, wich bald inniger Bewunderung ihrer schöpferischen Radikalität. Wenn ich wieder einmal an der Arbeiterklasse in Scheringgestalt zu verzweifeln drohte, suchte ich ihre verkleidete Figur in der Menge und hielt mich an den wenigen blonden Spiralen fest, die ihr Kapotthut nicht unter Kontrolle gebracht hatte. Ich beobachtete sie, wie sie auf jemanden einsprach, einfach und eindringlich, wie immer wieder Arbeiter stehen blieben, sich auf sie einließen, nickten, den Kopf wiegten, sich gar verabschiedeten. Wie sie attackiert wurde, rüde verhöhnt, ein weggeworfenes Blatt schlicht wieder auflas, den Nächsten ansprach und sich kaum den Regen aus dem Gesicht wischte, so glühend war sie bei der Sache.
Eigentlich aber blieb vor Schering für Zweifel keine Zeit. Erst danach, wenn ich müde in der U-Bahn lehnte, um zur FU zu fahren, meldete sich leise, bald unüberhörbar, eine Stimme in meinem Inneren: Was treibst du da, was tust du? Du bist keiner von ihnen. Was weißt du von ihrem Leben und Denken, von ihrer Arbeit? Welches Recht hast du, sie zu belehren? Du glaubst doch deine eigenen Sprüche nicht. Fang erst einmal an bei dir selbst!
Wenn ich dann, nach zweieinhalb Stunden Außenagitation, bei Professor Catholy saß, im Audimax, kamen mir die Kommilitonen mit ihren unbeschriebenen Abiturientengesichtern vor wie lauter verwöhnte Nutznießer jener Maloche oben bei Schering. Und mochte der Ordinarius an seinem Katheder die sozialen Widersprüche der Weimarer Republik noch so lebhaft in den Dramen von Brecht oder Horvath spiegeln – mir fielen simpel die Augen zu. Vom Stand­punkt der Arbeiterklasse aus bejahte ich die objektive Notwendigkeit meines revolutionären Frühaufstehens entschieden. Mein erschöpftes bürgerliches Individuum sehnte das Ende der Woche herbei.

Freitag, mein letzter Bewährungstag, begann gut. Tags zuvor hatte die Bundeswehr durch spektakuläre Abstürze gleich zwei Starfighter auf einmal eingebüßt, jeder achtzig Millionen Mark teuer, und unsere Schlag­zeile »Bonn plündert Arbeiter aus für Rüstung« wurde von den Malochern ziemlich wohlwollend aufgenommen. Zum ersten Mal seit ich außen agitierte, regnete es nicht mehr. Zudem war der Stimmung der Beschäftigten die Aussicht auf Lohntüte und Wochenende deutlich anzumerken.
Auch Nikola schien von der guten Laune angesteckt. »Du bist heute wirklich perfekt, Genosse«, sagte sie, als sie mir einen neuen Stapel Flugblätter brachte. »Muss an meiner Kommissarin liegen«, gab ich das Kompliment zurück. Natürlich hatte ich ihr begeistert von dem russischen Stück erzählt und von der ihr ähnelnden Figur darin. Sie stutzte einen Augenblick. Dann, schon zum Gehen gewandt, fragte sie: »Und Katharina Knie? Wieso hast du mich Katharina Knie genannt, bei ›Aschinger‹?« »Es war spontan«, antwortete ich wahrheitsgemäß, »also müssten wir Freud fragen. Ansonsten ist es eine Zirkusartistin in einem Stück von Zuckmayer.« Einen Augenblick lang sah Nikola mich nachdenklich an, schon war sie wieder bei der Arbeit.
Am Ende der zwei fast munter verstrichenen Stunden verstaute sie das übriggebliebene Material in ihrer Stofftasche, warf mir einen komplizenhaften Blick zu und ballte triumphierend die zierliche Faust. »Gute Arbeit, Dirk«, sagte sie, indem sie mich zum ersten Mal so direkt beim Vornamen nannte. »Dafür werden wir uns heute belohnen.«
Sie schlug vor, zu ihr zu fahren. Und obwohl sie die Woche über letztlich kühl geblieben war – an diesem Morgen lag für mich etwas in der Luft. Im Rhythmus der U-Bahn steigerten sich meine Gedanken an eine Belohnung in ihrem Bett zügig zum Wahn. Und als wir am Bahn­hof Zoo umsteigen mussten, hatte meine Phantasie mich längst so weit, dass ich ein dringendes Pinkelbedürfnis vorschützte, um am Automaten auf der Toilette eine Doppelpackung »Fromms« zu ziehen. (Weder war die Pille schon durchgesetzt seinerzeit, noch lief unsereins ständig mit Gummis ausgerüstet herum. Und selbstverständlich gab es solchen Schmuddelkram in keinem Laden offiziell zu kaufen, ge­schwei­ge denn hätte ihn jemand dort offen verlangt.)
