Die Harvard-Universität und die Finanzkrise

Im Kreml am Charles River

Die Harvard-Universität in Massachusetts ist nicht nur die beste Hochschule der USA, sondern auch die reichste der Welt. Die Finanzkrise macht sich derzeit aber auch in der Kaderschmiede der US-Elite bemerkbar.

Ehrfürchtig sa mmelt sich die chinesische Touristengruppe um die Statue von John Harvard, um ein Gruppenfoto zu machen. Jeden Tag tummeln sich auf dem Campus überwiegend asiatische Gruppen, die etwas vom Flair der reichsten Privat­universität der Welt und ältesten Hochschule der USA spüren möchten. Zahlreiche US-Präsiden­ten wie F.D. Roosevelt, J.F. Kennedy und Barack Obama studierten hier. Harvard ist im Großraum Boston eine wichtige Touristenattraktion. Manche Chinesen verirren sich auf der Suche nach der berühmten Law School auf dem Campus mit den vielen roten Backsteinhäusern. Enttäuscht müssen sie feststellen, dass die Law School weder eine Statue noch ein schickes Schild für ein Gruppenfoto bietet. Die Eliteuniversität Harvard hat es wie Coca-Cola geschafft, zu einem weltwei­ten Markennamen zu werden.
Die Universität ist ein kapitalistischer Großkonzern und Global Player. Trotzdem genießt Harvard mit dem Status als Non-Profit-Organisation einige Steuervorteile. In den Shops um den Campus können sich die Touristen mit Souvenirs wie Harvard-Tassen oder -Hosen versorgen. Für die stolze Studentenmutter gibt es auch den roten Kapuzenpulli mit der Aufschrift »Harvard Mom«.

Wer erwartet, dass Harvard-Studenten mit dem BMW vorfahren und mit Schlips und Krawatte in den Unterricht gehen, wird enttäuscht. Der Leiter der »Studien zum Kalten Krieg«, Professor Mark Kramer, hat sich sogar in den Vertrag schrei­ben lassen, dass er bei Veranstaltungen einen Trainingsanzug tragen darf. Der Dresscode der Studierenden ist betont locker. Bei den Erzrivalen der Yale University haben Harvard-Studenten trotzdem den Ruf, langweilige Streber zu sein. Emsig eilen Studenten in Kapuzenpullis von einer edlen Designer-Bibliothek zur anderen. Auf den ersten Blick ist der Reichtum nicht zu erkennen. Harvard-Studenten sind die Auserwählten unter den Auserwählten. Bis in die siebziger Jahre waren die wichtigen Elite-Universitäten der USA, Harvard, Yale und Princeton, Bildungsstätten für reiche, weiße und überwiegend protestantische Söhne der Oberschicht. Der Weg zur Elite-Universität führte fast ausschließlich über die teuren prep schools. Das sind private Schulen, die auf das College vorbereiten und bis 40 000 Dol­lar Schulgebühren im Jahr verlangen. Heutzutage sind hin­gegen Inder, Russen, Afro-Amerikaner, Latinos und vor allem asiatische Amerikaner auf dem Cam­pus zu sehen. Das Verhältnis von Männern und Frauen ist bei 20 000 Studenten mit 50 zu 50 ausgeglichen.
