Raymond Federmans Roman »Pssst!«

Schreiben über das Stillsein

Vom Versuch des Schriftstellers Raymond Federman seine jüdische Kindheit zu rekonstruieren.

Im Jahr 1971 erschien mit »Double or Nothing« das literarische Debüt Raymond Federmans, das erst 1986 als »Alles oder nichts« auf Deutsch publiziert wurde. Dieser sowohl inhaltlich wie auch typographisch experimentelle Roman beschreibt den Versuch eines Schriftstellers, ein Jahr eingesperrt in einem Zimmer zu verbringen, dort ein Buch zu schreiben und sich dabei ausschließlich von Nudeln zu ernähren. In das Buch, das über weite Strecken aus Aufstellungen der Kosten für Seife und Nudeln besteht, sind Fragmente der Geschichte eines jungen Mannes eingewoben, dessen jüdische Familie in Frankreich deportiert wurde und der als einziger Überlebender nach Amerika gelangte. Diese auto­biografische Geschichte setzt immer wieder neu an, um mit jedem neuen Versuch nur wieder ins Leere zu laufen. Eine geschlossene Geschich­te wird dem Leser auf keiner der beiden Ebenen präsentiert. Und auch die scheinbare Faktizität der Zahlen bricht zusammen: »Dann brauchen es nicht unbedingt Nudeln zu sein«, ruft der Erzähler, der sich völlig verkalkuliert hat, am Ende des Buches.
Schon hier tauchen die Charakteristika aller danach folgenden Texte Federmans auf: die Verknüpfung von Biografie und Fiktion, das Mo­tiv des Eingesperrtseins, das literarische Experiment und die Reflexion seiner Situation als Überlebender des Holocaust.
»Pssst« ist das letzte, was Federmans Mutter ihm am frühen Morgen des 16. Juli 1942 zuflüsterte, bevor sie ihn in einen Wandschrank schub­ste und so vor der Deportation bewahr­te, während die Gestapo und die französische Miliz bereits die Treppe zur Wohnung der Federmans im zweiten Stock eines Hauses im Pariser Vorort Montrouge hinaufstürmte. Am so genannten Jour de La Grande Rafle wurden in Frankreich 12 000 französischen Juden verhaftet, die meisten von ihnen wurden in den deutschen Vernichtungslagern ermordet. Raymond Federmans Mutter Marguerite, sein Vater Simon und seine Schwestern Sarah und Jacqueline wurden noch im gleichen Jahr nach ­Au­schwitz deportiert. Einzig er, der damals 14-jährige Raymond, entkam dank seines Verstecks im Schrank, in dem er bis zum folgenden Morgen ausharrte. Anschließend floh er zu Verwandten, die kurz darauf ebenfalls deportiert wurden. Auf sich allein gestellt, überlebte er die folgenden drei Jahre auf einem Bauernhof im Süden Frankreichs, bevor er nach dem Ende des Krieges nach Amerika auswanderte. Dort lebt er bis heute. Er hat über Beckett promoviert, lehrte als Professor für Literaturwissenschaft und schreibt Romane.
Wer eins seiner Bücher gelesen hat, kennt die Schrank-Episode; sie taucht in vielen Variationen in all seinen Büchern auf. So wie dieses Erlebnis der Ausgangspunkt für Federmans Leben ist – er hat dieses Datum als seinen wahren Geburtstag bezeichnet, wird also in diesem Jahr nicht nur 80, sondern auch 66 Jahre alt –, so ist die Abstellkammer der Ausgangspunkt all seiner Bücher. Auch das neueste Werk des auf Englisch und Französisch schreibenden Federman nimmt diesen Weg. »Pssst. Geschichte einer Kindheit« stellt den Versuch dar, die Erinnerung an die Zeit vor diesem Tag zurückzuerlangen, doch alle Bilder von den ersten Lebensjahren sind in jenem Schrank verschwunden. »Ich rekonstruiere mit Wörtern, was ich glaube, was meine Kindheit war. Ich erfinde sie neu. Ich tue es, ohne mich um die Chronologie zu kümmern, mit Erinnerungsfetzen, mit Bruchstücken von Geschichten, die ich schon anderswo erzählt habe.«