Nikola wohnte, was ich bis dahin noch nicht wusste, im Studentenheim Siegmunds Hof, am S-Bahnhof Tiergarten. In ihrer spartanisch eingerichteten Bude standen zwei drei Architekturmodelle, ineinander verkeilt, achtlos in der Ecke. Ein riesiges Plakat mit einem Porträt von Mao in jesusähnlicher Lichtgestalt beherrschte den kleinen Raum. Nach dem kurzen Einblick in diese ihre Intimsphäre bat mich die blondgekräuselte Anhängerin des Großen Vorsitzenden, in der Gemeinschaftsküche zu warten, bis sie sich umgezogen hätte. Damit war der private Teil des Ausflugs zu ihr offenbar abgeschlossen.

Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform.«
Den ersten Satz von Marx’ »Kapital« mussten wir in unsere Kladden schreiben und auswendig lernen. Von da aus ging es weiter zur Unterschei­dung von Gebrauchswert und Tauschwert, zum Begreifen von Ware als Produkt der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Jeder kapierte, dass in der einzelnen Ware jene beiden Werte natürlich bloße Abstraktionen darstellen, also nicht als solche getrennt auftreten. »Naturalform und Wertform konstituieren die Doppelform einer Ware, in welcher der Gebrauchswert zur Erscheinungsform des Tauschwerts wird.«
Die Kapitalschulung, zweites Stadium der Vorbereitung auf eine Aufnahme ins AKBV, tagte zweimal wöchentlich am Abend in einer WG in Kreuzberg. Fünf Studenten, darunter eine ein­zige Frau, saßen wir im Berliner Zimmer um einen langen Tisch. Jeder hatte den voluminösen Band 23 der Marx-Engels-Gesamtausgabe vor sich liegen, die Kritik der politischen Ökonomie, kurz »Das Kapital« genannt.
Die meisten Kommilitonen an der Humboldt-Universität lernten die Klassiker des Sozialismus nur in den von der Partei kontrollierten Aus­zügen kennen. Kaum einer von ihnen dachte daran, solch eine Zwangslektüre auch noch frei­willig fortzusetzen. Dementsprechend konnte man diese Werke überall in der so genannten Hauptstadt für ein paar läppische Ostmark erstehen. Schon bald galten die blauen Bände aus dem Dietz-Verlag in den linken Wohn­ge­mein­schaften als Statussymbol, das man als Gast vor den Bücherregalen mit einem Blick erfasste. (Ein paar Jahre später musste man sie dann schon in den Fächern oben unter der Decke suchen oder in der zweiten Reihe, sofern sie nicht bereits im Antiquariat gelandet waren.)
Alles Private blieb im Kurs strikt ausgeklammert. Obwohl ich wusste, dass Nikola in der Wohnung verkehrte, sah ich sie dort nie und wag­te auch nicht, nach ihr zu fragen. Undenkbar, dass man zu einer solchen Arbeit wie der unseren Bier oder gar Wein getrunken hätte! Und so sehr uns die Sitzordnung unserer patriarcha­lischen Familien noch in den Knochen saß – der Schulungsleiter thronte natürlich am Kopf des Tisches. Zu meinem Leidwesen handelte es sich zudem exakt um jenen Funktionär, den Genossen Gernot, dem gegenüber ich bereits beim Teach-in in der FU einen herzlichen Wider­willen empfunden hatte. Seine Vermittlung der Kapitalanalyse war zu meinem Erstaunen intellektuell zwar brillant, erzeugte auch rasche Lernerfolge bei allen. In seinen Ausführungen aber blieb er vollkommen unsinnlich, leidenschaftslos wie ein juristischer Sachbearbeiter.
Dabei war es eigentlich schwer, hinter die vitale Darstellung von Marx zurückzufallen, der seine abstrakte Materie stets konkret an der Pro­duktion von Weizen, Leinwand, Eisen, Kaffee und Tee veranschaulichte. (Und wo er vom Kauf eines Rocks sprach oder vom Verkauf von Branntwein, setzte ich insgeheim Kaschmirpulli und Parfum ein und war heiter gestimmt.) Letzt­lich aber wirkte das Begreifen der Zellform des Kapitals derart eruptiv, dass man bereits nach wenigen Wochen meinte, den ganzen Schein der bürgerlichen Gesellschaft durchschaut zu haben, Verdinglichung des Bewusstseins und Entfremdung der Individuen inklusive.