Die Studenten sind sich durchaus ihrer Privilegien bewusst. In einem großen Hörsaal diskutiert die Vereinigung der Bachelor-Studenten über die Vor- und Nachteile von Elite-Universitäten. Auf dem Podium des bis zum letzten Platz gefüllten Saals sitzt der Autor William Deresiewicz, der versucht, die Zuhörer zu überzeugen, kritische Intellektuelle zu werden, anstatt zu McKinsey oder ins Bankengeschäft zu gehen und einfach nur reich zu werden. Er berichtet von einem einschneidenden Erlebnis, das er im Alter von 35 Jah­ren hatte. »Als ich neben einem Klempner in der Küche meiner schicken Eigentumswohnung stand, habe ich plötzlich bemerkt, dass ich unfähig war, mit einfachen Leuten zu reden«, erzählt er. Elite-Erziehung habe ihn vom Rest der Bevölkerung isoliert. Neben ihm sitzt auf dem Podium eine junge, stark geschminkte BA-Studentin asiatischer Herkunft. Mit dem Begriff des kritischen Intellektuellen kann sie nichts anfangen. »Ich habe mich mit zehn Jahren entschieden, dass ich nach Harvard gehen möchte, und hart an meiner Persönlichkeit gearbeitet. Dafür habe ich so viel geopfert.« Jetzt wolle sie die Chance nutzen, von Harvard zu einer »Führungspersönlichkeit« ausgebildet zu werden. »Als Frau und Asiatin hätte ich vor 20 Jahren keine Chance gehabt. Ich will jetzt das Studium nutzen, um möglichst viel soziales Kapital zu akkumulieren. Das bin ich auch meinen Eltern schuldig.«
Während der Publikumsdiskussion geht es heiß her. Erst meldet sich ein junger Student zu Wort, der darüber klagt, sich als Kind einer armen, allein erziehenden Mutter in Harvard oft ausgeschlossen zu fühlen. Als William marxistisch argumentiert, Bildung reproduziere die Klassenstrukturen der Gesellschaft, brüllt eine aufgebrachte Stu­dentin aus der letzten Reihe: »Du schreibst hier nicht das neue Kommunistische Manifest!« Viele der jungen Studenten glauben fest daran, dass sie nach dem Abschluss führende Positionen in Politik und Wirtschaft der USA übernehmen werden. Einen Abschluss bekommt fast jeder, der es nach Harvard geschafft hat. Ältere Studenten machen sich hingegen wegen der Finanzkrise doch einige Sorgen.

Der Weg nach Harvard führt über ein ausgeklügeltes Auswahlverfahren. Die Universität hat dafür eine eigene Bürokratie. Neben dem landesweit standardisierten SAT (Scholastic Aptitude Test) und Bewerbungsessays wird den Bewerbern auch die Teilnahme an Auswahlgesprächen abverlangt, in denen auch Motivation, Charakterstärke, soziales Engagement und die Entwick­lungs­per­spektiven der Bewerber evaluiert werden sollen. Ginge es nur nach den Schulnoten und Ergebnissen des SAT, wäre der Anteil der asia­tischen Amerikaner unter den Studenten viel höher. Anstatt rund 20 Prozent würden sie wahr­scheinlich fast den doppelten Anteil der Studierenden ausmachen. Afro-Amerikaner sind hingegen durch affirmative action (positive Diskriminierung) gemessen an der Anzahl der Bewerber überdurchschnittlich vertreten. In seinem nationalen Bestseller »Der Preis der Aufnahme: Wie sich die regierende Klasse Amerikas den Weg in die Elite-Universitäten erkauft und wer vor den Toren bleibt« hat der Journalist Daniel Golden vom Wall Street Journal gezeigt, dass Kinder von Profes­soren der Universität oder von Mitgliedern des mächtigen Absolventenverbandes und Sportler, trotz schlechterer Noten, überrepräsentiert sind.
Mit dem Argument der »Traditionspflege« haben Kinder von Harvard-Absolventen bessere Chan­cen, insbesondere wenn die Eltern groß­zügi­ge Spender sind. Hat Papi für Harvard eine neue Bibliothek gebaut, wird vielleicht auch der Sohn nach seinem Abschluss zum Spender. Bekommt der Sohn dann eine wichtige Position in Politik oder Wirtschaft, kann sich die Universität wiederum mit ihren erfolgreichen Absolventen schmü­cken. Die Universität ist übrigens nicht nach ihrem Gründer benannt, sondern nach dem Geistlichen John Harvard (1607 bis 1638), der der Hochschule die Hälfte seines Grundbesitzes vermachte. Auch heute gibt es in Harvard kaum eine schicke Leseecke in einer Bibliothek, die nicht nach ihrem Spender benannt ist.
Ein BA-Studienjahr in Harvard kostet satte 32 500 Dollar plus rund 15 000 Dollar für Unterbringung und Verpflegung. Wegen der Finanzkrise hat die Rektorin Drew Faust eine »moderate« Erhöhung der Gebühren angekündigt. Zwei Drittel der Studenten bekommen nach Angaben der Universität Beihilfen oder Stipendien. Seit 2004 können Studenten, die aufgenommen werden, kostenlos studieren, wenn die Familie ein Jahreseinkommen unter 60 000 Dollar hat. Für Doktorandenprogramme gibt es in der Regel ein­kom­mens­unabhängige Stipendien für erfolgreiche Bewerber. Obwohl es der Anspruch der Universität ist, talentierte Kinder aus allen sozialen Schichten zu rekrutieren, sind Kinder aus der Arbeiterklasse deutlich unterrepräsentiert. Jerome Karabel zufolge, der in seinem Bestseller »The Chosen« (Die Auserwählten) die Auswahlpolitik in den Universitäten Princeton, Harvard und Yale in den vergangenen 100 Jahren nachgezeichnet hat, ist der Anteil von Kindern aus der Arbeiterklasse in diesen drei Universitäten heute nicht grö­ßer als in den fünfziger Jahren.