»Pssst« besitzt zwei Ebenen, jene, auf der Federman versucht, sein Leben vor dem so einschneidenden Erlebnis zu rekonstruieren, und jene Ebene, auf der er einen Dialog mit sich selbst führt. Es geht dabei um die Schwierigkeiten, ein solches Buch zu schreiben; gleichzeitig versucht er, die Intention seines Buches zu erklären: »Meine Pflicht, wenn ich denn eine habe, ist es, das große Loch der Abwesenheit, das meine Mutter in mir zurückgelassen hat, aufzufüllen. Ihr in dem, was ich schreibe, Präsenz zu verleihen. Und denen, die erniedrigt worden sind, ein wenig Würde zurückzugeben.« Seiner Mutter ist das Buch denn auch gewidmet, sie hat ihm das Leben gerettet und ihn mit der Frage zurückgelassen: »Warum ich? Warum nicht meine Schwester Sarah, die zwei Jahre älter war als ich und die sich besser hätte durchschlagen können?«
Mit seiner Familie sind auch die Erinnerungen an das Leben mit ihr verschwunden; »Pssst« trägt die Bruchstücke der Erinnerung an die Mutter zusammen. Lediglich Dokumente, die ­ihren Tod bezeugen, sind vorhanden; Federman zitiert die Wagennummern der Züge, mit denen seine Familie nach Auschwitz gebracht wurde. »Ihre Geschichte endete, als sie die Treppe hinuntergingen. Von diesem Moment an sind sie für mich eine Abwesenheit geworden. Sie sind aus der GESCHICHTE gestrichen worden: X-X-X-X.«
Die Shoah selber bleibt bei Federman ausgespart, dennoch bildet sie das Zentrums seines Schreibens. Er kämpft in seinem Werk immer wieder mit der Problematik, keine adäquate Repräsentation für die Leerstelle finden zu können, die die Ermordung seiner Familie zurückgelassen hat. Diese Leere zu füllen, ist aber nicht zuletzt deshalb existenziell, weil die Vernichtung und die Auslöschung der Erinnerung an die Ermordung der Juden schließlich das Ziel des Nationalsozialismus gewesen war.
Es gibt keine Struktur, auf die sich der Leser Federmans verlassen könnte, ebenso wenig wie sich Federman auf eine kontinuierliche eigene Geschichte verlassen kann. In »Pssst« schreibt der Schriftsteller über das einzige Foto seiner Schwestern, das er nach dem Krieg in einem Pappkarton in der geplünderten Wohnung seiner Kindheit gefunden hat. »Ich lag genau zwischen den beiden. Zwei Jahre jünger als Sarah und zwei Jahre älter als Jacqueline. Auch auf dem Photo bin ich zwischen meinen Schwestern. Ich betone das, weil ich mich genau so an sie erinnere. Immer auf jeder Seite von mir eine, als wollten sie mich beschützen.« Jenes Foto von 1935 jedoch ist bereits in seinem Buch »Eine Version meines Lebens« von 1990 abgedruckt, und dort ist Federman keineswegs geschützt in der Mitte seiner Schwestern zu sehen, er steht vielmehr links am Rand und lächelt in die Kamera. Selbst die auf Papier festgehaltene Erinnerung trügt. Mit solchen Mitteln lässt er die scheinbaren Gewissheiten immer wieder zusammenbrechen, schafft eine Literatur, die sich permanent selbst infragestellt und die doch in ihrem Kern die existenzielle Frage nach dem Weiterleben nach Auschwitz in sich trägt.
»Es ist doch alles drin, ihr Vollidioten«, fasst er in seinem Roman »Die Nacht zum 21. Jahrhundert« sein Schreibkonzept noch einmal zusammen, »in den Wörtern, Erzählungen und Erzähltes, Überlebende und Opfer, alle vereint in einem Entwurf, wenn ihr den Text aufmerksam lest, dann werdet ihr sehen, wie vor euch, auf der wirr gemusterten, weißen Fläche, von den schwarzen Worten Menschen gezeichnet werden, plattgedrückt und über das Papier verstreut im schwarzen Blut der Druckfarbe, darin bestand ja gerade die Herausforderung, nie über die Wirklichkeit zu sprechen, sondern sie in der Schwärze der Worte konkret zu machen.«

Raymond Federman: Pssst! Geschichte einer Kindheit. Weidle, Bonn 2008, 204 Seiten, 23 Euro