Auch untereinander redeten wir bald so selbst­verständlich vom Fetischcharakter der Ware, von ursprünglicher Akkumulation, Zirkulations­sphäre und Revenue, als sprächen wir über Kino oder Fußball. Jeder Außenstehende musste uns für eine florierende Wahngruppe halten. Die einzige Kommilitonin, eine vollbusige Schwäbin mit munterem Bauerngesicht, schoss dabei den Vogel ab. Wenn sie mit ihrem schweren Akzent das Wort »Ousdouschvohältnis« artikulierte oder »Waarenfom«, gar »abschdrakte Arbeid« – dann konnte man sich Marx’ Begriffe nur noch als bestickte Sofakissen in ihrem Eltern­haus in Bad Cannstatt vorstellen.
Nach ungefähr sechs Wochen hatten wir die Erklärung des Mehrwerts hinter uns gebracht und schickten uns an, zum zweiten Hauptstück der Marxschen Theorie fortzuschreiten: der Ver­wandlung von Geld (G) mittels Ware (W) in Kapital (G'). Hatte mich schon seit einigen Sitzungen das Gefühl beschlichen, dass mein Herz vielleicht doch heftiger für Dichtung schlug als für politische Ökonomie, so wurde mir angesichts der zügig zunehmenden volkswirtschaftlichen Formeln immer unbehaglicher. Und meine der parteilichen Ziele halber unterdrückte Abneigung gegen den, wie ich ihn nannte, Funktionärsschnösel wurde unabweisbar. Die Lösung dieser miteinander verhakten Probleme trat von einer völlig unerwarteten Seite ein.
Eines Abends, nachdem unser Treffen beendet und ich bereits auf dem Weg nach Hause war, stellte ich fest, dass ich meinen blauen Band samt Notizbuch in der WG liegengelassen hatte, und kehrte um, das Vergessene zu holen. Ich war nur noch wenige Meter von dem Haus entfernt, als plötzlich ein Paar aus dem Flur trat, die beiden waren so eng umschlungen, dass sie mich vermutlich selbst unter der Laterne nicht bemerkt hätten: der Funktionärsschnösel und meine Betreuerin bei der Außenagitation, meine Kommissarin, die Seiltänzerin – Nikola. Es war ein Schock.
Als Mann denkt man in solchen Situationen meistens: mit einem anderen meinetwegen – aber doch nicht mit dem! Und genau das dachte ich auch. Dabei ist es natürlich ganz egal. Für einen Verliebten ist jeder andere der Falsche. Einfach deswegen, weil man selbst der einzig Richtige ist.
Es war das abrupte Ende meiner politökonomischen Schulung, mit immerhin nicht geringem Ertrag. Auch wenn nun in meiner Kladde für immer als letzte Eintragung »G-W-G'« stand – wie ein Menetekel für jemanden, der nie beim wirklichen Geheimnis des Kapitals ankommen würde. Und selbst wenn die Frau, die ich anfangs mindestens genauso begehrte wie das Durch­schauen der Gesellschaft, mir bei eben diesem Versuch vorerst abhanden gekommen war.
In den germanistischen Seminaren, in die ich mich nun endlich wieder mehr als durch bloße physische Anwesenheit (wie man damals sagte) »einbrachte«, herrschte inzwischen ein Ton, als wären alle Kommilitonen gleichzeitig zu Kapitalkursen beurlaubt gewesen. Noch die kleinste Erzählung wurde auf die Widerspiegelung der Pro­duktionsverhältnisse hin abgeklopft, die Stellung des Textproduzenten im Klassenkampf geprüft. Romane konnten Warencharakter annehmen und Wörter Gebrauchs- oder Tauschwert. Dazu erklang als basso ostinato im Chor, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Und zumindest davon konnte ich jetzt ja ein Lied singen.

Gekürzter und redaktionell bearbeiteter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Jürgen ­Hofmann: Those were the days my friend. Erzählungen über ’68 in Berlin. Books on Demand, Hamburg 2008. 228 Seiten, 13,50 Euro. Das Buch ist soeben erschienen. Die Auslieferung an den Buchhandel erfolgt über ­Amazon, Libri u.a.

Zum Autor:
Jürgen Hofmann, geb. 1941 in Würzburg. Studium der Germanistik u.a., ab 1961, in Berlin, Freiburg, Mün­chen und Wien. Promotion und Habilitation (Freie Universität Berlin). Er leitet den Studien­gang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste (UdK) Berlin.