Interessanterweise spielte nach dem Ersten Weltkrieg Antisemitismus für die Vorgeschichte des heutigen Auswahlsystems eine Rolle. 1905 führte Harvard ein Aufnahmeexamen als einziges Kriterium ein. Da jüdische Studenten besonders gut abschnitten, stieg ihr Anteil unter den Studierenden auf über 20 Prozent. Dadurch sah sich Harvard in ihrer Identität bedroht. Zusätzliche Auswahlgespräche, ­Essays und Empfehlungsschreiben wurden dann eingeführt, damit der Judenanteil senken und die Universität ihren »protestan­tischen Charakter« wahren konnte. Die Zulassungsbeschränkungen für Frauen wurden allerdings erst 1975 aufgehoben.
Die US-vietnamesische Professorin Hue-Tam Ho Tai berichtet, dass es für Frauen noch Mitte der siebziger Jahre verboten gewesen sei, während der Zeremonie zur Verleihung der akademischen Titel vor der Statue von John Harvard zu stehen.
Im Unterricht von Professorin Ho Tai wird mir allerdings klar, dass das Etikett Elite-Universität nicht nur Marketing ist. Ihre Vorlesung zur »Modernen Geschichte Vietnams« übertrifft alles, was ich in meinem Studium an der Ruhr-Universität Bochum gehört habe. Frau Ho Tai ist Expertin für Bauernbewegungen und eine der führenden Professorinnen für vietnamesische Ge­schichte in den USA. Ihr Vater war Trotzkist und saß zusammen mit den KP-Führern während der französischen Kolonialherrschaft in Vietnam im Gefängnis. Außerdem unterbrach er öfter Ho Chi Minh bei Veranstaltungen. Eine ihrer Tanten begleitete die amerikanische Schauspielerin Jane Fonda auf deren berühmter Tour nach Hanoi 1972. Wie es sich für eine Elite-Universität gehört, sitzen sechs und nicht 200 Studenten in der Vorlesung.

Harvard hat den Ruf, politisch liberal zu sein. US-Präsident Richard Nixon bezeichnete die Universität sogar als »Kreml on the Charles River«. Noch heute kann man im Harvard-Buchladen T-Shirts mit der Aufschrift »Volksrepublik Cambridge 1968« kaufen. Republikaner sind unter den Lehrenden eine Ausnahmeerscheinung. Der Bundesstaat Massachusetts ist eine demokratische Hochburg, deshalb haben beide Parteien wäh­rend des Präsidentschaftswahlkampfs weder hier noch in Cambridge Wahlwerbung gemacht. Die Verquickung von Harvard mit der US-Regierung wird unter anderem am Beispiel des ehema­ligen Rektors Larry Summers deutlich. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank war für die Clinton-Administration tätig und wurde dann 2001 zum Rektor von Harvard. Wegen seines Führungsstils und einer sexistischen Äußerung über Frauen in der Naturwissenschaft musste er 2006 den Hut nehmen. Nun geht er wieder nach Washington, er wurde zum Leiter des Nationalen Wirtschaftsrats in der Regierung Obama nomi­niert.
Das Fairbank Center for Chinese Studies organi­sierte zum Wahlsieg von Obama eine Pizza-Party. Anstatt über den neuen Präsidenten zu reden, wa­ren wegen der Finanzkrise die sinkenden Renten das Hauptthema vieler Gespräche, und die Frage, ob die Universitätsleitung nun einen Einstellungs­stopp verhängen wird.
Marxisten muss man in Harvard allerdings suchen. Eine der wenigen Ausnahmen ist der junge Professor Walter Johnson, der sich mit seinen Studien über den Sklavenhandel hochgearbeitet hat. Im Masterkurs zu »Körperpolitik und nacktes Leben« diskutieren die Studenten über Sklave­rei, Kolonialismus, Gefängnisse, Stadtplanung, Medizin oder Folter. Harvard-Studenten können reden, schreiben und argumentieren. Bescheidenheit und Zurückhaltung gelten hier nicht als Tugenden. Die Diskussionen haben ein Abstrak­tionsniveau, wie man es aus Deutschland nur von linken Theoretikern und wenigen Professoren kennt. Selbst John, der einzige republikanische Student, hat brav seinen Foucault und Fanon gelesen. Humor gehört zur Diskussionskultur in den USA. Einen peinlichen Lacherfolg erzielt John mit seiner Äußerung, »Waterboarding« sei nicht so schlimm, weil auch in seinem Hockey-Club Kinder kopf­über ins Klowasser getaucht wurden. Dabei ist von einer Foltermethode der CIA die Rede, bei der das Opfer zu ertrinken glaubt. John provoziert: Wir könnten in diesem Raum nur deshalb frei über marxistische Texte diskutieren, weil die CIA durch Folter Terroranschläge verhindern würde. Professor Johnson kontert gelassen. »Wie schön, John, dass du die ›Dialektik der Aufklärung‹ verstanden hast. Die bürgerliche Zivi­lisation beruht eben auf Barbarei.« Bei einem Lesepensum von 200 Seiten pro Woche und pro Kurs haben sich die Studenten ein enormes Wissen angeeignet. Alle sind schlagfertig und haben immer eine passende Antwort parat. Mobbing und Ellenbogeneinsatz werden nicht gerne gesehen, trotzdem kann man immer eine unterschwellige Konkurrenz spüren. Jeder möchte schlau­er sein als der andere. Das kann auf die Dauer auch anstrengend sein.
In den unzähligen selbst organisierten Vereinen sollen sich die Studenten »soziale Kompetenzen« aneignen. Die Vertretung der BA-Studenten der Geisteswissenschaften hat ein Budget, um hohe Weltbank-Funktionäre zu einer Diskussion einzuladen. Pete, ein MA-Student im Asien-Programm, erzählt, wie er bei Daimler Gelder akquiriert hat und jetzt den ehemaligen Präsidenten von Singapur zu einem Chat mit den Studierenden nach Harvard einladen kann. Es gibt aber auch kritische Studentenorganisationen. 2001 besetzten Studenten für drei Wochen das Gebäude des Rektors, um für die Universitätsangestellten im Dienstleistungsbereich einen living wage, einen Lohn, von dem man leben kann, durch­­zusetzen. Daraufhin wurde ein Zeltlager auf dem Campus errichtet, wie der Dokumen­tarfilm »Occupation« eindrucksvoll zeigt. Schließ­lich schlossen sich auch das Putzpersonal und Köche dem Protest an. Nachdem die Medien im ganzen Land über die Besetzung berichtet hatten, musste die Universitätsleistung nachgeben. Die Löhne wurden erhöht und Sozialleistungen verbessert.
Fast alle Erstsemester wohnen auf dem Campus, wo sie in den Wohnheimen bekocht werden. Viele ausländische Forscher wohnen privat bei Professoren in den Vierteln der gehobenen Mittel­schicht rund um den Campus. In meinem Familienhaus wohnt im Keller ein indischer Gastwissenschaftler, im zweiten Stock eine Dozentin der Harvard Business School. Ich wohne im dritten Stock. Der Hausherr und Professor ist über 70 Jahre alt. Seit Präsident Eisenhower hat er für fast alle US-Regierungen gearbeitet. Ein gesetz­liches Rentenalter gibt es aber in den USA nicht, und manche Professoren unterrichten weiter, bis es wirklich nicht mehr geht. Trotz der hohen Gehälter stehen auch manche reichen Harvard-Professoren unter finanziellem Druck, wenn sie zum Beispiel zwei Kinder auf teure Privatschulen schicken.
Kommendes Jahr im August läuft mein österreichisches Forschungsstipendium aus. An der Massenuniversität Wien werde ich von vielen schwie­rigen Entscheidungen befreit sein wie: Gehe ich lieber zum Vortrag der berühmten Gender-Expertin Anne Fausto-Sterling oder zu dem des indischen Nobelpreisträgers Amartya Sen? Kaviar beim Empfang des Instituts für Ukraine-Forschung oder doch lieber Shrimps beim Dinner mit den China-Experten?